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Chris schob seinen Teller von sich, ging zum Funkpult und kam mit den voll gekritzelten Zetteln wieder, die Mike schon vorhin gesehen hatte. »Ich fürchte, nein«, sagte er. »Ich habe alles so aufgeschrieben, wie Sie es mir gezeigt haben, aber es ist nur Unsinn dabei herausgekommen. Sehen Sie selbst.«
Trautman griff nach den Zetteln, blätterte sie durch und schüttelte ein paar Mal lächelnd den Kopf. Dann erlosch sein Lächeln und an seiner Stelle machte sich ein überraschter Ausdruck auf seinen Zügen breit. »Das ist sehr seltsam«, murmelte er. »Das ist Norwegisch. Ein ziemlich seltener Dialekt, aber ich kenne ihn.«
»Und Sie können das lesen?«, fragte Chris aufgeregt. »Ja und nein«, erwiderte Trautman kopfschüttelnd. »Das meiste kann ich entziffern... Aber es ergibt trotzdem keinen Sinn.«
Plötzlich wirkte er sehr aufgeregt. Er sprang hoch, lief mit den Zetteln in der Hand zum Bücherregal und rief über die Schulter zurück: »Räumt den Tisch frei! Ich brauche Platz!«
Nicht nur Mike hatte es plötzlich sehr eilig, seinem Befehl zu folgen. Nur Ben rührte sich nicht, sondern stopfte weiter Löffel um Löffel in sich hinein. »Aber ihr seid doch noch gar nicht fertig mit dem Essen!«, beschwerte er sich.
»Die Wissenschaft geht vor«, sagte Juan.
»Außerdem tut allen ein Fastentag dann und wann ganz gut«, fügte Serena hinzu. »In meiner Heimat war das so üblich, glaub mir. Zu gutes Essen ist auf die Dauer nicht gesund.«
»Deshalb sind die Atlanter wahrscheinlich auch ausgestorben«, maulte Ben. »Aber gut, wenn du meinst ... Trotzdem – jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen. Wenn ihr wollt, übernehme ich morgen noch einmal freiwillig den Küchendienst.«
Niemand antwortete.
Trautman arbeitete zwei Stunden, aber danach sah der Salon aus, als hätten Dschingis Khans Hordenzwei Wochen lang darin gewütet: Überall lagen Bücher herum und lose Blätter, voll gekritzelte Notizzettel und Stifte, Radiergummis und zerknüllte Papierkugeln. Niemand nahm auch nur Notiz davon. Sie alle waren viel zu aufgeregt.
Trautman hatte es tatsächlich geschafft.
»Es ist ein Notruf«, sagte er schließlich. Er wirkte erschöpft,
aber zufrieden.
»So?«, machte Ben zweifelnd. Er beugte sich ein wenig vor und sah über Trautmans Schulter auf denkleinen Zettel hinab, auf dem die Übersetzung allmählich Gestalt angenommen hatte. »Für mich sieht es immer noch aus wie Buchstabensalat.«
»Es ist ein sehr alter Code«, antwortete Trautman. »Es scheint sich um eine Gruppe von Forschern zu handeln, die in Schwierigkeiten geraten sind. Das hier –«, er tippte mit dem Zeigefinger auf eine Reihe von Buchstaben und Zahlen, »– sind ziemlich genaue Koordinaten. Ich schätze, dass wir zwei Tage
brauchen werden, um dorthin zu kommen.« »Wohin?«, fragte Juan. »Grönland.« »Grönland?« Ben sah nicht begeistert aus. »Es ist ein Notruf«, wiederholte Trautman in leicht tadelndem Tonfall. »Wir müssen darauf reagieren,
das schreibt das internationale Seerecht vor. Und ich würde es auch tun, wenn es nicht so wäre. Jemand ist in Schwierigkeiten und braucht Hilfe.« Er reichte Singh seinen Zettel. »Singh, würdest du bitte den Kurs berechnen?«
Der Inder ging wortlos zu den Kontrollinstrumenten. Während er tat, was Trautman ihm aufgetragen hatte, sagte Ben noch einmal: »Grönland.«
»Das ist ziemlich weit«, sagte Juan und Chris fügte hinzu: »Und kalt.« »Was wird das?«, fragte Trautman. »Eine Meuterei? Habt ihr mir nicht zugehört? Ich sagte doch wohl deutlich genug: Es ist ein Notruf. Ihr würdet doch auch erwarten, dass man euch zu Hilfe kommt, wenn ihr in Schwierigkeiten wärt, oder?«
Für einen kurzen Moment breitete sich ein betretenes Schweigen im Salon aus. Der Einzige, der bisher nichts gesagt hatte, war Mike. Er sah Trautman nur sehr nachdenklich an. Er konnte das Gefühl nicht begründen, aber er war fast sicher, dass Trautman ihnen etwas sehr Wichtiges verschwieg.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sah Trautman für einen Moment auf und blickte ihm direkt ins Gesicht. Er wirkte nervös.
