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Schlimm, antwortete Astaroth. Bisher habe ich vier Matrosen gefunden. Sie sind vollkommen versteinert. Trautman hat mit seinen Befürchtungen recht. »Es bewegt sich«, sagte Chris.
Mike hörte nicht hin. »Kannst du herausfinden, was passiert ist?« fragte er. Und wie?
Mike überlegte einen Moment angestrengt, dann sagte er: »Versuch die Kapitänskajüte zu finden. Vielleicht kannst du das Logbuch mitbringen. « »Das sollte er bleibenlassen«, sagte Chris. »Mike, ruf ihn zurück. Schnell!«
Mike verstand im ersten Moment gar nicht, was Chris meinte. Auf Chris' Gesicht lag plötzlich ein erschrockener Ausdruck. Verwirrt blickte Mike ihn einen Moment lang an, dann wandte er sich wieder zum Fenster um -und fuhr ebenfalls erschrocken zusammen. Das Schiffswrack bewegte sich.
Es zitterte ganz sacht. Unter dem Rumpf lösten sich dünne Sandschleier, die wie glitzernder Schnee im Licht der Scheinwerfer aufblitzten, ehe sie in der lichtlosen Tiefe verschwanden. Mike war nicht sicher aber er hatte das Gefühl, daß sich das ganze Wrack ein Stück weiter zur Seite geneigt hatte. »Chris hat recht«, sagte er. »Komm da raus. Wenn das Schiff von der Klippe abrutscht, bist du geliefert. « Krieg dich wieder ein, antwortete Astaroth salopp. Ich bin schon in der Kapitänskajüte. In einer Minute -Das Schiff neigte sich ein Stück zur Seite. Ein Teil der ohnehin zerborstenen Aufbauten brach vollends auseinander und stürzte in die Tiefe, und Mike konnte ganz deutlich sehen, daß der Felsvorsprung einen Riß bekommen hatte und sich nach vorne neigte. »Astaroth!« rief er entsetzt. »Komm da raus! Schnell!« Er bekam keine Antwort. Aus den Rissen rieselte immer mehr Sand, der sich im Scheinwerferlicht zu einem silbrigen Vorhang verwandelte, der lautlos in der Tiefe verschwand. Aber in den fallenden Sand mischten sich auch mehr und mehr Felsbrocken. Möglicherweise würde der Felsvorsprung komplett abbrechen und das Schiff mit sich in die Tiefe reißen. »Astaroth!« sagte er noch einmal. »Raus da!« Das... das würde ich ja gerne, antwortete Astaroth kleinlaut. Aber als sich das Schiff bewegt hat, ist die Tür zugefallen.
Mike spürte einen neuerlichen, eisigen Schrecken. Das Schiff -und mit ihm der Felsvorsprung, auf dem es lag bewegte sich weiter. Es würde abstürzen, daran bestand gar kein Zweifel.
»Such einen anderen Ausgang!« sagte er. »Ein Fenster. Eine Tür. Irgendwas!«
Das würde ich ja gerne, antwortete Astaroth. Aber hier ist nichts. Nur die Tür. Ich -
Er brach mitten im Satz ab, und in derselben Sekunde sah Mike, wie sich das Schiff ein ganzes Stück zur Seite neigte. Einen Herzschlag lang starrte er das Wrack gelähmt vor Schrecken an, dann fuhr er auf der Stelle herum und stürmte los. »He!« schrie Chris. »Was hast du vor?« »Ich hole ihn raus!« rief Mike. »Sag den anderen Bescheid!«
»Bist du verrückt?« keuchte Chris. »Du kannst doch nicht da rüber -«
Den Rest des Satzes hörte Mike nicht mehr. Er war bereits aus dem Salon hinausgerannt und hetzte mit weit ausgreifenden Schritten auf die Treppe zu, die nach unten führte.
