122186.fb2 Die vergessene Insel - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

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wollte Juan keine Gelegenheit zu einer weiteren spit

zen Bemerkung geben. Der Tag war ohnehin schon

halb verdorben. »Ärger?« fragte Chris, als Mike neben ihm anlangte. Mike zuckte mit den Achseln. »Das Übliche«, antwor

tete er. »Juan.« »Mach dir nichts draus«, sagte Chris. »Er kocht vor

Wut, die Ferien im Internat verbringen zu müssen, und sucht jemanden, an dem er seinen Zorn auslassen kann. Er war schon immer ein Blödmann.« Mike lachte leise. Wahrscheinlich hatte Chris recht. Das Dumme war nur, daß Juans Bemerkung ihn unsicher gemacht hatte. Aber weshalb hätte Winterfeld sie zu einem Besuch auf der LEOPOLD einladen sollen, wenn sie gar nicht hier war? Und außerdem... Als wären seine Gedanken das Stichwort gewesen, ertönte in diesem Moment das gedämpfte Tuckern eines Dieselmotors, und als Chris und Mike sich herumdrehten und in die Richtung sahen, aus der das Geräusch kam, erblickten sie eine weißgestrichene Barkasse, die genau auf sie zuhielt. Das Boot war viel kleiner, als Mike erwartet hatte, und der kurze Flaggenmast an seinem Heck war leer; auch konnte Mike weder einen Namen noch irgendeine andere Bezeichnung am Bug des Bootes entdecken. Trotzdem zweifelte er keine Sekunde daran, daß dies die Barkasse war, die sie zur LEOPOLD bringen sollte. »Na also«, sagte McIntire, »da kommt das Boot ja. Es besteht also gar kein Grund zur Aufregung.« Gemeinsam mit Miß McCrooder -die übrigens ganz gegen ihre sonstige Art bisher kaum ein Wort gesprochen hatte -scheuchte er Juan und die beiden anderen vor sich her zum Wasser. Das Boot kam schnell näher. Mike sah, daß sich mit Ausnahme des Steuermannes, der hinter dem blinden Glas des Ruderhauses nur als verschwommener Schemen zu erkennen war, noch zwei weitere Matrosen an Bord befanden; Männer mit schwarzen Pudelmützen und schweren Arbeitsjacken. Er war ein wenig enttäuscht, daß weder Kapitän Winterfeld selbst noch Paul mitgekommen waren, um sie abzuholen. »Auf dem Kahn brauchen wir Stunden, um das Schiffzu erreichen«, maulte Juan. McIntire warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment geschah etwas, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog: Am anderen Ende der Straße wurden aufgeregte Stimmen laut, und als Mike sich umdrehte, sah er, daß die Arbeiter, die vorhin Kisten von dem Lastkarren in den Schuppen transportiert hatten, in eine lautstarke Auseinandersetzung mit einem Fremden verstrickt waren. Sehr schnell wurde aus der Debatte eine heftige Rangelei: »He!« rief Ben. »Da ist was los! Kommt, das sehen wir uns an!« Er wollte loslaufen, aber McIntire ergriff ihn mit einer schnellen Bewegung am Arm und hielt ihn zurück. »Nichts da!« sagte er scharf. »Ihr bleibt schön hier! Das fehlt mir noch, daß ich euren Eltern erklären muß, wieso ihr in eine Hafenschlägerei verwickelt worden seid!« Ben machte ein enttäuschtes Gesicht, aber er versuchte nicht, sich aus McIntires Griff zu lösen, sondern trat gehorsam wieder zurück. McIntires Besorgnis war berechtigt -die Rauferei hatte sich in eine ordentliche Schlägerei verwandelt. Schreie wurden laut, und Mike sah, wie sich gleich vier Männer auf einmal auf den Fremden stürzten, um ihn niederzuringen. Sein Schrecken wandelte sich schon nach wenigen Sekunden in Erstaunen, als er sah, wie erfolgreich sich der Mann zur Wehr setzte. Natürlich konnte er die vierfache Übermacht seiner Gegner nicht wirklich besiegen; so etwas klappte vielleicht in Büchern, aber selten in Wirklichkeit. Doch er hielt sich tapfer. Die vier Burschen hatten ihn eingekreist und attackierten ihn mit Boxhieben und Tritten, aber irgendwie gelang es ihm immer wieder, den Angriffen auszuweichen und selbst mit blitzschnellen Schlägen zu kontern, die mehr als einmal einen der Angreiferzu Boden schickten. Dabei war er nicht besonders groß oder von kräftigem Wuchs. Der Mann, der schwarzes Haar und einen dunklen Teint hatte, war schlank und nur von durchschnittlicher Größe. Aber er bewegte sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit und so schnell, daß Mike einige der Hiebe, die er seinen Gegnern versetzte, nicht einmal richtig sah. Trotzdem wurde der Fremde mehr und mehr in die Enge getrieben, und am Ausgang des ungleichen Kampfes bestand kein Zweifel. Die Übermacht war zu groß. »Jemand sollte ihm helfen«, sagte Juan plötzlich. »Vier gegen einen ist nicht fair.« »Nichts da!« antwortete McIntire streng. »Ihr bleibt hier, verstanden? Habt ihr Lust, da hineingezogen zu werden und den Rest des Tages auf einer Polizeiwache zu verbringen statt auf dem Schiff?« Nervös sah er sich nach der Barkasse um. Das Boot war mittlerweile näher gekommen und begann träge auf der Stelle zu wenden, um am Kai längsseits zu gehen. Einer der beiden Matrosen hatte eine Planke ergriffen, der andere stand im Bug des Bootes und sah neugierig der Prügelei auf dem Kai zu. Auch Mike blickte wieder zum Schuppen hin. Der Kampf war mittlerweile entschieden. Der Fremde war zu Boden gegangen, und zwei der Burschen waren gerade dabei, seine Arme zu packen und festzuhalten, während ein dritter neben ihm stand und ihm mehr

