122182.fb2
»Alles, was wir hier tun, ist gefährlich«, sagte Trautman. »Außerdem haben wir einen guten Grund, Vom Dorff zu besuchen. Er hat etwas, was uns gehört. Wir würden wirklich ungern auf die beiden Taucheranzüge verzichten – ganz davon abgesehen, dass sie den Deutschen nicht in die Hände fallen dürfen. Und drittens müssen wir ihn doch schließlich davon überzeugen, dass wir auch wirklich von hier verschwinden, nicht wahr?«
»Vom Dorff ist nicht dumm«, gab Kanuat zu bedenken. »Er ist schlecht, aber nicht dumm.«
»Ich weiß«, sagte Trautman. Seltsamerweise lächelte er jedoch dabei. »Aber das macht nichts. Einen intelligenten Gegner zu überlisten ist manchmal leichter als einen dummen.«
»Wann brechen wir auf?«, fragte Mike.
Trautman sah ihn nachdenklich an und schüttelte den Kopf. »Wir brechen überhaupt nicht auf«, sagte er betont. »Wirf einmal einen Blick in den Spiegel. Du siehst aus wie der Tod auf Latschen. Du wirst dich jetzt gründlich ausschlafen. Singh und ich besuchen heute Abend Vom Dorff. Danach sehen wir weiter.«
Genau so geschah es. Mike tat das, worauf er sich schon die ganze Zeit über gefreut hatte, und nahm eine lange und sehr heiße Dusche und aus der Stunde, die er sich anschließend aufs Ohr legen wollte, wurden deren etliche. Er erwachte erst, als ein spürbares Zittern durch den Rumpf der NAUTILUS ging und die Motoren wieder zu ihrem monotonen Summen erwachten.
Verschlafen setzte er sich auf. Ein müdes Blinzeln auf die Uhr zeigte ihm, dass er viele Stunden im Bett gelegen hatte. Draußen musste es mittlerweile längst wieder dunkel geworden sein. Trotzdem war er noch immer so müde, dass er sich auf der Stelle wieder hätte zurücksinken lassen und weiterschlafen können.
Er hatte jedoch keine Zeit dazu. Irgendetwas stimmte nicht. Die metallenen Planken unter seinen Füßen zitterten zu heftig und das Motorengeräusch klang unregelmäßig und stotternd. Mike zog sich an, verließ die Kabine und schlurfte in Richtung Salon, wobei er ununterbrochen gähnte. Trotz der langen, heißen Dusche vom vergangenen Abend fror er noch immer. Er würde mit Trautman und den anderen reden müssen, damit ihre nächsten Abenteuer wieder in der Karibik stattfanden.
Abgesehen von Ben, der vermutlich in der Kombüse war und einen neuen Mordanschlag vorbereitete, fand er die komplette Besatzung der NAUTILUS im Salon. Trautman und Singh trugen dunkle, eng anliegende Kleidung und hatten beide nasse Haare und Trautman machte ein ziemlich niedergeschlagenes Gesicht. Wie es aussah, hatte Mike das Spannendste verpasst. Aber nicht unbedingt das Erfolgreichste.
»Was ist passiert?«, fragte er neugierig.
»Hallo, Mike.« Trautman nickte ihm flüchtig zu. »Wir haben Kanuats Schlitten geholt und die Hunde.«
»Sie sind hier?«, fragte Mike überrascht. »An Bord?«
»Im vorderen Laderaum«, bestätigte Trautman. »Es war gar nicht so einfach, sie an Bord zu bekommen. Offenbar haben nicht nur die Inuit etwas gegen moderne Technik, sondern auch ihre Hunde.«
»Warum machen Sie dann so ein miesepetriges Gesicht?«, fragte Mike. Er setzte sich. Etwas klapperte, als er die Papiere auf dem Tisch zur Seite schob, um die Ellbogen aufzustützen. Unter dem Wust von Karten und Notizzetteln kam ein lackiertes, mit kunstvollen Buchstaben und Ziffern verziertes Brett zum Vorschein, aber Mike beachtete es in diesem Moment kaum.