Keuchend vor Anstrengung erreichte er die Tauchkammer, warf die Tür hinter sich zu und begann mit fliegenden Fingern, den klobigen Taucheranzug anzulegen; ein Unternehmen, das sich ziemlich schwierig gestaltete, denn dazu waren normalerweise mindestens zwei Helfer nötig. Trotzdem schaffte er es in Rekordzeit. Hastig setzte er den Helm auf, hakte zwei frische Sauerstoffflaschen in das Tragegestell auf seinem Rücken ein und öffnete die Ventile, die die Kammer mit Wasser fluteten.
Als sie halb gefüllt waren, hämmerte jemand gegen die Tür. Mike ignorierte es. Zitternd vor Ungeduld wartete er, bis das Wasser hoch genug gestiegen war, um auch die äußere Tür zu öffnen, drehte das schwere Handrad und sprang hinaus, noch bevor sich das schwere Schott auch nur halb geöffnet hatte.
Und das etwas vorschnell. Die NAUTILUS hatte nicht auf dem Meeresboden aufgesetzt, sondern hing reglos etwa zehn Meter über dem Grund, so daß Mike eine ziemlich unsanfte Landung hinlegte, nachdem er aus dem Schiff gesprungen war.
In dem schweren Taucheranzug war an Schwimmen nicht zu denken, und der Boden war fast knietief mit Schlamm bedeckt, in dem Mike bei jedem Schritt einsank, so daß es ihn viel Kraft kostete, sich dem Abgrund zu nähern. Er bewegte sich wie durch unsichtbaren, zähen Sirup, und selbst das Atmen fiel ihm schwer. Er erinnerte sich ein wenig zu spät daran, daß Singh erwähnt hatte, der Wasserdruck in dieser Tiefe wäre bereits zu hoch für ihre Anzüge. Aber der Weg war ja gottlob nicht sehr weit.
»Astaroth?« keuchte er. »Verdammt noch mal, melde dich!«
Ich lebe noch, antwortete Astaroth. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie lange das noch so bleibt. Der ganze Kasten wackelt und zittert, als hätte er Schüttelfrost.
»Ich hole dich raus«, sagte Mike. »Nur noch ein paar Minuten. « Astaroth schwieg.
Mike hatte mittlerweile den Abgrund erreicht und sah sich mit einer neuen Schwierigkeit konfrontiert: Das Schiff lag fünfzehn oder zwanzig Meter unter ihm auf einem Felsvorsprung, aber es gab keinen Weg, zu ihm hinunterzugelangen. Die Wand war so glatt, daß er den Gedanken, an ihr abwärtszusteigen, sofort wieder verwarf.
Spring einfach, sagte Astaroth. »Zwanzig Meter tief? Bist du verrückt?« Unter Wasser wiegst du nur einen Bruchteil deines normalen Gewichts, antwortete Astaroth. Außerdem bist du gerade fast genauso tief gesprungen. Ja, dachte Mike. Aber da hatte er festen Boden unter sich gehabt, keinen Felsvorsprung, der schon unter seinem eigenen Gewicht abzubrechen drohte. Aber ihm blieb keine Zeit, lange nachzudenken. Das Schiff unter ihm bewegte sich immer noch, und die Risse im Fels waren nun deutlich breiter geworden. Mike schloß für einen Moment die Augen, raffte all seinen Mut zusammen und sprang in die Tiefe. Dicht neben dem muschelverkrusteten Rumpf des Schiffes glitt er hinunter, schlug ziemlich unsanft auf und blieb einen Moment auf Händen und Knien, bis sich der hochgewirbelte Sand wieder weit genug gesenkt hatte, um etwas sehen zu können.
Als er auf das Schiff zuging, spürte er, wie sich der Boden unter ihm bewegte. Es war, als versuche sich tief im Inneren des Felsens ein riesiges Etwas aus seinem Gefängnis zu befreien. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Da hast du verdammt recht, sagte Astaroth. Mehr nicht, aber in seiner Stimme war nun ein unüberhörbarer Unterton von Panik, der Mike dazu brachte, seine Schritte zu beschleunigen.
