122181.fb2 Die Stadt der Verlorenen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 20

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»Ihr kommt nicht einmal in den Palast hinein«, sagte Sarn überzeugt. »Ich verstehe euch, aber es ist sinnlos, glaubt mir. Wenn Argos euch jetzt gefangen nimmt, dann war alles umsonst.«

»Das Risiko müssen wir eben eingehen«, erwiderte Mike. »Du musst uns nicht begleiten. Sag uns, wo wir Serena finden. Singh und ich gehen allein.«

»Und lasst euch allein gefangen nehmen?« Sarn starrte Singh und ihn abwechselnd finster an. »Drei meiner Männer sind gestorben, damit wir eure Freunde befreien konnten. Soll alles umsonst gewesen sein?«

»Natürlich nicht, Sarn, aber –« »Ihr geht zur NAUTILUS«, unterbrach ihn Sarn.»Ichhole eure Freundin. Wenn es jemand schafft, in den Palast einzudringen, dann ich.«

»Das kann ich nicht verlangen«, sagte Mike.

»Das tust du ja auch nicht«, versetzte Sarn. »Keine Sorge – was wir tun, ist nicht so uneigennützig, wie du meinst. Wenn wir Argos’ Fluchtpläne vereiteln, dann hat es sich gelohnt.« Er hob die Hand, als Mike erneut widersprechen wollte, und fuhr in beinahe schon befehlendem Ton fort: »Meine Leute bringen dich und deine Freunde zu eurem Schiff. Singh und ich holen die Prinzessin.«

Die Vorstellung, Singh und den ehemaligen Krieger allein loszuschicken, gefiel Mike ganz und gar nicht. Auch wenn er den Grund dafür nicht kannte, so war die Feindseligkeit zwischen den beiden doch in den letzten Tagen beständig gewachsen. »Dann nehmt wenigstens Astaroth mit«, sagte Mike. »Er würde nur auffallen«, sagte Singh. »Vergiss nicht, dass niemand hier je ein Tier wie ihn gesehen hat.«

Tier?!meldete sich Astaroth empört zu Wort.

Mike ignorierte ihn. Jetzt war nicht der Moment, mit dem Kater zu diskutieren. Er versuchte es noch ein einziges Mal: »Wenn Serena ihre Erinnerungen genauso verloren hat wie wir alle, dann braucht ihr Astaroth«, sagte er. »Er ist garantiert der Einzige, der mit ihr reden kann.«

Sarn seufzte, sagte aber nichts mehr. Doch auch Singh war von seinem Vorschlag offenbar nicht sehr begeistert. »Sarn hat nicht ganz Unrecht«, sagte er. »Astaroth würde nur auffallen.«

Wenn ich nicht gesehen werden will, dann werde ich nicht gesehen,behauptete Astaroth.Auch von diesen beiden Streithähnen nicht. Also sag doch einfach Ja und Amen und ich kümmere mich um sie.

Wahrscheinlich ist das die einfachste Lösung, dachte Mike. Er sagte nichts mehr, sondern deutete nur ein Achselzucken an und stand auf. Sarn ging noch einmal zu seinen Männern und erteilte ihnen einige halblaute Anweisungen, wobei er achselzuckend auf Mike und Singh deutete, dann verließen er und der Inder den Keller.

Mike beugte sich zu Ben, Chris und Juan hinunter und weckte sie der Reihe nach. Die drei Jungen erwachten schlagartig und sofort war die Angst in ihren Augen wieder da.

»Erschreckt nicht«, sagte Mike zu ihnen. »Aber wir müssen los.«

»Wohin bringt Ihr uns, Herr?«, fragte Ben.

Es war ein sonderbares Gefühl; fast schon unheimlich. Mike hatte plötzlich einen harten Kloß im Hals. Ausgerechnet Ben, mit dem er so oft aneinander geraten war, nannte ihn nunHerrund sah ihn aus Augen an, in denen nichts als Angst und Erschöpfung war. Mike brauchte ein paar Sekunden, bevor er überhaupt antworten konnte.

»An einen sicheren Ort«, antwortete er. »Niemand wird euch dort etwas tun. Aber ihr müsst sehr vorsichtig sein. Bis wir ihn erreichen, dürft ihr mit niemandem reden und müsst genau das tun, was ich euch sage. Habt ihr das verstanden?«

»Ja, Herr«, antwortete Ben. Juan und Chris nickten hastig und wieder verspürte Mike einen raschen, eisigen Schauer. Aber er sagte nichts mehr. Es war wohl die einfachste Lösung, im Moment alles so zu lassen, wie es war.

