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»Zum Beispiel, um die Bedingungen deines Aufenthaltes hier zu verbessern«, antwortete Vom Dorff. »Und natürlich das deiner Freunde.« »Abgesehen von Trautman sind sie nicht einmal hier«, antwortete Mike. »Und Trautman würde mir den
Kopf abreißen, wenn ich seinetwillen die anderen verrate.« »Was mich gleich zur nächsten Frage bringt«, sagte Vom Dorff ungerührt. »Wo ist die NAUTILUS?« »Weg«, antwortete Mike. »Trautman und ich sind auf eigene Faust losgezogen.« Vom Dorff machte sich nicht einmal die Mühe, auf diese lächerliche Ausrede zu reagieren. »Früher oder
später erwischen wir sie ja doch«, sagte er. »Wenn du deinen Freunden einen Gefallen tun willst, dann
solltest du eher dafür sorgen, dass es ihnen nicht so ergeht wie dem alten Trautman.« Diese Wortwahl kam Mike irgendwie seltsam vor, aber er war über Vom Dorffs Vorschlag viel zu empört, um mehr als einen einzigen flüchtigen Gedanken daran zu verschwenden. Mike ließ alle Vorsicht
fahren und gab Vom Dorff die scharfe Antwort, die ihm gebührte. »Ich will Trautman sehen«, endete er. »Vorher rühre ich mich nicht hier weg.«
»Dann dürfte es dir schwer fallen, mich in die Krankenstation zu begleiten«, antwortete Vom Dorff lächelnd.
»Die Krankenstation?«
»Natürlich. Du wolltest doch Trautman sehen, oder?«
Vom Dorff hielt tatsächlich Wort. Die beiden Soldaten, die Mike abholten, brachten ihn nicht sofort in eine Gefängniszelle, sondern eskortierten ihn zur Krankenstation der Stadt, wo er Trautman fand, aber er konnte nicht mit ihm reden. Trautman schlief und Mike wollte ihn nicht eigens wecken. Aber immerhin überzeugte er sich mit eigenen Augen davon, dass Trautman tatsächlich die beste Pflege bekam, die hier möglich war.
Nicht dass ihn diese Erkenntnis irgendwie sanfter stimmte. Vom Dorff würde ihm wahrscheinlich jeden Wunsch erfüllen, bis er ihm gesagt hatte, was er wissen wollte.
Nach seinem Abstecher zu Trautman brachten ihn die Soldaten in den Keller des Gebäudes, wo die Gefängniszellen lagen – unddieentsprachen nun wirklich voll und ganz Mikes Erwartungen. Es waren winzige, fensterlose Löcher mit vergitterten Türen, die kaum Platz für zwei Gefangene geboten hätten, im Allgemeinen aber mit vier oder auch fünf Männern belegt waren. Mikes Befürchtungen, in eine dieser überfüllten Zellen gesteckt zu werden, erfüllten sich allerdings nicht. Er wurde vorbei an einer langen Doppelreihe überbelegter Gitterkäfige zu einem Raum ganz am Ende des Korridors geführt, der ihm offensichtlich allein zugedacht war. Vermutlich nahm Vom Dorff auch noch an, dass er ihm mit dieser Sonderbehandlung einen Gefallen tat!
Die Stadt unter dem Eis schien eine eigene Zeitrechnung zu haben, die sich von der draußen gehörig unterschied, denn die allermeisten Gefangenen lagen auf ihren Pritschen oder auch auf dem nackten Fußboden und schliefen. Nur einige wenige hoben müde den Kopf oder blinzelten in seine Richtung, ohne ihm auch nur einen zweiten Blick zu gönnen. Die Ankunft eines neuen Gefangenen schien hier unten nichts Besonderes zu sein.
Mike war ganz froh darüber. Er war sehr müde und hatte keine Lust mehr zu reden. Hinter seiner Stirn überschlugen sich die Gedanken. Er war noch nicht so weit es sich einzugestehen, aber Tatsache war, dass er sich in einer nahezu aussichtslosen Lage befand. Sicher, nicht zum ersten Mal – aber es war selten so schlimm gewesen wie heute. Vom Dorff und die anderen hatten eindeutig alle Vorteile auf ihrer Seite. Um sich von seinen düsteren Gedanken abzulenken, wälzte er sich auf der unbequemen Pritsche auf die Seite und sah sich um. Durch die Gitterstäbe seines Gefängnisses konnte er in etliche der anderen Zellen hineinsehen. Bei einigen Gefangenen handelte es sich sicherlich um Mitglieder der verschollenen Expedition, aber er sah auch Männer in Marineuniformen und schmuddeligen Lumpen. Ungeachtet seiner zur Schau getragenen Großmut schien Vom Dorff ein ziemlich strenges Regime zu führen. Mit diesem Gedanken schlief er ein.
Und erwachte, als jemand seine Zelle betrat und derart laut mit etwas herumklapperte, dass man meinen konnte, der ganze Berg über ihnen wäre zusammengebrochen. Mike öffnete verschlafen die Augen, setzte sich gähnend auf und bekam gerade noch mit, wie seine Zellentür wieder zugeschlagen wurde. Als er die Beine von der Pritsche schwang, wäre er um ein Haar in einen flachen Blechteller getreten, den der Mann zurückgelassen hatte.
Jedenfalls wusste er jetzt, was der Grund für die Aufregung war. Die unappetitliche wässrige Brühe, die in dem Teller schwappte, stellte offensichtlich sein Frühstück dar.
Abgesehen von ihm selbst waren alle anderen Gefangenen schon emsig damit beschäftigt, ihre Suppe lautstark auszuschlürfen – wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, Suppe zu sich zu nehmen, wenn man keinen Löffel hatte. Der Gefangenenwärter hatte kein Besteck dazugetan.