Das Schiff war mittlerweile vollends auf die Seite gekippt, so daß er an einer nahezu senkrechten Wand hinaufklettern mußte, um die Tür zu erreichen, die ins Innere hineinführte; eine Aufgabe, die er überhaupt nur deshalb bewältigte, weil das Schiff vollkommen zerstört war, so daß es überall Trümmerstücke und verbogene Metallteile gab, an denen seine Hände und Füße Halt fanden. Trotzdem war er total erschöpft, als er die Tür erreichte. Sein Herz raste, und er konnte den ungeheuren Wasserdruck, der auf seinem Anzug lastete, mit jeder Sekunde mehr spüren. Er bekam kaum noch Luft.
»Wo bist du?« keuchte er. »Die Kapitänskajüte! Wo ist sie? Schnell!«
Am Ende des Ganges, antwortete Astaroth. Auf der linken Seite... oder auf der rechten... Ich weiß nicht. Das Ding drehte sich ja andauernd!
Mike schaltete den Scheinwerfer ein, der am Helm seines Taucheranzuges angebracht war, und betrat vorsichtig den Gang. Ebenso wie der Rest des Schiffes bot er einen unheimlichen Anblick. Boden und Wände hatten ihre Plätze getauscht, und auch hier drinnen war alles vollkommen verwüstet.
Endlich erreichte er das Ende des Ganges. Es gab zwei Türen; da das Schiff auf der Seite lag, eine im Boden und eine in der Decke. Beide waren geschlossen. Mike ließ sich behutsam in die Knie sinken, tastete nach dem Riegel und zog ihn mit einiger Mühe auf. Um ein Haar wäre er kopfüber in die Tiefe gestürzt. Die Tür öffnete sich nach innen, was bedeutete, daß sie wie eine Falltür unter ihm wegsackte und Mike buchstäblich im allerletzten Moment Halt am Türrahmen fand. Natürlich hatte er die falsche Kajüte erwischt. Es war nicht die Tür, hinter der Astaroth gefangen war. Aber was Mike im grellen Licht seines Helmscheinwerfers sah, das ließ ihn vor Schrecken aufschreien. Der Raum war ebenso verwüstet wie der Rest des Schiffes. Sämtliche Möbel waren losgerissen und zu einem einzigen, gewaltigen Trümmerhaufen verkeilt, und inmitten dieses Durcheinanders befanden sich zwei Menschen. Sie mußten am Tisch gesessen haben, als der Tod sie ereilte, denn ihre versteinerten Körper waren in sitzender, leicht nach vorne gebeugter Haltung erstarrt; der eine hatte die Ellbogen auf einer nicht mehr vorhandenen Tischplatte abgestützt und das Kinn auf die Hände gelegt, der andere hielt noch den abgebrochenen Henkel einer Kaffeetasse in der Hand. Es war ein furchtbarer Anblick.
Und es wird vielleicht das letzte sein, was du in diesem Leben siehst, wenn du dich nicht ein bißchen beeilst, sagte Astaroth.
Mike riß sich fast gewaltsam von dem schrecklichen Bild los, stand auf und trat einen Schritt von der Tür zurück, ehe er den Kopf in den Nacken legte und nach oben sah. Der Gang war gottlob nicht sehr breit, so daß er die Tür mit ausgestreckten Armen erreichen konnte. Das Schloß ließ sich mit einem simplen Handgriff öffnen, aber es gelang ihm nicht, sie aufzudrücken. Irgend etwas Schweres blockierte sie. Mike spreizte die Beine, um festen Stand zu haben, preßte die Handflächen gegen die Tür und drückte erneut und diesmal mit aller Kraft. Die Tür bewegte sich, zwar nur ganz langsam, aber sie bewegte sich. Mike drückte noch fester. Also, ich an deiner Stelle würde das nicht - begann Astaroth.