Sie verließen den Keller auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren. Einer von Sarns Männern, der die Führung übernommen hatte, deutete nach links und sie marschierten im Gänsemarsch los. Mike konnte ein neuerliches Schaudern nicht unterdrücken, als sie sich durch die zerstörten Straßen bewegten. Die Menschen waren noch immer dabei, sich um ihre Verwundeten zu kümmern oder Tote unter den Trümmern auszugraben, aber niemand rührte auch nur einen Finger, um die Folgen des Erdbebens zu beseitigen. Niemand hatte angefangen die Trümmer wegzuschaffen oder die baufälligen Gebäude abzureißen oder wenigstens zu sichern.

»Was ist hier los?« Mike wandte sich an den Mann, der die Führung übernommen hatte. »Wieso tut hier niemand etwas? Warum versucht niemand die Häuser instand zu setzen – oder wenigstens die Trümmer wegzuschaffen?«

»Weil es ihnen niemand befohlen hat«, sagte der Mann in erstauntem Tonfall; als hätte er etwas unwahrscheinlich Naives gefragt. »Niemand tut hier etwas, das ihm nicht ausdrücklich befohlen worden ist.« Das musste Mike erst einmal verarbeiten. Er hatte gewusst, dass Argos und die anderen absolute Herrscher über die unterirdische Stadt und ihre Bewohner waren – aber nicht, dass ihre Herrschaft so weit ging, den Lemurern selbst die selbstverständlichsten Dinge vorschreiben zu müssen.

Als sie sich dem Palast näherten – oder besser dem, was davon übrig war –, nahm die Anzahl der Krieger auf der Straße zu. Sie wurden weder aufgehalten noch angesprochen, aber die Männer beäugten jeden, der sich auf der Straße bewegte, mit misstrauischen Blicken. Schließlich wichen sie vom direkten Weg auf den Palast ab und betraten ein halb zerstörtes Gebäude, das von seinen Bewohnern offensichtlich aufgegeben worden war. Sie mussten erst mit vereinten Kräften die Trümmer beiseite räumen, ehe sie wieder in einen der Mike mittlerweile sattsam bekannten Keller hinabstiegen.

Wieder ging es für eine Weile durch unterirdische Stollen und Gänge, die zum Teil künstlich angelegt, zum Teil natürlichen Ursprungs zu sein schienen. Endlich – nach Stunden, wie es Mike vorkam – hielten sie an und ihr Führer deutete auf eine hastig zusammengezimmerte Leiter, die vor ihnen in die Höhe führte.

»Wir müssen jetzt vorsichtig sein«, sagte er, wobei er instinktiv die Stimme zu einem halblauten Flüstern gesenkt hatte. »Dort oben liegt der Hafen. Sagt nichts und tut nichts, was ich euch nicht sage.«

Er selbst war der Erste, der über die Leiter in die Höhe stieg, dicht gefolgt von Mike. Sie gelangten in einen Kellerraum, dessen Decke zum Teil eingestürzt war, sodass sie in die darüber liegende Halle blicken konnten. Stimmengewirr, die Geräusche heftigen Hantierens und Arbeitens und ein schwacher, aber vertrauter Geruch schlugen Mike entgegen, während er hinter dem Mann über die Schutthalde nach oben stieg.

Der Anblick, der sich ihm bot, verschlug ihm für einen Moment die Sprache. Sie befanden sich in einer großen, sichtlich uralten Lagerhalle, deren Decke und Wände unter einer zentimeterdicken Schicht aus verkrustetem Staub verschwunden waren. Die Lagerhalle unterschied sich in nichts von zahllosen anderen Lagerhallen, die Mike in Hunderten von Häfen überall auf der Welt gesehen hatte; nur dass sich die Halle fünftausend Meter unter dem Meeresspiegel befand und seit mindestens zehntausend Jahren nicht mehr benutzt worden war. Eine Anzahl Männer war damit beschäftigt, Kisten, Ballen, Fässer und Säcke von einem großen Stapel auf der anderen Seite zu holen und in einer langen Kette zum Ausgang zu schleppen. Die Kette setzte sich auch draußen fort und an ihrem Ende, noch einmal hundert Schritte entfernt und am Ende eines langen, gemauerten Steges, lag die NAUTILUS.