mals hintereinander fest in den Leib trat. Plötzlich kam sich Mike erbärmlich feige vor, einfach dazustehen und tatenlos zu bleiben. »Wir müssen doch irgend etwas tun«, sagte er. »Sie bringen ihn um.« »Unsinn!« antwortete McIntire. »So schnell bringt man niemanden um. Wer weiß, was er getan hat.« Aber er sah nicht so drein, als wäre er von seinen eigenen Worten überzeugt, und nach einem Zögern fügte er hinzu: »Ich werde die Angelegenheit melden, sobald wir zurück sind.«Mike starrte den Direktor von Andara-House verblüfftan. Bis sie zurück waren, würde es später Nachmittag sein, wenn nicht Abend. Was um alles in der Welt glaubte McIntire dann noch melden zu können? Er kam nicht dazu, etwas zu sagen, denn in diesem Moment hatte die Barkasse das Ufer erreicht. Der Bootsrumpf schlug mit einem dumpfen Laut gegen den Kai, und im selben Moment wurde die Planke zu ihnen heruntergeworfen; der zweite Matrose sprang von Bord und wickelte das Ende eines handstarken Taues um einen der eisernen Poller, die in regelmäßigen Abständen über dem Ufer aufragten. »Beeilt euch«, sagte McIntire mit einer ungeduldigen Geste. »Wir haben genug Zeit verloren.« Als keiner der Jungen reagierte, trat Miß McCrooder als erste auf die schmale Planke, um mit kleinen, vorsichtigen Schritten zum Boot überzuwechseln. Sie wirkte sehr nervös, und Mike war sicher, daß das nicht nur an dem schmalen Steg lag, über den sie balancieren mußte. Auf ihrem Gesicht lag ein angespannter Ausdruck. Von ihrer gewohnten Fröhlichkeit war nichts mehr zu entdecken, und jetzt fiel ihm auch wieder ein, wie schweigsam sie auf dem Weg hierher gewesen war. Juan stemmte die behandschuhten Fäuste in die Hüften und maß das Boot mit einem stirnrunzelnden Blick. »Keine Hoheitszeichen«, sagte er mürrisch. »Sie haben den Namen und die Kennung überpinselt, seht euch das an. Was soll denn der Unfug?« »Juan, Ben - bitte«, seufzte McIntire. »Laßt euch doch nicht zu jeder einzelnen Bewegung auffordern! Wenn ihr hierbleiben wollt, dann sagt es, und wir fahren auf der Stelle ins Internat zurück!«

Das gab den Ausschlag. Die beiden beeilten sich, hinter Miß McCrooder in die Barkasse hinabzusteigen, und auch André und Chris-und nach einem letzten Blick die Straße hinunter schließlich auch Mike folgten ihnen. Mike fühlte sich noch immer schlecht. Der Kampf war vorbei, und die vier Burschen schleiften jetzt den wehrlos daliegenden Mann grob auf den offenstehenden Schuppen zu. Gott allein mochte wissen, was sie dort drinnen mit ihm anstellen würden, Mike verstand McIntire einfach nicht. Es war gut möglich, daß die Männer den Fremden umbrachten - und er tat so, als ginge sie das alles nichts an! McIntire sprang als letzter in das Boot hinein, und schon wurde die Planke wieder eingezogen, und der zweite Matrose löste das Tau, das er noch nicht einmal richtig befestigt gehabt hatte. Der Bootsrumpf erzitterte sacht unter ihren Füßen, als sich die Barkasse vom Ufer trennte und den stumpfen Bug wieder in die Richtung drehte, aus der sie gekommen war. Mike sah ein letztes Mal zum Ufer zurück. Das Boot drehte sich immer weiter, so daß der Lagerschuppen rasch außer Sicht geriet. Von den vier Männern und ihrem Opfer war nichts mehr zu entdecken. Doch als Mike sich wieder umwandte, sah er, daß Miß McCrooder angespannt in die gleiche Richtung blickte wie er und der Ausdruck auf ihrem Gesicht noch ernster ge

worden war. McIntire hatte das kleine Ruderhaus betreten und unterhielt sich halblaut, aber heftig mit

dem Steuermann. Und auch er deutete immer wieder zurück; zum Ufer und in die Richtung, in der der Lagerschuppen lag. Plötzlich hatte Mike das sichere Gefühl, daß hier irgend etwas nicht stimmte.

