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»Aber nicht mit unserer Hilfe«, sagte Ben trotzig. »Nehmen Sie unser Angebot an oder versuchen Sie doch allein das Schiff zu lenken. Sie werden sehen, wie weit Sie kommen.«
Tarras seufzte. »Ich könnte dich so leicht zwingen, zu tun, was
ich will, mein Junge«, sagte er. »Aber wozu? Du hast es ja selbst
gesagt: Wir werden das Schiff alleine steuern.«
»Das können Sie gar nicht!«, versetzte Ben patzig. »Ich fürchte, er kann es«, sagte Argos. Er lächelte traurig. »Vergiss nicht, dass dieses Schiff dort gebaut worden ist, wo wir herkommen. Seine Bedienung ist uns nicht fremd.«
»Richtig«, fügte Tarras hinzu. An Ben gewandt fuhr er fort: »Und jetzt solltest du dein vorlautes Mundwerk halten, mein Junge, bevor ich auf die Idee komme, dich allein hier auf der Insel zurückzulassen. Wie Argos ganz richtig gesagt hat: Wir brauchen euch nicht, um das Schiff zu steuern.«
»Ich habe ihnen mein Wort gegeben, sie freizulassen, sobald wir zu Hause sind«, sagte Argos, doch Tarras wischte auch diese Worte mit einer fast beiläufigen Bewegung zur Seite. »Dein Wort, du sagst es.«
Er überlegte einen Moment, dann wandte er sich mit einer Frage an Trautman: »Hat jeder von euch hier an Bord eine eigene Kabine?« Trautman nickte.
»Gut«, sagte Tarras. »Dann werdet ihr jetzt Wasser und Nahrungsmittel für drei Tage zusammenpacken und in eure Kabinen gehen. Einzeln und nacheinander. Vargan begleitet euch, während ich auf unser Prinzesschen Acht gebe.«
»Was haben Sie vor?«, fragte Mike aufgebracht. Er machte einen Schritt auf Tarras zu, blieb aber wieder stehen, als ihn ein Blick aus den eisigen Augen des Atlanters traf.
»Ich will nur sichergehen, dass sie keine Dummheiten macht«, sagte Tarras. »Immerhin haben wir eineganze Schiffsbesatzung voller junger Helden hier, nicht wahr? Und die könnten etwas
Unüberlegtes tun. Etwas, das Serena in Gefahr brächte. Und das
wollen wir doch nicht, oder?«
Mike presste wütend die Lippen zusammen, aber er konnte nichts anderes tun als hilflos die Fäuste zu ballen und wieder in die Reihe der anderen zurückzutreten.
»Sie wollen uns drei Tage lang einsperren?«, vergewisserte sich Trautman.
»Sie können auch gerne hier auf der Insel zurückbleiben«, antwortete Tarras. »Ich bin sicher, dass sienicht sehr lange allein sein werden. Unsere wortkargen Freunde sind bestimmt noch in der Nähe – undich würde mich nicht darauf verlassen, dass sie ihren Fehlschlag mit einem Schulterzucken hinnehmen und einfach wieder gehen.«
»Davon abgesehen liegt diese Insel weitab von allen bekannten Schiffsrouten«, fügte Argos hinzu. »Eskönnte sein, dass ihr nie gefunden werdet. Ihr könnt Tarras vertrauen und ihr habt mein Wort, dass ihr frei seid und hingehen könnt, wohin ihr wollt, sobald wir unser Ziel erreicht haben.«
Trautman antwortete nicht darauf, doch der Blick, den er Argos zuwarf, machte klar, was er von dessen Wort hielt.
Genau so, wie der Atlanter gesagt hatte, kam es. Sein Kamerad begleitete sie einen nach dem anderen in ihre Kabinen. Ben versuchte als Einziger sich zu wehren, hatte aber natürlich gegen den starken Mann keine Chance. Als Allerletzter erst kam Mike an die Reihe. Auch er widersetzte sich nicht, aber er war tief enttäuscht. Er hatte gehofft, dass er sich wenigstens noch von Serena verabschieden durfte, aber Tarras schien solch romantischen Gedanken gegenüber völlig unempfänglich zu sein. Mikes entsprechende Bitte beantwortete er nur mit einer ungeduldigen Geste, sodass Mike sich schließlich zornig umwandte und vor dem Atlanter den Gang hinunterging.
Vargan führte ihn zu seiner Kabine und stieß ihn unsanft hinein. Als er die Tür schließen wollte, erklang jedoch draußen Argos’ Stimme und der Atlanter hob noch einmal den Blick.
»Warte noch einen Moment«, bat Argos. »Ich will noch einmal mit ihm reden.«
Vargan zögerte. »Tarras wird das nicht gerne sehen«, sagte er.
»Du musst es ihm ja nicht verraten«, antwortete Argos scharf. Ohne ein weiteres Wort trat er hinter Vargan in Mikes Kabine und der Atlanter schloss die Tür hinter ihm und verriegelte sie.