Mikes Herz begann zu klopfen, als er die vertrauten Umrisse des Tauchbootes sah. Der Turm mit den beiden riesigen, an starre Augen erinnernden Bullaugen ragte höher als normal aus dem Wasser und der gezackte, stählerne Rückenkamm und die riesige Heckflosse vervollständigten den Eindruck, es eher mit einem gewaltigen Untier als mit einem von Menschenhand geschaffenen Gebilde zu tun zu haben.

Mike spürte, wie auch seine Hände vor Aufregung zu zittern begannen. Der Mann neben ihm schien das wohl zu spüren, denn er warf ihm einen warnenden Blick zu. Mike nickte. Der Mann hatte Recht. Sie durften jetzt keinen Fehler machen. Die NAUTILUS lag scheinbar zum Greifen nahe vor ihm, aber in der Halle befanden sich nicht nur Arbeiter und Sklaven, sondern auch eine große Anzahl Wachen. Er musste sich beherrschen, um nicht im letzten Moment noch alles zunichte zu machen.

Ihr Führer deutete auf den Kistenstapel, dann auf die doppelte Reihe von Sklaven, die sich zur NAUTILUS hin-und wieder zurückbewegten, dann auf das Schiff selbst. Mike nickte wortlos. Wenn es ihnen gelang, sich unbemerkt in die Kette einzureihen, hatten sie eine gute Chance an Bord des Schiffes zu kommen.

Sie warteten einen günstigen Augenblick ab, dann huschten sie aus ihrem Versteck hervor und traten in die Reihe der Männer, die sich dem Kistenstapel mit leeren Händen näherten. Mikes Herz klopfte bis zum Hals. Es erschien ihm unglaublich, dass die Wachen nichts von diesem Manöver bemerkt haben sollten. Er glaubte ihre misstrauischen Blicke fast körperlich zu spüren. Doch selbst als er unmittelbar an einem der Krieger vorbeiging, starrte ihn dieser nur kalt an. Das Glück schien ihnen ausnahmsweise einmal hold zu sein.

Mike ergriff wahllos einen Sack, der viel schwerer aussah, als er war, warf ihn sich über die Schulter und trat in die Reihe, die sich umgekehrt der NAUTILUS näherte.

Mike fielen einige Veränderungen auf, als er das Tauchboot genauer in Augenschein nahm. Etliche Rumpfplatten schimmerten neu und hier und da entdeckte er einen Aufbau oder Mechanismus, der ihm unbekannt war. Singh hatte ihm ja erzählt, dass Argos’ Techniker gewisse Experimente mit der NAUTILUS vorgenommen hatten. Das Schiff war vor zehntausend Jahren gebaut worden, doch die Atlanter hatten offensichtlich ihre hoch entwickelte Technik ihren Nachkommen weitergegeben.

Aber Singh hatte auch noch mehr erzählt. In der ganzen Aufregung der letzten Tage hatte Mike der Bemerkung kaum Bedeutung zugemessen, aber nun erinnerte er sich jäh wieder daran, dass Singh auch gesagt hatte, Argos wäre drauf und dran die NAUTILUS mit seinen Experimenten zu zerstören. Wie hatte er das wohl gemeint?

Mike unterzog das Schiff einer zweiten, noch kritischeren Musterung, während sie langsam über den langen, gemauerten Steg gingen. Etliche der neuen Panzerplatten glänzten dort, wo sie vor Monaten selbst versucht hatten, die Schäden zu beheben, die das Schiff an seiner Havarie davongetragen hatte. Aber längst nicht nur dort. Eines der großen Bullaugen war sichtlich neu und ein fast hausgroßes Stück der Bugpanzerung schien ebenfalls ausgetauscht worden zu sein. Wenn all diese Spuren von ausgebesserten Beschädigungen stammten, so musste die NAUTILUS tatsächlich arg gebeutelt worden sein. Was um alles in der Welt hatte Argos dem Schiff angetan?

Sie erreichten das Ende des Steges und bewegten sich über eine schmale, zitternde Planke auf das Schiff hinauf. Der Zug der Sklaven betrat die NAUTILUS nicht über die Turmluke, sondern durch den Einstieg weiter hinten im Heck, was Sinn machte – dort lagen die großen Lagerräume. Mike wurde immer nervöser, und als er schließlich an der Reihe war, die metallene Wendeltreppe hinabzusteigen, konnte er sich vor Aufregung kaum noch beherrschen.