Er sollte recht behalten. Als sie sich weiter in das Hafenbecken hineinbeweg

ten, wurde es empfindlich kalt. Vom Wasser stieg ein eisiger Hauch empor, und während ihnen am Ufer die Lagerschuppen noch ein wenig Schutz vor dem Wind gewährt hatten, schlug er ihnen nun eisig ins Gesicht, so daß Mike nicht der einzige war, der fröstelnd die Hände in den Jackentaschen vergrub und den Kopf einzog. Das Boot nahm Kurs auf die Themsemündung und wurde nur wenig schneller. Wenn sie die ganze Strecke bis zur LEOPOLD in diesem Schneckentempo zurücklegten, dachte Mike, dann konnte es Mittag werden, ehe sie das Schiff auch nur sahen. Er ging zum Bug des Bootes, blieb jedoch sofort wieder stehen, als er Juan, Ben und André gewahrte, die dort vorne standen und sich lautstark über das Boot und den bevorstehenden Besuch auf der LEOPOLD unterhielten, wobei sie an beiden kein gutes Haar ließen. Mike war für einen Moment nahe daran, ihnen gehörig die Meinung zu sagen. Aber wenn er Juan und den anderen jetzt auch noch einen Vorwand lieferte, tatsächlich einen Streit vom Zaun zu brechen, dann war dieser Tag, auf den er sich so gefreut hatte, vermutlich gar nicht mehr zu retten. Also machte er kehrt, trat an die Reling und sah auf das Wasser hinab, das sich schäumend am Bug brach. Das Boot war tatsächlich erst vor ganz kurzer Zeit gestrichen worden, wie er beiläufig registrierte. Allerdings war das noch lange kein Grund, dachte er, gleich Verschwörung und Verrat zu wittern. Das intensive Gefühl, angestarrt zu werden, ließ Mike aufsehen. Er drehte sich herum und begegnete für eine Sekunde Miß McCrooders Blick. Sie sah noch immer so nervös aus wie vorhin, als sie an Bord gegangen waren. Doch nun gab sie sich einen Ruck, und auf ihren Zügen erschien wieder das gewohnte, freundliche Lächeln.

Das Gesicht aus dem Wind gedreht, trat sie neben ihn, steckte die Hände unter die Achseln und schauderte übertrieben. »Ich wußte gar nicht, daß es auf dem Wasser so kalt ist«, sagte sie. »Hoffentlich gibt es auf Kapitän Winterfelds Schiff eine vernünftige Heizung.« Mike lächelte höflich, sagte aber nichts, sondern blickte Miß McCrooder nur aufmerksam von der Seite her an. Sie gab sich große Mühe, sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen, doch ihr Blick huschte unentwegt über das Wasser, und ihre Haltung verriet eine Anspannung, die nicht allein auf die Kälte zurückzuführen war. Vor ihnen verbreiterte sich nun die Fahrrinne, und rechts und links des Beckens erhoben sich Schuppen und Gebäude in monotoner Gleichförmigkeit. Mike gewahrte nirgends irgendeine Bewegung oder gar Menschen. Nur von rechts näherte sich ein Schlepper, ein wahres Ungetüm aus rostigem Eisen und Holz, dessen Umrisse eher an einen schwimmenden Berg erinnerten als an ein Schiff. Mike verlängerte den Kurs des Schiffes in Gedanken und stellte fest, daß es ihnen ziemlich nahe kommen mußte, wenn sie ihre momentane Geschwindigkeit beibehielten. »Ich hätte doch meinen Mantel anziehen sollen«, sagte Miß McCrooder und seufzte. »Aber was tut man nicht alles aus Eitelkeit.« Mike sah sie abermals an und stellte fest, daß sie tatsächlich am ganzen Leib zitterte und kreidebleich geworden war. »Soll ich Ihnen meinen Schal leihen?« fragte er mitfühlend. Miß McCrooder zögerte eine Sekunde, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Ich ... wenn ich ehrlich sein soll

- ich fürchte mich.« »Wovor?« fragte Mike verwirrt.