»Kurs liegt an«, sagte Singh knapp, bevor Mike eine entsprechende Frage stellen konnte. »Dann sollten wir losfahren«, meinte Trautman. »Halbe Kraft voraus. Wir brauchen noch ein wenig Zeit, um die Motoren wieder komplett zusammenzusetzen. Die Gewässer dort sind schwierig. Ich möchte nicht mit einem halb auseinander gebauten Schiff zwischen treibenden Eisbergen manövrieren.«
Mike sah aus den Augenwinkeln, dass Ben erneut zum Widerspruch ansetzte, aber Singh kam ihm zuvor: »Ich schlage trotzdem vor, dass wir etwas schneller fahren«, sagte er. »Wieso?«
Aller Aufmerksamkeit wandte sich dem Inder zu. Singh blickte stirnrunzelnd auf seine Instrumente hinab und fuhr fort: »Wir bekommen Gesellschaft. Sieht so aus, als ob unsere deutschen Freunde nicht so schnell aufgeben.«
»Das Kriegsschiff?«, fragte Ben. »Ja«, antwortete Singh. »Es hält genau auf uns zu. Aber keine Sorge.« Er hob beruhigend die Hand, ehe
sie auch nur Zeit fanden, richtig zu erschrecken. »Sie werden Stunden brauchen, bis sie hier sind.«
»Sie dürften überhaupt nicht wissen, wo wir sind!«, protestierte Ben. »Das ist unmöglich!«
»Trotzdem ist es so«, sagte Singh achselzuckend. »Vielleicht haben sie irgendein neues ... Ortungssystem entwickelt.«
»Mit dem sie uns auf eine Entfernung von hundertfünfzig Seemeilen entdecken können?« Ben schüttelte den Kopf: »Unmöglich.«
»Da ist noch etwas«, murmelte Singh. »Ich kann es nicht genau erkennen, aber es scheint sich ... um ein weiteres Schiff zu handeln.«
»Esscheint?«Trautman stand auf und ging zu Singh hinüber. Auf seinem Gesicht erschien derselbe nachdenkliche Ausdruck wie auf dem des Inders, als er auf die Instrumente hinabsah.
»Merkwürdig«, murmelte er. Dann zuckte er mit den Schultern. »Aber das ist jetzt egal. Wir laufen die halbe Strecke mit voller Kraft und gehen dann wieder auf halbe Geschwindigkeit. Das sollte reichen, um sie endgültig abzuhängen. Also los – alle auf eure Posten. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns!«
Die Küste schimmerte wie eine Wand aus poliertem, milchigem Glas. Die Sonne war gerade aufgegangen und ihre Strahlen brachen sich auf dem schimmernden Eis und ließen Millionen goldener und weißblauer Lichtreflexe aufwirbeln. Die Wand erhob sich drei Meter senkrecht vor der NAUTILUS aus dem
Meer und erstreckte sich in beide Richtungen, so weit der Blick
reichte.
»Beeindruckend«, sagte Mike. »Man kommt sich irgendwie winzig vor, meint ihr nicht?«
Ben, der neben ihm und Serena auf dem Verandadeck der NAUTILUS stand, warf ihm einen Blick zu. »Ich komme mir vor allem kalt vor«, maulte er.