»Unsere Anzüge.« Trautman seufzte tief. »Wir haben Vom Dorffs Haus buchstäblich auf den Kopf gestellt. Der arme Kerl wird eine Woche brauchen, um wieder halbwegs aufzuräumen. Die Anzüge waren nicht da. Berghoff oder Hansen müssen sie mitgenommen haben.«
Das war ein schwerer Schlag. Die beiden Taucheranzüge waren unbeschreiblich kostbar. Es gab an Bord der NAUTILUS zwar noch mehr der plump aussehenden Anzüge, die es ihren Trägern ermöglichten, sich selbst in mehreren tausend Metern Wassertiefe frei zu bewegen, aber es war unmöglich, Ersatz für die beiden zu beschaffen, die die Deutschen erbeutet hatten. Die Fabrik, in der sie hergestellt worden waren, war vor zehntausend Jahren in Schutt und Asche gesunken.
»Ein Grund mehr, zu diesem Berg zu gehen und nachzusehen, was sie dort treiben«, sagte Mike düster. »Ich nehme an, wir sind auf dem Weg dorthin?«
»Ja. Und wir haben wenig Zeit. Vom Dorff hat ja bereits bewiesen, dass die NAUTILUS ihm nicht ganz unbekannt ist. Wenn wir zu spät draußen vor der Küste auftauchen, könnte er Verdacht schöpfen.«
»Wir bringen euch so nahe wie möglich an den Berg heran«, fügte Singh hinzu. »Aber viel näher als gestern wird es kaum sein.«
Mike begann nachdenklich mit dem Brett zu spielen, das er unter den Papieren gefunden hatte. In einem sanft geschwungenen Viertelkreis im oberen Drittel des Brettes waren die verschnörkelten Buchstaben des Alphabets aufgereiht, darunter die Ziffern 0 bis 9. Zu beiden Seiten davon und etwas größer standen die Worte »Ja« und »Nein«.
Das Stück Holz war ein Ouija-Brett, ein – nach Mikes Überzeugung – albernes Spielzeug, das bei Seancen und Geisterbeschwörungen benutzt wurde. Mittels eines kleineren, angespitzten Holzstückchens, mit dem man auf die entsprechenden Buchstaben deuten konnte, vermochte man mit diesem Brett angeblich Botschaften aus dem Totenreich zu empfangen. Überflüssig zu erklären, was Mike davon hielt. Er fragte sich nur, was dieses Brett überhaupt auf dem Schiff zu suchen hatte. Vielleicht hatte Kanuat es mitgebracht. Zuzutrauen war es ihm, so abergläubisch wie der Inuit war. Mike verjagte den Gedanken und stand auf.
»Dann ziehe ich mich vielleicht besser um«, sagte er.
»Wozu?«, fragte Trautman. »Ich gehe allein. Es ist viel zu gefährlich.«
»Das Thema hatten wir doch schon einmal, oder?«, seufzte Mike.
»Ja – und ich habe mich schon einmal falsch entschieden«, antwortete Trautman energisch. »Du wärest um ein Haar ums Leben gekommen. Das Risiko werde ich nicht noch einmal eingehen. Du bleibst hier und damit basta.«
Wenn Trautman diesen ganz bestimmten Ton anschlug, das wusste Mike, dann hatte Widerspruch absolut keinen Zweck. Mike versuchte es auch erst gar nicht mehr. Stattdessen wandte er sich kommentarlos um, verließ den Salon und ging in seine Kabine, um sich umzuziehen. Keine fünf Minuten später betrat er den vorderen Laderaum und traf auf Kanuat und seine Hunde.
Und auf Serena.
»Dachte ich es mir«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich nehme an, du bist in voller Wintermontur hier erschienen, um dich von Trautman zu verabschieden.«
Mike überhörte den beißenden Spott in Serenas Stimme ganz bewusst. »Ich denke nicht daran, Trautman allein gehen zu lassen«, sagte er ernst. »Er verschweigt uns etwas, Serena. Ich verwette meine rechte Hand, dass Trautman weiß, was ihn auf diesem angeblichen Berg der Götter erwartet.«
»Selbst wenn es so ist«, antwortete Serena. »Dann sollten wir seinen Wunsch respektieren. Wenn er nicht darüber reden will, ist das seine Sache.«
»Das ist es nicht«, widersprach Mike. »Nicht, wenn er sich damit in Gefahr begibt. Er weiß, was ihn dort erwartet. Du hast seinen Blick nicht gesehen, als er über die verschollene Expedition gesprochen hat.