»Na, vor allem hier«, gestand sie verlegen. »Wasser macht mich nervös. Ich bin noch nie gerne auf Schiffen gewesen. Sie machen mir angst. Ich weiß zwar, daß es Unsinn ist, aber ich habe immer das Gefühl, daß sie jeden Augenblick untergehen müssen. Jetzt wirst du wahrscheinlich über mich lachen und mich für eine zimperliche alte Jungfer halten.« »Bestimmt nicht«, sagte Mike, und er meinte das auch so. Er wußte, daß jeder Mensch seinen schwachen Punkt hatte; irgend etwas, das ihm einfach angst machte, ob es nun begründet war oder nicht. »Bestimmt nicht«, sagte er. »Ich verstehe das. Bei mir sind es große Höhen, wissen Sie? Mir wird schon schwindelig, wenn ich aus dem Fenster im dritten Stock sehe.« Miß McCrooder sah ihn eine Sekunde lang zweifelnd an. Plötzlich lächelte sie. »Ich glaube dir zwar kein Wort«, sagte sie, »aber es ist trotzdem nett gemeint.« Mike lächelte ein wenig verlegen. Er fühlte sich ertappt. Seine Worte waren zwar nicht gelogen gewesen, wohl aber gehörig übertrieben. Mike war tatsächlich nicht schwindelfrei, aber es gehörten schon ein wenig mehr als zwei Treppen dazu, ihm den Schweiß auf die Stirn zu treiben. Doch Miß McCrooder verstand die gute Absicht, die hinter seinen Worten steckte, denn sie lächelte abermals, ehe sie sich wieder herumdrehte und aufs Wasser hinaussah. Sie näherten sich der Themsemündung jetzt schneller, aber auch der Schlepper war deutlich näher gekommen und bewegte sich genau auf sie zu. Er war nicht sehr schnell, und die kleine Barkasse würde ihm mit Leichtigkeit ausweichen können. Sie machte jedoch keine Anstalten dazu. Mike blickte erstaunt zum Ruderhaus hinüber, und im selben Augenblick rief einer der Matrosen dem Steuermann etwas zu, worauf dieser auch reagierte: er hörte auf, mit McIntire zu diskutieren, und drehte hastig am Steuerruder. Mike registrierte, daß der Matrose nicht englisch gesprochen hatte. Das Boot begann unter ihren Füßen zu bocken, als es schwerfällig seinen Kurs änderte, um dem Schlepper auszuweichen. Allerdings nicht sehr weit. Sie würden dem großen Schiff trotz allem gefährlich nahe kommen. »Ist der Kerl verrückt geworden?« fragte Juan. Damit meinte er den Steuermann, der das näher kommende Schiff scharf im Auge behielt, während er immer hektischer am Ruder drehte. Der Erfolg ließ allerdings zu wünschen übrig, fand Mike. Sie näherten sich dem riesigen Schlepper zwar jetzt im Zickzack, was aber nichts daran änderte, daß

sie sich ihm immer noch näherten. Auch McIntire redete mit schriller Stimme auf den Steuermann ein, wobei er immer wieder auf den Schlepper deutete; mit dem einzigen Ergebnis wahrscheinlich, dachte Mike, daß er den Mann noch nervöser machte. Er sah wieder nach vorne. Juan, Ben und André waren instinktiv ein Stück vom Bug zurückgewichen, und Miß McCrooder hatte den kleinen Chris schützend an sich gepreßt. Der Matrose tat etwas, was Mike völlig sinnlos vorkam: Er zog seine Jacke aus, obwohl es schneidend kalt war. Natürlich waren sie nicht wirklich in Gefahr. Ihre Kursänderung war vielleicht nicht dramatisch, aber Mike erkannte bald, daß sie durchaus reichte, sie in geringer Entfernung an dem größeren Schiff vorbeizubringen. Sie würden ein bißchen durchgeschüttelt werden, das war alles. Doch es kam anders. Sie hatten sich dem Schlepper auf weniger als fünfzig Meter genähert, als dieserplötzlich den Kurs änderte. Sein gewaltiger, runder Bug schwenkte in einer träge wirkenden Bewegung herum - und zielte mit einem Mal genau auf die kleine Barkasse! Mikes überraschtes Keuchen ging in den Schreckensschreien der anderen unter. Juan, Ben und André begannen wild und ziellos durcheinanderzulaufen, während Miß McCrooder stocksteif und mit entsetzt vor das Gesicht geschlagenen Händen dastand und aus Leibeskräften schrie. Der Matrose, der seine Jacke ausgezogen hatte, war mit zwei gewaltigen Schritten auf der anderen Seite des Schiffes und sprang kurzerhand über Bord, und Mike hörte, wie hinter ihm die Tür des Ruderhauses aufgerissen wurde und McIntire irgend etwas schrie. Doch auch er selbst stand da und starrte das näherkommende Schiff an, als könnte er einfach nicht glauben, was er sah. Das Schiff schien plötzlich mit unheimlicher Schnelligkeit auf sie zuzuschießen. Mike sah, wie sich das Wasser schäumend an seinem Bug brach, der immer größer und größer zu werden schien, bis er den ganzen Himmel vor ihnen ausfüllte und immer noch größer wurde. Dann kam der Aufprall. Mike versuchte, sich dagegen zu wappnen, doch der Schlag war hundertmal schlimmer, als er erwartet hatte. Die kleine Barkasse wurde wie von einem Axthieb in zwei Teile gespalten und zugleich auf die Seite geworfen, und Mike selbst fühlte sich wie von einer unsichtbaren Hand gepackt und hoch in die Luft geschleudert. Die Schreie der anderen gingen im Bersten und Splittern des auseinanderbrechenden Bootes unter, während Mike sich zweimal in der Luft überschlug und dann auf das Wasser hinabstürzte. Eine Sekunde, bevor er aufschlug, sah er, wie sich der Bug der in zwei Teile zerschmetterten Barkasse aufbäumte und seine Passagiere abschüttelte wie ein bockendes Pferd, während das Heck vom Bug des Schleppers wie von einer eisernen Faust unter Wasser gedrückt wurde und sprudelnd versank. Die Wucht seines Sturzes schien die Wasseroberfläche in eine Glasscheibe verwandelt zu haben, durch die er mit grausamer Kraft hindurchgeprügelt wurde. Er hatte das Gefühl, sich jeden einzelnen Knochen im Leib gebrochen zu haben, aber noch schlimmer war die Kälte, die mit dem Wasser über ihm zusammenschlug und eine Million glühender Nadeln in seine Haut zu bohren schien. Um ein Haar hätte er aufgeschrien, was hier unter Wasser vermutlich seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Sein Herz setzte tatsächlich für eine Sekunde aus, ehe es mit solcher Kraft und so schnell weiterhämmerte, daß er es bis in die Finger- und Zehenspitzen fühlen konnte. Mike sank tiefer. Die Wucht seines Sturzes hatte ihn sicher zwei Meter ins Wasser hinabgedrückt, und seine Kleider begannen sich sofort mit Wasser vollzusaugen. Und plötzlich erschien über ihm ein gigantischer schwarzer Schatten, und das Wasser war mit einem Male von einem dumpfen Brausen und Rauschen erfüllt. Der Schlepper, der die Barkasse wie ein Spielzeugschiffchen versenkt hatte, fuhr nun direkt über ihn hinweg! Mike begriff die Gefahr, in der er schwebte, im allerletzten Moment. Obwohl er schon jetzt an Atemnot litt, drehte er sich herum und versuchte mit verzweifelter Kraft weiter zu tauchen, um dem Verhängnis zu entgehen, das über ihm herangerast kam. Der muschelbesetzte Rumpf des Schiffes verfehlte ihn nur um