Der Anblick der Suppe regte nicht unbedingt Mikes Appetit an, sodass er die Gelegenheit nutzte, sich gründlich umzusehen. Der Mann, der in der Zelle neben ihm saß, kam ihm auf sonderbare Weise bekannt vor, obwohl er sein Gesicht gar nicht richtig erkennen konnte, denn er saß so auf dem Rand seiner Pritsche, dass er nicht in Mikes Richtung sah. Außerdem war es vollkommen ausgeschlossen, dass sie sich kannten. Seine Erinnerung spielte ihm wohl einen Streich. Mike wandte sich den Männern in der Zelle auf der anderen Seite zu.
Er war ziemlich sicher, es dabei mit Mitgliedern genau der Expedition zu tun zu haben, die sie suchten. Sie trugen zerschlissene, vollkommen verdreckte Winterkleidung, die ganz den Eindruck machte, als hätten sie sie seit einem Jahr nicht mehr gewechselt, und auch ihr Haar und ihre Barte waren lang und ungepflegt.
Nach einer Weile schien sein Starren den Männern wohl aufzufallen, denn plötzlich ließ einer von ihnen seinen Teller sinken, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und deutete dann mit einer Kopfbewegung auf Mikes eigene Suppe.
»Du solltest lieber essen«, sagte er.
»Ich habe keinen Appetit«, antwortete Mike. »Nichtdarauf.«
Der Mann schlürfte den Rest seiner Suppe aus, fuhr sich noch einmal mit dem Handrücken über den Mund und stellte den Teller zu Boden. »Du bist verwöhnt, wie?«, fragte er. »Das legt sich. In spätestens drei Tagen sehnst du dich nach dem Fraß, mein Wort darauf. Ich habe sogar das Gefühl, dass heute Sonntag sein muss. So was Gutes gibt's nicht jeden Tag. Also iss lieber.«
»Und wenn du es wirklich nicht willst, dann gib es mir«, sagte
der Mann in der anderen Nebenzelle. »Es ist zu schade zum Wegschütten.«
Mike drehte langsam den Kopf – und riss ungläubig die Augen auf. »Trautman?«, keuchte er. »Aber das ist doch ...«
Es war nicht nur unmöglich, es war auch nicht Trautman. Aber die Ähnlichkeit war wirklich frappierend. Der Mann war viel jünger als Trautman und auch ein gutes Stück größer. Er hatte einen dichten schwarzen Vollbart und schulterlanges Haar, aber abgesehen davon hätte er eine dreißig Jahre jüngere Version Trautmans sein können. Wie sein jüngerer Bruder. Oder ...
Und endlich begriff Mike. Mit einem Mal ergab alles einen Sinn. »Kennen wir uns?«, fragte der Schwarzhaarige. »Nein«, stotterte Mike. »Ich dachte nur ... Es war ein Irrtum. Bitte entschuldigen Sie. Ich habe Sie
verwechselt.«
»Mit jemandem, der genauso aussieht wie ich?«, fragte der andere zweifelnd. »Und zufällig auch genau so heißt? Wer soll dir das wohl glauben?« »Wer bist du überhaupt?«, fragte der Mann, der ihn zuerst angesprochen hatte. »Lässt Berghoff jetzt
schon Kinder kidnappen?« »Ich bin freiwillig hier«, antwortete Mike. »Na ja, beinahe ...« »Das ist keine Antwort«, sagte Trautman. Trautman? Trautman .. »Das stimmt«, gestand Mike. »Aber ich bin ... überrascht. Und es ist nicht so leicht, die Sache zu
erklären.« »Oh, das macht nichts«, antwortete der Mann, dessen Namen
er nicht kannte. »Wir haben viel Zeit.«
»Oder hast du etwas vor?«, fügte der Mann mit Trautmans Gesicht hinzu.
»Wir sind hier, weil wir Sie gesucht haben«, antwortete Mike. »Sie und Ihre Freunde.«
»Wer istwir?«,fragte Trautman rasch.
Der andere fügte hinzu: »Und was glaubst du, wer wir sind?«
»Sie gehören zu der Expedition, die letztes Jahr aus Sadsbergen aufgebrochen ist, um das Geheimnis des
Berges zu ergründen.«
»Das stimmt«, antwortete der Mann verblüfft. »Aber woher wisst ihr davon? Wir haben es niemandem
gesagt. Ganz im Gegenteil. Die ganze Expedition war streng geheim.«
»Wir haben euren Funkspruch aufgefangen«, antwortete Mike. »Vor ungefähr einer Woche.«
»Was für einen Funkspruch?«, fragte der andere Mann. »Siehst du hier irgendwo ein Funkgerät?«
»Wir haben einen SOS-Ruf empfangen«, beharrte Mike. »Allerdings verstümmelt. Und auf Norwegisch.«
»Auf Norwegisch?«
»Sörensen«, sagte Trautman. »Das muss Sörensen gewesen sein. Sieht so aus, als hätten wir ihm unrecht
getan.« In Mikes Richtung gewandt fügte er hinzu: »Nicht alle von uns sitzen im Gefängnis, musst du
wissen. Einige haben sich mit Vom Dorff und Berghoff zusammengetan. Jedenfalls dachten wir das bis
jetzt ... Also gut. Jetzt wissen wir, wie ihr hierher kommt. Aber wir wissen immer noch nicht, wer ihr
seid.« »Mein Name ist Mike«, antwortete Mike. »Ich gehöre zur Besatzung der NAUTILUS. Und ich glaube, ich bin zusammen mit Ihrem Vater hier.«