Mike seufzte. »Das könnte daran liegen, dass diese ganze Küste aus Eis besteht«, sagte er. »Hat man dir schon einmal gesagt, dass du ein furchtbar unromantischer Mensch bist?«
Ben grinste. »Mehrmals. Aber das ändert nichts daran, dass ich schon halb erfroren bin. Ich gehe jetzt nach unten und lasse euch zwei Turteltäubchen allein. Passt nur auf, dass ihr nicht aneinander festfriert – wenigstens nicht in einer Position, die euch peinlich sein könnte.«
Er lachte, drehte sich herum und kletterte die kurze Eisenleiter zum Turm der NAUTILUS empor. Mike sah ihm nach, bis er im Inneren des Schiffes verschwunden war, dann schüttelte er den Kopf. »Blödmann.«
Aber er grinste, als er das sagte, und als er sich wieder zu Serena herumdrehte, entdeckte er auch in ihren Augen ein spöttisches Funkeln. Mike fragte sich, ob sie Bens Bemerkung einfach nur komisch fand oder sich genau wie er über das WortTurteltäubchenamüsierte. Und einen Moment lang war er ganz dicht davor, ihr endlich zu gestehen, dass an Bens gutmütigen Sticheleien weitaus mehr dran war, als Serena vielleicht ahnte. Sie alle mochten Serena, aber Mike hatte vom ersten Tag an viel mehr für sie empfunden.
Dann drehte sich Serena wieder herum und sah zur Eisküste hinüber und der Moment war vorbei. Später, dachte Mike. Er würde es ihr später sagen. Bald. Ganz bestimmt.
Warte nicht zu lange damit,erklang Astaroths telepathische Stimme in seinem Kopf.Sonst kommt eines Tages ein Prinz auf einem weißen Delphin und reitet mit ihr in den Sonnenuntergang und du heulst dir die Augen aus.
Mike zog es vor, nicht darauf zu antworten. Astaroth hatte ja Recht – aber im Moment war wirklich nicht der richtige Augenblick für eine Liebeserklärung. Auch wenn Serena in ihrer weißen Felljacke wirklich ganz entzückend aussah ...
»Es ist unglaublich«, sagte Serena. »Ich war schon einmal hier, weißt du? Aber damals ... sah es ganz anders aus. Dieses Land war von Wäldern und fruchtbaren Wiesen und Sümpfen bedeckt.«
»Ich weiß«, antwortete Mike. »Daher kommt der Name. Die alten Wikinger nannten diese Insel Grünland, wegen ihrer grünen Küsten. Jetzt ist hier alles tot. Ich frage mich, was hier passiert ist.«
»Das, was Winterfeld mit der ganzen Welt vorhatte«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Mike drehte sich erschrocken herum und entdeckte Trautman, der in eine dicke Pelzjacke gehüllt und in gefütterten Stiefeln vom Turm heruntergeklettert kam. Obwohl er erst seit einigen Sekunden im Freien war, glitzerten in seinem weißen Bart bereits Eiskristalle.
»Die vorherrschende Meinung ist, dass der Golfstrom seine Richtung geändert hat«, fuhr er fort, während er näher kam. Die schwere Kleidung, die er trug, ließ seine Bewegungen ungelenk und schwerfällig erscheinen. »Dadurch blieb der Zustrom von warmer Luft aus den Tropen aus. Gleichzeitig kam immer mehr kalte Luft aus dem Norden, vom Polarkreis her. Es dauerte wahrscheinlich nur ein paar Dutzend Jahre, bis die ganze Insel buchstäblich eingefroren war. Dasselbe wäre mit einem großen Teil von Europa geschehen, hätte Winterfeld mit seinem wahnsinnigen Plan Erfolg gehabt.«
»Aber das haben wir ja gottlob verhindert«, sagte Mike. »Wie kommen Sie ausgerechnet jetzt wieder auf Winterfeld? Er ist seit Jahren tot.«