Zentimeter, und die Druckwelle preßte ihn noch wei

ter nach unten, rettete ihm aber wohl auch zugleich

das Leben, denn schon die geringste Berührung des Schiffsrumpfes, der mit seinem Panzer aus Muschelkalk wie ein übergroßes Reibeisen wirken mußte, hätte ihn wahrscheinlich auf der Stelle getötet oder ihm zumindest entsetzliche Verletzungen zugefügt. Aber die Gefahr war noch keineswegs vorüber. Mikes Atem wurde wirklich knapp, und die Kälte begann seine Muskeln zu lahmen. Es war ihm gelungen, nicht nur nach unten, sondern auch ein Stück zur Seite wegzuschwimmen, so daß er an die Oberfläche hätte zurücktauchen können, ohne Gefahr zu laufen, vom Schiff oder gar der rasenden Schraube an dessen Heck erfaßt zu werden. Mike trat aus Leibeskräften Wasser und bewegte wild die Arme, doch statt sich wieder nach oben zu bewegen, sank er im Gegenteil immer schneller in die Tiefe, wobei er sich langsam um seine eigene Achse drehte. Seine Kleider -vor allem die dicke, pelzgefütterte Jacke -hatten sich mittlerweile so mit Wasser vollgesogen, daß sie ihn wie steinerne

Gewichte in die Tiefe zerrten. Er mußte aus der Jacke heraus! Ungeschickt begann Mike, die Knöpfe zu öffnen und das schwere Kleidungsstück abzustreifen, während er

immer noch weiter sank. Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Ihm blieben nur noch Sekunden, bis er entweder das Bewußtsein verlor oder die Atemnot so schlimm wurde, daß er den Mund öffnete und einfach zu atmen

versuchte - und das wäre dann das sichere Ende.

Vor ihm bewegte sich etwas. Ein Schatten schoß durch den Vorhang aus silbernen Luftperlen auf ihn zu, der ihn umgab, und für eine Sekunde glaubte Mike, in ein riesiges, bizarres Zyklopengesicht zu blicken, aus dem ihn ein einzelnes, ausdrucksloses Auge anstarrte. Gewaltige Hände, viel zu groß für einen Menschen und mit nur drei Fingern, streckten sich nach ihm aus. Of

fensichtlich hatte er schon Halluzinationen.

Im buchstäblich allerletzten Moment gelang es ihm, sich von der Jacke zu befreien. Sie sank wie ein Stein auf den Grund des Hafenbeckens hinab, der jetzt nur noch drei oder vier Meter unter ihm lag, während Mike mit wilden Schwimmbewegungen wieder in die Höhe schoß. Die Wasseroberfläche näherte sich ihm wie ein zitternder Silberspiegel, aber der Druck in seiner Brust wurde immer stärker, überstieg die Grenzen des Erträglichen und dann konnte er atmen. Mike schoß, von seinem eigenen Schwung getragen, aus dem Wasser heraus, klatschte zurück und sog gierig die Lungen voller frischer, herrlich kühler Luft. Er war dem Tode buchstäblich um einen Atemzug entronnen. Für eine ganze Weile tat Mike nichts anderes, als mühsam Wasser tretend auf der Stelle zu schwimmen und zu atmen, ehe er wieder so weit bei Bewußtsein war, daß er den Kopf heben und sich umsehen konnte. Der Anblick, der sich ihm bot, war schrecklich. Der Schlepper war weitergefahren und machte nicht einmal Anstalten, beizudrehen oder auch nur seine Geschwindigkeit zu verringern. Auf dem Wasser schwammen Hunderte von Trümmerstücken; allen voran das vordere zerschmetterte Drittel der Barkasse, das kieloben trieb, aber nicht sank, und dazwischen erblickte er die Köpfe der anderen, die wie Korken auf dem aufgewühlten Wasser hüpften. Er hörte Juan und Miß McCrooder schreien, und gleich darauf erkannte er auch Ben, Chris und schließlich auch André. Von McIntire und den drei Besatzungsmitgliedern der Barkasse war keine Spur zu entdecken. Mike hoffte inständig, daß sie nicht ertrunken oder bei dem Zusammenstoß ums Leben gekommen waren. Doch auch er selbst befand sich keineswegs außer Ge

