122181.fb2 Die Stadt der Verlorenen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 21

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»Sie werden dich fangen«, sagte der Mann. »Argos’ Krieger sind sehr misstrauisch. Du solltest sie nicht unterschätzen. Es ist ein kleines Wunder, dass wir bis hierher gekommen sind.«

»Ich weiß«, seufzte Mike. »Aber dann bleibt mir wohl nichts

anderes übrig als auf ein weiteres Wunder zu vertrauen.«

Er bekam es und mehr als nur eines. Nachdem er einen günstigen Augenblick abgewartet hatte, schlüpfte er unbemerkt aus der Kammer und reihte sich wieder in die Schlange ein, die sich ihrer Last entledigt hatte und zurück zur Treppe ging. Mike hatte noch keine Ahnung, wie er dem Wächter dort entgehen sollte, und er vertraute einfach auf seine Intuition und Glück, aber beides erwies sich als nicht notwendig. Als er sich der Treppe näherte, begann der Boden unter seinen Füßen zu zittern, und plötzlich bäumte sich das große Schiff wie unter einem Hammerschlag auf, legte sich auf die linke Seite und dann ruckartig auf die andere. Mike wurde wie alle anderen von den Füßen gerissen, prallte unsanft gegen die Wand und hörte einen Chor gellender Schreie. Einige Männer stürzten kopfüber die Treppe hinunter, andere hatten mehr Glück und konnten sich im letzten Moment am Geländer festklammern und auch hier unten herrschte für Momente das reine Chaos. Offensichtlich wurde Lemura von einem weiteren Seebeben geschüttelt, das auch die NAUTILUS kräftig durchrüttelte. Fast jeder Mann war zu Boden geschleudert worden und der Wächter war gar nicht mehr zu sehen und unter einem Berg von übereinander gestürzten Körpern verschwunden.

Mike nutzte seine Chance sofort. Die NAUTILUS zitterte noch leicht und jedermann, der dazu in der Lage war, klammerte sich in Erwartung einer neuen Erschütterung irgendwo fest. Mike

jedoch war mit einem Satz über die Gestürzten hinweg, flitzte

zur nächsten Gangkreuzung und rannte nach rechts.

Ohne anzuhalten stürmte er weiter, erreichte die Treppe im vorderen Teil der NAUTILUS und hielt einen Moment inne. Er befand sich jetzt unmittelbar unter dem Salon, der gleichzeitig die Kommandozentraleder NAUTILUS darstellte. Über ihm erklangen Stimmen, was kein gutes Zeichen war. Die Sklaven, die die NAUTILUS beluden, verrichteten ihre Arbeit schweigend und durften gar nicht reden. Also waren dort Argos’ Männer. Mikes Gedanken drehten sich für einen Moment wild im Kreis, ohne dass er zu einem Ergebnis gelangt wäre. Er hatte gar keine andere Wahl als einfach loszugehen und zu sehen, was geschah. Mike gestand sich im Stillen ein, dass ihr Plan, die NAUTILUS zurückzuerobern, gewisse Lücken aufwies – um nicht zu sagen: Es gab gar keinen Plan.

Langsam bewegte er sich die Wendeltreppe hinauf. Die Stimmen wurden lauter und klangen jetzt eindeutig aufgeregt, wenn nicht wütend. Als Mike weiterging, gewahrte er einige Männer in den Uniformen der Palastgarde, die sich gerade vom Boden aufrappelten oder sich mit schmerzverzerrten Gesichtern die Glieder rieben. Das Seebeben hatte sie ebenso durcheinander geworfen wie die Sklaven weiter unten im Schiff. Vielleicht würden sie in all der Aufregung gar keine Notiz von ihm nehmen.

Mike versuchte einen ebenso leeren Ausdruck auf sein Gesicht zu zaubern, wie er ihn auf dem Bens und denen der anderen Sklaven gesehen hatte, und ging mit ruhigen Schritten an den Kriegern vorbei. Der Trick schien zu funktionieren.

Einer der Männer sah ihm stirnrunzelnd nach, zuckte dann aber nur mit den Schultern und fuhr fort seine schmerzenden Rippen zu massieren. Vollkommen unbehelligt erreichte Mike die Tür zum Salon und trat ein.