Aber ich. Glaub mir: Trautman hat furchtbare Angst. Ich weiß nicht, wovor, aber ich weiß, dass ich ihn ganz bestimmt nicht allein lassen werde. Außerdem braucht ihr mich dort draußen. Ich bin der Einzige, der mit Astaroth Kontakt aufnehmen kann. Vielleicht brauchen wir ja dringend eure Hilfe.«
»Das ist nicht fair«, sagte Serena.
»Stimmt.« Mike deutete auf den Schlitten. »Hilfst du mir jetzt oder verpetzt du mich?«
»Du solltest diese Entscheidung nicht von ihr verlangen«, mischte sich Kanuat ein. Er trat an seinen Schlitten und schlug eine der Felldecken zurück, die darauf lagen. »Du verlangst, dass sie einen Freund hintergeht. Das ist wirklich nicht fair.«
»Aber doch nur, um ihn zu retten!«
»Ich sage doch, es ist nicht fair.« Kanuat zeigte Mike eines seiner seltenen Lächeln und machte gleichzeitig eine einladende Geste. »Trautman ist nichtmeinFreund. Und er wird mich nicht fragen, was auf dem Gespann ist, sodass ich ihn nicht belügen muss.«
»Das ist Haarspalterei«, maulte Serena. »Ich gehe jetzt, bevor ihr beiden noch auf die Idee kommt, eine Sprache zu erfinden, in der es das Wort Lüge nicht gibt. Und lass dir ja nicht einfallen, dich umbringen zu lassen oder so was. Wenn du zurückkommst und tot bist, rede ich kein Wort mehr mit dir.«
Und damit drehte sie sich um und rannte regelrecht aus dem Laderaum. Kanuat blickte ihr kopfschüttelnd nach, setzte dazu an, etwas zu sagen, und deutete dann nur wortlos auf den Schlitten.
Mike gehorchte ebenso wortlos. Er quetschte sich zwischen die fest zusammengeschnürten Bündel und Säcke, und Kanuat breitete die Decke über ihn aus. Es wurde vollkommen dunkel, aber Mike widerstand der Versuchung, die Decke ein kleines Stück anzuheben, um hinaussehen zu können. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Trautman kam. Er hatte scharfe Augen, denen nicht die geringste Kleinigkeit entging.
Sehr lange musste er sich auch nicht mehr gedulden. Es mochten allerhöchstens fünf Minuten vergangen sein, als er
Trautmans Stimme und die Stimmen mehrerer anderer Personen
hörte.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Trautman. »Ben, Juan – ihr helft Kanuat und mir den Schlitten auszuladen. Und danach verschwindet ihr wie der Blitz. Ich habe Singh instruiert, auf der Stelle zu tauchen. Ihr solltet euch besser beeilen, wenn ihr keine nassen Füße bekommen wollt!«
Für eine ganze Weile hörte Mike nichts außer einem anhaltenden Rumpeln und Klappern, dann wurde es plötzlich sehr kalt und gleich darauf konnte Mike spüren, wie der Schlitten hochgehoben wurde.
»Verdammt, ist das Ding schwer!«, schimpfte Ben. »Was nehmt ihr denn da mit? Betonbrocken?«
»Essen für drei Tage«, antwortete Kanuats Stimme aus einer anderen Richtung. »Und Fleisch für die Hunde.«
Der Schlitten schaukelte immer heftiger, dann wurde er mit einem so harten Ruck aufgestellt, dass Mike
die Zähne schmerzhaft aufeinander klapperten. »Geschafft!«, keuchte Ben. »Ein bisschen Hilfe wäre nicht schlecht gewesen. Das Ding wiegt ja eine Tonne! Wo ist überhaupt Mike? Immer wenn es Arbeit gibt, ist der Herr nicht da.« Er lachte. »Aber Serena ist ja auch nicht zu sehen. Wahrscheinlich turteln die beiden wieder.«