fahr. Zwar konnte er sich im Moment mühsam an der Oberfläche halten, aber die Kälte drang weiter in seinen Körper ein und lahmte seine Muskeln. Er wußte, daß er nicht die Kraft haben würde, bis zum Ufer zurückzuschwimmen. Also hielt er nach einem größeren Trümmerstück Ausschau und kraulte los. Etwas zupfte an seinem Bein, und Mikes Herz machte einen erschrockenen Sprung in seiner Brust. Plötzlich mußte er wieder an das Zyklopengesicht denken, das er für eine Sekunde zu sehen geglaubt hatte. Er bemühte sich, noch schneller zu schwimmen. Nur ein kleines Stück von ihm entfernt tauchte Juan auf und nahm Kurs auf das gleiche Trümmerstück. Der junge Spanier hatte tatsächlich die Kraft, den Arm aus dem Wasser zu heben und ihm zuzuwinken. Wieder berührte etwas seinen Fuß. Mike sah nach hinten - und schrie entsetzt auf! Es war keine Halluzination gewesen! Aus dem Wasser tauchte eine dreifingrige Pranke auf und schmiegte sich um sein rechtes Fußgelenk, und dann wurde er auch schon mit einem so harten Ruck in die Tiefe gezerrt, daß er wieder aufschrie und seine kostbare Atemluft in einem Strom silberner Blasen vor seinem

Gesicht in die Höhe stieg. Unbarmherzig wurde er weiter nach unten gezerrt. Mike schlug und trat wie von Sinnen um sich. Sein freier Fuß traf den Kopf des riesenhaften Ungeheuers, das sein rechtes Bein umklammert hielt, mehrmals

hintereinander, aber ohne das allergeringste Ergebnis. Im Gegenteil - es war, als hätte er gegen Stahl getreten. Ein scharfer Schmerz zuckte durch seinen

Fuß.Alles begann sich um Mike zu drehen. In seinen Ohren rauschte das Blut, und sein Herz pochte so hart, als

wollte es aus seiner Brust herausspringen. Sein Blick

begann sich zu verschleiern. Wie durch einen immer dichter werdenden Nebel sah er, daß plötzlich ein zweites, zyklopenäugiges Ungeheuer neben ihm auftauchte und die Hände ausstreckte. Etwas Dunkles, Unförmiges näherte sich seinem Gesicht. Mike erkannte nicht mehr, was es war. Er verlor das Bewußtsein. Seine Arme und Beine hörten auf, wild durch das Wasser zu peitschen, während sein Körper reglos auf den schlammbedeckten Grund des Hafenbeckens hinabsank.

Wenn er gestorben war, dann war der Tod vollkommen anders, als man ihn sich im allgemeinen vorstellte. Mike erwachte nicht auf Wolken gebettet und zu den Klängen einer himmlischen Laute, sondern auf einer unbequemen Pritsche aus Metall liegend, und in seinen Ohren war das Dröhnen eines schweren Motors. Der Geruch von heißem Öl und frischer Farbe lag in der Luft, und er hatte erbärmliche Kopfschmerzen. Nein -im Himmel war er nicht. Mike öffnete stöhnend die Augen und blickte gegen eine Decke aus weißgestrichenem Metall, von der hier und da schon die Farbe abblätterte. Das nächste, was er sah, war Miß McCrooders Gesicht, aus dem ein Paar dunkler, sehr besorgter Augen auf ihn herabblickte. Ihr Haar war naß, und sie trug nicht mehr das wollene Winterkleid und die modische, allerdings viel zu dünne Jacke, sondern war in eine grobe graue Decke eingehüllt. Sie zitterte am ganzen Leib. Mike richtete sich mit einem so plötzlichen Ruck auf, daß ihm prompt schwindelig wurde und er mit einem Stöhnen wieder zurücksank. Seine Kopfschmerzen wurden schlimmer. Ertrinken war offensichtlich kein sehr angenehmer Tod, dachte er. Wenigstens nicht, wenn man ihn überlebte.

»Beweg dich nicht«, sagte Miß McCrooder. »Du wärst fast ertrunken, weißt du das?« Die Warnung kommt ein wenig spät, dachte Mike, während er mit zusammengebissenen Zähnen darauf wartete, daß seine Kopfschmerzen wieder auf ein erträgliches Maß sanken. Dann setzte er sich ein zweites Mal auf; diesmal aber entsprechend vorsichtiger. Er sah, daß sie sich in einem winzigen Raum befanden, der keine Fenster hatte und kaum Platz für sein Bett und den niedrigen Hocker bot, auf dem Miß McCrooder saß. Wände, Decken und Fußboden bestanden aus Metall. Offensichtlich waren sie an Bord eines Schiffes.