In dem großen Raum hielten sich vier Männer auf und Mike konnte ein erleichtertes Seufzen nur mit großer Mühe unterdrücken, als er in einem von ihnen niemand anderen als Trautman erkannte. Der Steuermann blickte gerade nicht in seine Richtung, sondern war in eine hitzige Debatte mit einem hoch gewachsenen Atlanter verstrickt. Langsam, aber ohne zu stocken, ging Mike auf die beiden zu. Kurz bevor er das Kommandopult im hinteren Teil des Salons erreichte, drehte sich Trautman herum und sah ihn an.

Er brach mitten im Wort ab. Seine Augen wurden groß und für einen Moment erschien ein Ausdruck absoluter Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht.

Mike senkte hastig den Blick und sagte leise: »Herr?«

Es war der gefährlichste Moment überhaupt. Mikes Herz schlug zum Zerreißen und er rechnete fast damit, dass sich die beiden Krieger, die nur ein Stück hinter ihm standen, nun unverzüglich auf ihn stürzen würden. Aber Trautman reagierte sofort und auf die einzig richtige Art: Mike sah aus den Augenwinkeln, wie der erschrockene Ausdruck auf seinem Gesicht perfekt gespieltem Zorn wich.

»Da bist du ja endlich, Kerl!«, sagte er wütend. »Wo hast du dich so lange herumgetrieben? Ich warte schon seit Stunden auf dich!«

»Ich bin gekommen, so schnell ich konnte, Herr«, antwortete Mike demütig. »Aber ich –«

»Papperlapapp!«, unterbrach ihn Trautman. Er machte eine herrische Geste. »Spar dir deine Ausreden und komm hierher, damit ich dich einweisen kann!«

Mike ging weiter, aber der Atlanter neben Trautman streckte blitzschnell die Hand aus, hielt ihn fest und zwang ihn, den Kopf zu heben, damit er ihm ins Gesicht sehen konnte. »Wer ist dieser Bursche?«, fragte er. »Was tut er hier?«

»Ich habe ihn angefordert«, sagte Trautman rasch. »Seinen Namen kenne ich nicht. Ich habe um einen Assistenten gebeten, der über technisches Verständnis verfügt.«

»Wozu?«, fragte der Atlanter misstrauisch. »Bisher hast du auch keinen Assistenten gebraucht.«

»Du weißt ja auch, was die letzten beiden Male passiert ist, als wir die Kuppel verlassen haben«, antwortete Trautman scharf. »Diesmal wird es ernst. Wir können uns kein Risiko erlauben.«

»Das gefällt mir nicht«, sagte der Atlanter. »Ich werde mich überzeugen, ob es die Wahrheit ist.« Er ließ Mike los, drehte sich zum Ausgang und wandte sich im Gehen an die beiden Krieger. »Gebt auf diesen Jungen Acht. Irgendetwas stimmt mit ihm nicht.«

»Der Einzige, mit dem etwas nicht stimmt, bist du, Talan«, maulte Trautman. »Dein Misstrauen ist ja schon krankhaft.«

Der Atlanter würdigte ihn nicht einmal einer Antwort, sondern ging mit schnellen Schritten aus dem Salon, während die beiden Krieger gehorsam näher kamen. Trautman wandte sich in unverändert ruppigem Ton an Mike und fuhr ihn an: »Komm gefälligst her! Du wirst diese Kontrollinstrumente im Auge behalten und mich sofort warnen, wenn etwas nicht in Ordnung ist.«

Mike trat gehorsam neben Trautman und sah auf das Kontrollpult hinab. Er erlebte eine Überraschung. Selbst wenn er gewusst hätte, was Trautman mit dieser an sich unsinnigen Anweisung gemeint hatte, hätte er ihr nicht nachkommen können. Das Kontrollpult hatte sich total verändert. Die meisten Instrumente waren neu und vollkommen unverständlich und es waren eine ganze Anzahl neuer Geräte hinzugekommen, deren Bedeutung er nicht einmal erahnen konnte. Die Anweisung galt aber wahrscheinlich sowieso nur den Kriegern, um sie zu beruhigen.

Trautman trat dicht neben ihn, deutete mit einer befehlenden Geste auf das Instrumentenpult und flüsterte hastig: »Mike? Weißt du, wer du bist? Wer ich bin?«

»Ja, Herr«, antwortete Mike laut. »Ich verstehe Euch. Es ist alles in Ordnung mit mir.«

Trautman sah ihn verwirrt an. Offensichtlich wusste er nicht so ganz, was er von Mikes Antwort zu halten hatte. »Wo sind die anderen?«, flüsterte er.