Was er noch sagte, hörte Mike nicht mehr. Die Tür gab mit einem Ruck nach, und in der nächsten Sekunde duckte er sich unter einer wahren Sturmflut von Möbeln, Trümmerstücken, Büchern, Geschirr, nautischen Instrumenten und zerbrochenem Holz, die auf ihn herunterstürzte. Dem Großteil dieses überraschenden Bombardements konnte er ausweichen, aber als er schon glaubte, es überstanden zu haben, stürzte etwas Riesiges, Graues auf ihn herab, und Mike fühlte sich wie von einem unsichtbaren Faustschlag getroffen und von den Füßen gerissen. Etwas preßte ihn wie ein Tonnengewicht zu Boden. Einen Moment lang bekam er überhaupt keine Luft mehr, und rote und grüne Punkte begannen vor seinen Augen zu kreisen. Als er wieder sehen konnte, blickte er in ein steingraues Gesicht.
Mike schrie vor Entsetzen auf. Die schiere Angst gab ihm die Kraft, den versteinerten Körper von sich herunterzustemmen und auf die Füße zu springen. Die Gestalt prallte gegen die Wand und zerbrach in mehrere Teile. Mike wandte entsetzt den Blick ab. »Astaroth«, murmelte er. »Wo bist du?« Er bekam keine Antwort, aber einen Moment später tauchte der Kater in der offenen Tür über ihm auf. Zähne und Klauen hatte er in ein schweres, ledergebundenes Buch gegraben, das beinahe größer war als er selbst.
»Was treibst du da?« fragte Mike. »Bist du wahnsinnig? Wir müssen hier weg!«
Du wolltest doch das Logbuch haben, antwortete Astaroth. Oder soll das alles hier umsonst gewesen sein? Und jetzt hör auf zu meckern und hilf mir lieber! Mike griff rasch zu, schob das Buch unter seinen Gürtel und wandte sich hastig um. Das Schiff zitterte und bebte immer noch. Mike hörte ein tiefes, ununterbrochenes Rumpeln und Poltern, das tief aus dem Rumpf des Schiffes heraufdrang, aber auch einen Laut, der ihm viel mehr Angst einflößte: das Knirschen von Stein, der allmählich unter einem unerträglichen Druck zerbrach.
So schnell es in dem unförmigen Taucheranzug möglich war, lief er auf den Ausgang zu. Das Schiff neigte sich immer weiter zur Seite, so daß er die letzten Schritte wie ein Hochseilartist balancieren mußte.
Schnell! kreischte Astaroth. Er bricht! Mike schaffte es im letzten Moment. Er konnte fühlen, wie der Felsen tief unter seinen Füßen zerbrach, erreichte mit einem letzten, großen Schritt die Tür und stieß sich mit aller Kraft ab. Mit weit ausgebreiteten Armen glitt er ins Wasser hinaus, während das Schiffswrack unter ihm mit einer fast majestätisch anmutenden Bewegung zur Seite kippte und dann zusammen mit einem Großteil des Felsvorsprungs lautlos in die bodenlose Tiefe zu stürzen begann. Mike begann verzweifelt Schwimmbewegungen zu machen. Der Taucheranzug, der eigentlich viel mehr ein Unterwasserpanzer war und zu einem Gutteil aus dickem Leinengewebe, Eisen und Kupfer bestand, drohte ihn in die Tiefe zu reißen, und der Sog des abstürzenden Schiffes tat ein übriges, um ihn von der rettenden Felswand wegzuzerren. Mikes Finger glitten über brüchigen Stein, der unter seinen Handschuhen zerbröckelte, und für einen Moment war er hundertprozentig davon überzeugt, abzustürzen und dem Schiff auf seinem Sturz ins Nichts zu folgen, aber dann fanden seine Hände doch noch Halt. Mit aller Kraft klammerte er sich fest, biß die Zähne zusammen und zog sich Zentimeter für Zentimeter an der Wand in die Höhe, bis es ihm schließlich gelang, sich auf den Rest des abgebrochenen Felsens hinaufzuziehen. Keuchend vor Anstrengung fiel er auf die Seite, schleppte sich so weit vom Abgrund fort, wie es nur ging, und schloß die Augen.