»Wo sind wir?« murmelte er verwirrt. »Wie sind wir hierhergekommen, und wie -« Plötzlich funktionierten seine Erinnerungen wieder, und Mike fuhr erschrocken zusammen. »Haben die Ungeheuer Sie auch erwischt?« stieß er hervor. »Und was ist mit den anderen?« »Ungeheuer? Was für Unge -« Miß McCrooder verstummte mitten im Wort, dann lächelte sie kurz. »Ja, vermutlich könnte man sie so nennen«, fuhr sie fort. Sie seufzte. »Wo wir sind, kann ich dir auch nicht genau sagen. Aber deine Freunde sind ganz in der

Nähe.«

Nun verstand Mike überhaupt nichts mehr. Doch bevor er eine entsprechende Frage stellen konnte, wurde die Tür ihres Gefängnisses geöffnet, und eine hochgewachsene Gestalt in dunkelblauer Kapitänsuniform betrat den Raum. Hinter ihm erschienen zwei Matrosen in gestreiften Hemden, die aber nicht hereinka

men.

Mike riß erstaunt die Augen auf, als er den Mann erkannte. »Kapitän Winterfeld!« rief er. »Gott sei Dank,

daß Sie -«

Er sprach nicht weiter, als er den Ausdruck auf Winterfelds Gesicht gewahrte. Allmählich dämmerte ein schrecklicher Verdacht in ihm. Dafür fuhr Miß McCrooder wütend auf ihn los. »Sie Wahnsinniger! Wissen Sie, daß er um ein Haar ums Leben gekommen wäre? Es ist ein reines Wunder, daß wir nicht alle umgekommen sind!« »Ich weiß«, antwortete Winterfeld. »Ich bedauere die Umstände. Glauben Sie mir, daß ich andere Befehle erteilt hatte. Niemand sollte in Gefahr gebracht werden.« »Das haben wir gemerkt«, sagte Miß McCrooder spitz. »Die Verantwortlichen werden bestraft werden«, sagte Winterfeld ruhig. »Darüber hinaus kann ich Ihnen versichern, daß niemand ernstlichen Schaden genommen hat.« Er wandte sich zu Mike. »Nun zu dir, mein junger Freund. Fühlst du dich in der Lage, ein paar Fragen zu beantworten?« »Ist das ... wahr?« flüsterte Mike fassungslos. »Stimmt das, daß Sie hinter allem stecken?« Er konnte es nicht glauben. Nicht Kapitän Winterfeld! Warum um alles in der Welt sollte ausgerechnet Kapitän Winterfeld versuchen, sie umzubringen? »Ich sehe, du bist in der Lage dazu«, sagte Winterfeld kalt, ohne auf seine Frage einzugehen. »Dann komm mit!« Mike schwang die Beine von der Liege. Sich zu widersetzen hatte nach alledem wohl kaum einen Sinn. Auch Miß McCrooder wollte sich erheben, doch Winterfeld winkte ab. »Ich denke, Michael und ich kommen für einen Moment allein klar«, sagte er. »Danke.« Sie verließen die Kabine und traten auf einen schmalen Gang hinaus. Das Pochen schwerer Maschinen wurde lauter, und Mike, der wie Miß McCrooder statt seiner nassen Sachen nur eine grobe Wolldecke trug,