Mike beugte sich scheinbar konzentriert über das Instrumentenpult und antwortete laut: »Das angeforderte Material ist unten im Schiff. Ich kann es holen, sobald Ihr es braucht, Herr.«

»Sind sie in Ordnung?«, flüsterte Trautman.

Mike sah aus den Augenwinkeln, dass sich die beiden Krieger wieder ein kleines Stück zurückzogen. Offenbar war ihr Argwohn wenigstens für den Moment besänftigt. So wagte er es, im Flüsterton und sehr schnell auf Trautmans Frage zu antworten. »Nein. Sie stehen noch unter Argos’ Einfluss.«

»Was ist mit Serena?«, fragte Trautman.

»Singh ist unterwegs, um sie zu holen«, antwortete Mike. »Sobald sie hier sind, können wir fliehen.«

»Fliehen?« Trautman sah ihn an, als wäre er verrückt. »Das Schiff wimmelt von Kriegern. Es sind mindestens zwanzig!«

»Wir haben Hilfe«, flüsterte Mike. Laut und mit einer Geste auf einige der neuen Instrumente fügte er hinzu: »Sind diese Geräte funktionstüchtig, Herr?«

»Hundertprozentig«, antwortete Trautman ebenso laut. »Die NAUTILUS ist in besserem Zustand denn je. Sobald ...Argosund die anderen hier sind, können wir aufbrechen.« Er wirkte total verstört, was Mike gut verstehen konnte. Aber solange die beiden Krieger in ihrer Hörweite waren, konnten sie es nicht wagen, offen zu reden.

Erneut bewies Trautman jedoch, dass er noch immer über einen scharfen Verstand verfügte. »Sprichst du die Technikersprache, Kerl?«, fragte er barsch. Dann wiederholte er dieselbe Frage auf Deutsch, seiner Muttersprache, die auch Mike – zwar nicht überragend, aber doch einigermaßen – beherrschte.

Mike nickte überrascht. Einer der Krieger kam wieder näher und fragte misstrauisch: »Was soll das? Redet so, dass wir euch verstehen!«

»Das ist viel zu umständlich«, erwiderte Trautman. »Die Technikersprache ist präziser und viel kürzer. Wir haben nicht

viel Zeit. Du kannst dich ja bei Talan beschweren, wenn er zurück ist.«

Der Krieger zögerte. Er war wütend, aber Mike registrierte auch überrascht, dass er einen gewissen Respekt vor Trautman zu haben schien. Schließlich sagte er trotzig: »Darauf kannst du dich verlassen.«

Trautman schenkte ihm noch einen abfälligen Blick, dann wandte er sich wieder an Mike: »Wir haben höchstens eine halbe Stunde, bevor Talan zurück ist – wahrscheinlich mit einer ganzen Armee«, sagte er, nun wieder auf Deutsch. Während er sprach, deutete er immer wieder heftig auf die Instrumente hinab und seine Stimme verlor auch nicht ihren herrischbefehlenden Ton. »Was ist passiert? Wo kommst du jetzt her und was ist das für eine Geschichte mit Singh und den anderen?«

Mike beugte sich tiefer über das Pult und machte eine übertrieben deutlich fragende Geste, während er gleichzeitig mit möglichst knappen Worten versuchte, Trautman zu erzählen, was seit jenem Morgen im Korallenbruch geschehen war, an dem er sein Gedächtnis zurückerlangt hatte. Trautman hörte schweigend zu, aber sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich zusehends. Mike vermochte nicht zu sagen, ob aus Bestürzung über das Gehörte oder aus mangelnder Begeisterung über ihren Plan die NAUTILUS zu stehlen.

»Das gefällt mir nicht«, sagte er, als Mike geendet hatte. »Ich habe Serena nicht gesehen, seit wir Lemura erreicht haben und getrennt wurden, aber ich weiß, dass er sie wie einen Kronschatz bewachen lässt. Singh wird sie niemals finden.«

»Vielleicht doch«, antwortete Mike. »Sarn war Argos’

Vertrauter. Der Kommandeur seiner Leibwache. Wenn

jemand sie finden kann, dann er.«

»Was redet ihr da von Sarn und Argos?«, fragte der Posten misstrauisch. »Ich will nicht, dass ihr in dieser Sprache sprecht.«

»Der Junge hat mir erzählt, dass Sarn verschwunden ist«, antwortete Trautman in eindeutig schadenfrohem Tonfall. »Anscheinend verlassen die Ratten das sinkende Schiff.«