Er war so erschöpft, daß ihm übel wurde, und vielleicht war das der einzige Grund, aus dem er nicht das Bewußtsein verlor, denn er hatte Angst, sich übergeben zu müssen - was im Taucherhelm nicht nur unangenehm, sondern durchaus lebensgefährlich werden konnte. Er blieb bei Bewußtsein, hatte aber nicht mehr die Kraft, aufzustehen oder sich auch nur um einen Millimeter zu bewegen. Der Druck, der auf seinem Anzug lastete, wurde immer unerträglicher. »Astaroth«, flüsterte er. »Du mußt... Hilfe holen. Ich... schaffe es nicht mehr die Wand hinauf. « Trautman und Singh sind schon unterwegs, antwortete der Kater und fügte hinzu: Willst du wissen, was Trautman denkt?
Mike hatte nicht mehr die Kraft, zu antworten. Aber er wollte es auch gar nicht wissen.
Natürlich erfuhr er es trotzdem. Es dauerte noch gute zehn Minuten, bis Trautman und Singh ein Seil an der Felswand hinunterließen und neben ihm auftauchten, und Trautman wartete auch, bis er wieder an Bord der NAUTILUS war und sie sich davon überzeugt hatten, daß er nicht ernsthaft verletzt war. Aber dann sparte er nicht mit Worten, Mike in den düstersten Farben auszumalen, was ihm alles hätte passieren können, und hinzuzufügen, was er von seiner Rettungsaktion hielt. Mike ließ alles klaglos über sich ergehen, und schließlich gab es Trautman auf und schickte ihn in seine Kabine. Mike war so erschöpft, daß er trotz allem auf der Stelle einschlief.
Er erwachte am nächsten Morgen erst sehr spät, und eingedenk dessen, was am vergangenen Tag geschehen war, trödelte er länger als notwendig herum, ehe er seine Kabine verließ und in den Salon ging. Er hörte die Stimmen der anderen schon von weitem: Sie unterhielten sich ziemlich lautstark. Irgend etwas mußte passiert sein.
Als Mike jedoch den Salon betrat, brach die Unterhaltung sofort ab, und alle starrten ihn an. Die plötzliche Stille irritierte Mike und vor allem die Blicke, die ihm die anderen zuwarfen. Mit Ausnahme von Serena, in deren Augen ein angedeutetes Lächeln aufglomm, sahen eigentlich alle ziemlich besorgt drein. Anstatt guten Morgen zu sagen, fragte er: »Was ist passiert?«
Niemand antwortete. Alle starrten ihn weiter an, aber nach einer Weile sagte Ben: »Wir sehen schließlich nicht jeden Tag einen Selbstmörder. « Mike setzte zu einer wütenden Antwort an, aber dann gewahrte er das warnende Funkeln in Trautmans Augen und beließ es bei einem zornigen Blick, den Ben wie erwartet mit einem herausfordernden Grinsen quittierte. Mit schnellen Schritten ging Mike zum Tisch, suchte sich einen freien Platz und sah Trautman an.
»Sie haben das Logbuch gelesen«, vermutete er. »Ja. « Trautmans Gesichtsausdruck war sehr ernst. »Und was ich darin gelesen habe, gefällt mir ganz und gar nicht. « Er beugte sich vor und legte die flache Hand auf das Buch, das Mike erst jetzt bemerkte. Der Ledereinband war aufgeweicht, und Mike sah, daß die meisten Seiten zusammengeklebt und damit vermutlich unleserlich waren.