Mike starrte Argos an. Hinter seiner Stirn kreisten die Gedanken wie wild. Er war hin und her gerissen zwischen Wut, Verzweiflung und Trauer, Enttäuschung und anderen Gefühlen, die er gar nicht genau beschreiben konnte. Aber das Einzige, was er hervorbrachte, war das gestammelte: »Warum?« »Ichhatte keine andere Wahl, Mike«, antwortete Argos. Er hatte immer noch nicht die Kraft, seinem Blickstandzuhalten, und starrte irgendwo auf den Boden zwischen ihnen. Seine Stimme war sehr leise und sehr traurig, fast nur ein Flüstern, das um Vergebung bat. »Ich verlange nicht, dass du mir glaubst, aberes ist die Wahrheit. Ich wollte nicht, dass es so kommt.« »Und Sie hätten es auch nicht getan, wenn Siegewusst hätten, dass es so kommt, nicht wahr?«, fragte Mike höhnisch.
Argos fuhr unter seinen Worten zusammen wie unter einem Hieb. »Doch«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Es geht um viel mehr, als du dir vorstellen kannst. Mein eigenes Leben spielt dabei keine Rolle und auch nicht das der beiden anderen.«
»So wenig wie unsere?«, schnappte Mike. »Ich kann deine Bitterkeit gut verstehen«, murmelte Argos. »Ich will nicht, dass du mir verzeihst. Aber du wirst mich verstehen, wenn wir erst einmal angekommen sind.«
»Wer sind diese Männer?«, fragte Mike. »Stammen sie wirklich aus Atlantis oder sind sie einfach nur Lügner?«
»Wie ich?«, flüsterte Argos bitter. »Willst du das damit sagen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, es ist schon die Wahrheit. Wir ... stammen aus Atlantis. Jedenfalls in gewissem Sinn. Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber ich habe nur da gelogen, wo es nötig war.« »Das scheint ziemlich oft gewesen zu sein.« »... öfter als ich wollte«, gestand Argos. »Aber warum haben Sie Serena vorgemacht, dass Sie ihr Vater wären?«, wollte Mike wissen. »Hat es Ihnen Spaß gemacht, sie zu quälen? Falsche Hoffnungen in ihr zu wecken?«
»Es war das Leichteste«, antwortete Argos. »Ich habe in ihren Gedanken gelesen und erkannt, dass es ihr größter Wunsch war, ihren Vater wieder zu sehen.« Er lächelte schmerzlich. »Ich sehe ihm nicht einmal ähnlich, weißt du? Aber es ist so viel Zeit vergangen und Serena hat sich so sehr gewünscht, ihn zu treffen, dass das wohl keine Rolle spielte.«
»O ja und außerdem haben Sie natürlich alle Antworten auf alle Fragen, die sie stellen konnte, in ihren Gedanken gelesen«, sagte Mike bitter. »Wirklich eine Leistung. Bravo!« Er wartete vergeblich auf eine Antwort. Als er keine bekam, fuhr er fort: »Was geschieht jetzt mit uns? Wirklich, meine ich?«
»Nichts«, antwortete Argos. »Ich verspreche, dass ihr freigelassen werdet.«
»Warum sollte ich Ihnen das glauben?«, schnappte Mike. »Ihre Kameraden glauben unserem Ehrenwort ja auch nicht.«
»O doch, das tun sie«, behauptete Argos. »Sie wollen nur kein Risiko eingehen. Der Weg, der vor uns liegt, ist nicht sehr weit, aber gefährlich. Und von unserer Mission hängt so unendlich viel mehr ab, als du dir auch nur vorstellen kannst. Du und die anderen, ihr werdet in euren Kabinen bleiben. Es ist sicherer, für uns, aber auch für euch und für Serena.« »Und was geschieht mit ihr?«, wollte Mike wissen. »Nichts«, antwortete Argos. »Ich gebe dir mein Ehrenwort, dass ich ihr Leben verteidigen werde wie mein eigenes. Niemand wird ihr auch nur ein Haar krümmen.« »Ach, und Sie glauben, das reicht?«, fragte Mike. »Sie haben ihr viel mehr angetan, als es diese beiden Verbrecher da oben jemals könnten, ist Ihnen das eigentlich klar?«
»Ja«, antwortete Argos. »Ich weiß das. Und es tut mir unendlich Leid. Bitte glaube mir. Könnte ich es ungeschehen machen, würde ich es tun. Aber das kann ich nicht.« Er seufzte. »Ich werde dich jetzt allein lassen. Wenn alles gut geht, komme ich vielleicht in drei Tagen schon wieder. Kann ich nochirgendetwas für dich tun?« »Ja«, antwortete Mike. »Warten Sie, bis wir auf dreitausend Metern sind,und dann steigen Sie ohne Taucheranzug aus der Schleuse!«
Argos sah ihn nur noch einen Moment lang traurig an, dann schüttelte er den Kopf, lächelte bitter und klopfte an die Türe, damit sein Kamerad, der draußen Wache stand, ihn hinausließ.