Im Inneren des Schiffes erwartete ihn die nächste Überraschung. Das Licht war wesentlich heller und angenehmer, als er es in Erinnerung hatte, und von den katastrophalen Schäden, die das eingedrungene Wasser überall angerichtet hatte, war nichts mehr zu sehen. Im Gegenteil: Alles blitzte und schimmerte, als käme das Schiff gerade von der Werft. Argos’ Ingenieure hatten wirklich ganze Arbeit geleistet.

Der Sack auf seiner Schulter begann zu verrutschen. Mike griff hastig zu und schob ihn wieder in eine sichere Position. Dabei handelte er sich einen zornigen Blick eines der Krieger ein, die auch hier überall standen und die Sklaven beaufsichtigten. Mike sah hastig zu Boden, ging an dem Mann vorbei und wagte es erst wieder aufzublicken, als er hinter der nächsten Ecke angekommen war. Er war ziemlich besorgt. In der NAUTILUS wimmelte es regelrecht von Argos’ Soldaten, Das war etwas, wovon Sarn nichts erzählt hatte. Wenn sie die NAUTILUS kapern wollten, würden sie kämpfen müssen.

Die Reihe der Sklaven näherte sich dem Laderaum und Mike sah sich verstohlen um. Rechts von ihnen befand sich eine Tür, die in eine kleinere, leer stehende Kammer führte. Zwar gab es auch vor ihnen einen weiteren Wächter, aber der Mann schien voll und ganz damit beschäftigt, den Sklaven dabei zuzusehen, wie sie ihre Waren im Inneren des Laderaums verstauten. Wenn er sich herumdrehte und zufällig in ihre Richtung sah, dann war alles verloren. Aber ein gewisses Risiko musste er nun einmal in Kauf nehmen.

Ohne den Wächter auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, näherte er sich der Tür, nahm all seinen Mut zusammen und trat hindurch. Blitzschnell ließ er seine Last fallen, fuhr herum und zerrte Ben, der unmittelbar hinter ihm in der Reihe gegangen war, zu sich herein, danach Chris und als Letzten Juan. Sarns Männer folgten ihm unaufgefordert. Und das Unglaubliche geschah: Obwohl in der Reihe der Männer, die schwer beladen den Laderaum betraten, auf diese Weise eine deutliche Lücke entstand, sah der Krieger nicht einmal hoch. Offensichtlich nahm er seine Aufsicht nicht allzu ernst, sondern döste mit offenen Augen vor sich hin.

In der kleinen Kammer wurde es fast unerträglich eng, als sich die Männer, noch dazu mit Kisten und Säcken, hineindrängten. Mike warf noch einen letzten sichernden Blick zum Laderaum hinüber, stellte fest, dass der Krieger noch immer

damit beschäftigt war, Löcher in die Luft zu starren, und schloss

lautlos die Tür.

»Die erste Etappe hätten wir geschafft«, flüsterte er erleichtert.

Ben legte den Kopf schräg und sah ihn fragend an. »Herr?«

»Vergiss endlich den Herrn«, antwortete Mike automatisch, was aber nur dazu führte, dass Ben noch verwirrter dreinsah. Plötzlich grinste Mike und fügte hinzu: »Oder nein: Eigentlich klingt das ganz gut. Ich bin dafür, dass du diese Anrede als Einziger beibehältst. Auch später, wenn wir hier heraus sind.«

Natürlich verstand Ben nicht, wovon er überhaupt sprach. Und Mikes Grinsen erlosch genauso schnell wieder, wie es gekommen war. Der Ausdruck vollkommener Verständnislosigkeit auf Bens Gesicht brachte Mike nämlich auf einen neuen, nicht besonders angenehmen Gedanken:

Was, wenn auch Trautman sein Gedächtnis verloren hatte? Mike wusste nicht, ob Singh und er ganz allein in der Lage sein würden, die NAUTILUS zu steuern – zumal Argos’ Techniker in den vergangenen Wochen ja eifrig an dem Schiff herumgebastelt und eine unbekannte Anzahl von Veränderungen daran vorgenommen hatten.

Nachdenklich sah er Sarns Vertrauensmann an, dann fragte er: »Kann ich euch eine Weile allein lassen?«

Der Mann nickte, fragte aber zugleich: »Wo willst du hin?«

Mike machte eine vage Handbewegung zur Decke hinauf. »Es ist jemand an Bord, mit dem ich reden muss. Es ist wichtig.«