»Um das ganz klar zu machen, Mike«, sagte er. »Dieses Buch ist sehr wichtig für uns, aber das allein rechtfertigt den Wahnsinn, den du dir gestern geleistet hast, in keiner Weise. Wenn du so etwas noch einmal machst, dann werde ich dich übers Knie legen und dir die Hosen strammziehen, ganz egal, wie alt du bist. « Etwas völlig Unerwartetes geschah: Mike hätte zerknirscht sein sollen oder zumindest niedergeschlagen, denn Trautman hatte mit jedem Wort recht. Er hatte nicht nur sein Leben aufs Spiel gesetzt, sondern auch das Trautmans und Singhs, die ihm nachgekommen waren, um ihn zu retten. Aber statt so zu reagieren, wurde er wütend; so zornig, daß er um ein Haar aufgesprungen wäre und Trautman angeschrien hätte. Er beherrschte sich nur mit äußerster Mühe, wenn auch wohl nicht gut genug, um Trautman nicht spüren zu lassen, was in ihm vorging.
Und auch Trautman reagierte ganz anders als gewohnt. Er, der normalerweise der ruhende Pol an Bord war, derjenige, der jeden Streit schlichtete, manchmal einfach nur durch seine Gegenwart, der blickte ihn herausfordernd, ja geradezu aggressiv an, und Mike konnte regelrecht spüren, daß er nur darauf wartete, einen Streit mit ihm zu beginnen.
Diese Erkenntnis erschreckte Mike. So sehr, daß er nach einigen Sekunden den Blick senkte und wenigstens so tat, als gäbe er das lautlose Duell auf. »Also gut«, sagte Trautman nach einer weiteren Sekunde. Er klang beinahe enttäuscht. »Kommen wir zum Inhalt des Logbuches. Ich denke, ich weiß jetzt, wo das fremde Schiff ist. « »Wo?« fragte Ben überrascht.
Trautman hob besänftigend die Hände. »Nicht so schnell«, sagte er. »Ich sagte: Ich denke, daß ich es weiß. Das Wasser hat das Buch leider sehr stark beschädigt. Ich bin nicht sicher, daß ich die Angaben genau entziffert habe. « Er seufzte, dann drehte er sich halb auf seinem Stuhl herum und sah Mike durchdringend an. »Du warst an Bord des Schiffes, Mike. Ist dir irgend etwas Besonderes aufgefallen?«
»Was meinen Sie?« fragte Mike. Ihm war natürlich eine ganze Menge aufgefallen, aber er hatte das Gefühl, daß Trautman auf etwas ganz Bestimmtes hinauswollte. Der alte Seemann zögerte eine ganze Weile, bis er schließlich mit einem angedeuteten Achselzucken sagte: »Leider konnte ich mir das Schiff nicht aus der Nähe ansehen, aber was ich von oben erkennen konnte und nach dem, was du mir erzählt hast, scheint es sich wohl um einen ganz normalen Frachter gehandelt zu haben. «
»Stimmt«, sagte Mike, aber Trautman schüttelte den Kopf.
»Eben nicht. Ein Teil der Logbucheintragungen scheint verschlüsselt zu sein, aber ich kenne mich glücklicherweise ein wenig mit solchen Dingen aus, und ich fahre lange genug zur See, um auch so zu erkennen, wenn etwas nicht das ist, was zu sein es vorgibt. Dieses Schiff war alles, nur kein ziviler Frachter, der Eisenerz oder Kohle transportiert hat. «
»Und was dann?« wollte Ben wissen. Er beugte sich gespannt vor, und auch Mike fühlte eine immer stärker werdende Neugier, aber er war auch etwas beunruhigt. Trautman gehörte normalerweise nicht zu den Menschen, die es genossen, eine Sache so spannend wie möglich zu machen. Wenn er jetzt so zögerte, mit der Wahrheit herauszurücken, mußte er einen besonderen Grund dafür haben.