Die drei Tage, von denen Tarras und Argos gesprochen hatten, vergingen quälend langsam. Mike blieb wie alle anderen
während der gesamten Zeit in seiner Kabine eingesperrt und er wusste schon bald nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war, ob er einmal oder zweimal geschlafen hatte und wie viel Zeit wirklich verstrich. Die Maschinen arbeiteten jetzt ununterbrochen mit voller Kraft und der Rumpf dröhnte, knisterte und knirschte unentwegt. Einmal glaubte Mike sogar das explosionsartige Krachen von Nieten zu hören, die unter der gewaltigen Belastung des Wasserdrucks platzten. Sie mussten also sehr tief unter Wasser sein. Schließlich ging seine endlose Gefangenschaft zu Ende. Wieder näherten sich Schritte vor der Tür. Mike, der auf dem Bett lag, hob den Kopf, machte sich aber nicht einmal mehr die Mühe aufzustehen. Er war der vergeblichen Hoffnung freigelassen zu werden in den letzten Stunden und Tagen einmal zu oft aufgesessen. Diesmal jedoch war sie nicht vergeblich. Die Schritte hielten vor seiner Tür an, dann hörte er, wie der Riegel zurückgeschoben wurde und einen Augenblick später blickte Vargan zu ihm herein. Er hatte seine zerschlissene englische Seefahreruniform gegen eine der grauen Bordmonturen der NAUTILUS eingetauscht und trug nun ebenfalls eine Pistole im Gürtel. Ohne ein Wort zog er die Tür ganz auf und trat einen Schritt zurück. Mike folgte der unausgesprochenen Einladung, erhob sich langsam vom Bett und schlurfte an dem Atlanter vorbei auf den Gang.
Sie waren allein. Alle anderen Türen standen offen. So wie er der Letzte gewesen war, den sie eingesperrt hatten, war er nun auch der Letzte, den sie wieder freiließen. Auf Vargans Wink hin begann er in Richtung Salon zu gehen.
Seine Vermutung erwies sich als richtig. Außer ihm waren alle anderen bereits im Salon versammelt. Zuseiner großen Überraschung und noch größeren Freude erkannte er, dass die Atlanter selbst Serena freigelassen hatten. Sie saß neben Trautman und Singh auf der Couch am Kartentisch und ein erfreuter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als sie ihn erkannte. Mike eilte los, schloss sie heftig und kurz in die Arme und wandte sich dann an Trautman: »Was ist passiert? Wo sind wir?«
Trautman hob nur die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er.
Mike sah zum Fenster. Die Irisblende vor dem gewaltigen Bullauge war geschlossen, sodass er nicht sehen konnte, was draußen war. Vermutlich hätte es ihm aber auch nichts genutzt, wäre sie geöffnet gewesen. Sie mussten unendlich tief unten im Meer sein, in einem Bereich ewiger Finsternis, den niemals ein Sonnenstrahl erreicht hatte.
Nach einigen weiteren Sekunden jedoch beantwortete Argos seine Frage. Er stand zusammen mit den beiden anderen Atlantern am Steuerpult und bediente konzentriert die komplizierten Instrumente, die die NAUTILUS lenkten.
»Wir haben unser Ziel erreicht. Noch wenige Minuten und wir sind da.«
Wie zur Antwort darauf erzitterte die NAUTILUS sanft; es war nicht, als hätte etwas das Schiffgetroffen, sondern mehr, als wäre es von einer großen, unendlich starken Hand ergriffen und ein Stück zur Seite gezogen worden. Vermutlich waren sie in eine unterseeische Strömung geraten.
»Wo sind wir?«, fragte Mike noch einmal. Argos tauschte einen raschen Blick mit Tarras, den dieser nach einem unmerklichen Zögern mit einem Kopfnicken beantwortete. Der Atlanter
betätigte einen Schalter und die riesige Irisblende begann sich
summend auseinander zu schieben.
Das Erste, was Mike sah, als sich das Fenster geöffnet hatte, war eine geradezu unglaubliche Anzahl von Haien, die das Schiff in einem dichten Schwärm begleiteten. Nicht einer von ihnen schien kleiner als fünf oder sechs Meter zu sein und er erkannte allein auf den ersten Blick mindestens ein halbes Dutzend jener gigantischen Kolosse, denen sie schon einmal begegnet waren. Dazwischen aber glaubte er auch einige fast menschenähnlich aussehende Gestalten zu erkennen – auch die unheimlichen Haifischmenschen hatten die Verfolgung also noch nicht aufgegeben!
»Sie sind hartnäckig, nicht wahr?«, sagte Tarras lachend. »Aber leider auch ziemlich dumm. Ein paar von den großen Fischen da draußen könnten dieses Schiff knacken wie eine Nussschale, aber das werden sie nicht tun, solange ihr an Bord seid.«