spürte ihr mächtiges Vibrieren durch die nackten Fußsohlen hindurch wie das Schlagen eines großen, eisernen Herzens. Auch hier gab es keine Fenster. Das Licht kam von einer Anzahl elektrischer Glühbirnen unter der Decke. Mike fragte sich, wo sie waren, Winterfelds Anblick hatte ihn im ersten Moment glauben lassen, er wäre an Bord der LEOPOLD aufgewacht -aber dafür war hier alles viel zu klein und beengt und die Luft zu stickig. Der Korridor war nicht sehr lang. Mehrmals mußten sie sich durch niedrige, aus schweren Eisenplatten bestehende Türen ducken, doch Mike begriff erst, wo sie sich befanden, als sie an einer offenstehenden Tür vorbeikamen - und er sich unversehens den beiden Ungeheuern gegenübersah, auf die er im Hafen gestoßen war! Sie waren noch größer, als er geglaubt hatte, gute zwei Meter, und mit einer unglaublichen Schulterbreite. Ihre Haut war rauh wie gegerbtes Leder, die Köpfe selbst für die riesigen Gestalten viel zu groß und kugelrund, und sie hatten tatsächlich nur ein einziges, wenn auch gute zwanzig Zentimeter durchmessendes Auge. Und natürlich waren es keine Riesen oder irgendwelche Ungeheuer. In der kleinen Kammer, in die Mike blickte, hingen zwei Taucheranzüge; schwere, Rüstungen mit wuchtigen Kupferhelmen, in die eine runde Glasscheibe eingelassen war. Und im selben Augenblick, in dem Mike dies begriff, wußte er auch, wo er war. »Das ... das ist ein Unterseeboot!« sagte er erstaunt. »Wir sind aufeinem Tauchboot, nicht wahr?« Kapitän Winterfeld lächelte anerkennend. »Ich habe immer gewußt, daß du ein kluger Bursche bist«, sagteer.Sie gingen weiter, durchquerten einen runden, mit allerlei technischen Apparaturen vollgestopften Raum, der wohl die Brücke des Tauchbootes darstellte, und betraten schließlich eine winzige Kabine, die gerade Platz für ein Bett, einen Stuhl und einen Schreibtisch bot. Winterfeld setzte sich und schickte die beiden Matrosen fort. Mike mußte stehen bleiben, allerdings nicht aus Unhöflichkeit: die Kabine war einfach nicht groß genug für einen zweiten Stuhl. »Schließ die Tür, Michael«, sagte Winterfeld. »Mein Name ist Mike«, sagte Michael ärgerlich, »nicht Michael.« Trotzdem tat er, was Winterfeld von ihm verlangte. »Nein«, antwortete Winterfeld mit einem sonderbaren Lächeln, »das ist er nicht. Aber dazu später.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und maß Mike mit einem nachdenklichen Blick. »Ich will es kurz machen«, begann er schließlich. »Ich habe dich entführen lassen, weil ich etwas Bestimmtes von dir will. Ich nehme an, du weißt nicht, daß dein Vater bei einem Notar in London Papiere für dich hinterlegt hat, die dir an deinem einundzwanzigsten Geburtstag übergeben werden sollen. Ich bin nun in den Besitz dieser Dokumente gelangt -wie, das ist jetzt nebensächlich.« Er senkte den Blick auf den mit Papieren und Blättern übersäten Schreibtisch, und Mike versuchte zu erkennen, was auf ihnen geschrieben stand. Die meisten Blätter waren eng mit einer unleserlichen Handschrift bekritzelt und schienen außer Text auch eine Unzahl komplizierter Formeln und Glei

chungen zu enthalten. Bei einigen wenigen Blättern handelte es sich ganz offensichtlich um Seekarten.

»Wie es scheint«, fuhr Winterfeld nach einer kurzen

Pause fort und seufzte, »nützen mir diese Papiere allein gar nichts. Dein Vater hat sie nämlich in einem Code abgefaßt, den wohl nur du lesen kannst. Du verstehst jetzt mein Problem?« »Ja«, antwortete Mike, »aber ich muß Sie enttäuschen. Ich weiß nichts von einem Code.« Er nahm eines der Blätter zur Hand und studierte es ein paar Sekunden lang aufmerksam. Dann verbiß er sich mit Mühe ein Grinsen. Tatsächlich war die Schrift scheinbar unleserlich - aber eben nur scheinbar. Was Winterfeld für einen Code hielt, das war nichts anderes als Sanskrit, die indische Schrift, deren Buchstaben dem unkundigen Auge tatsächlich wie die verschlungenen Symbole einer Geheimschrift erscheinen mochten. Es handelte sich um einen kaum bekannten -und fast ausgestorbenen -Dialekt. Sein Vormund hatte darauf bestanden, daß er ihn lernte, und bis zu diesem Moment hatte Mike niemals eingesehen, wozu das gut sein sollte. Jetzt glaubte er es allmählich zu begreifen. Als er das Blatt wieder senkte, begegnete er Winterfelds Blick, und was er darin las, das ließ ihn seine Schadenfreude auf der Stelle wieder vergessen. »Versuche bitte nicht, mich für dumm zu verkaufen, Michael«, sagte Winterfeld. »Ich weiß sehr wohl, daß diese Papiere in deiner Muttersprache abgefaßt sind. Für so etwas gibt es Dolmetscher, die sie mir mühelos übersetzen. Aber die Dolmetscher sagen, die Texte ergeben keinen Sinn. Sie sind in einem Code abgefaßt.« Mike sah noch einmal genau hin und mußte zugeben, daß Winterfeld recht hatte. Er verstand zwar die Sprache, in der die Papiere abgefaßt waren -aber der Text war trotzdemein einzigesDurcheinander. »Ich weiß wirklich nichts von einem Code«, sagte er. »Ich kann das auch nicht lesen.« »Lüg mich nicht an!« sagte Winterfeld streng. »Dein Vater wird sich kaum all diese Mühe gemacht haben, wenn er wußte, daß du es nicht lesen kannst!« »Vielleicht ... ist er nicht mehr dazu gekommen, mir alles zu erzählen«, meinte Mike. »Er und meine Mutter kamen bei einem Unfall ums Leben, als ich -« »Das weiß ich«, unterbrach ihn Winterfeld ungeduldig. »Er hat diese Papiere ein Jahr vor seinem Tod hinterlegt. Jemand, der so umsichtig ist, wird dann kaum vergessen, dem, für den sie bestimmt sind, die Schlüssel auszuhändigen, oder?« Winterfelds Worte klangen so logisch, daß Mike nicht mehr widersprach. Er fühlte sich hilflos. Er hatte die Wahrheit gesagt, aber er wußte auch, daß Winterfeld ihm gar nicht glauben konnte, so wie die Dinge lagen. Plötzlich fiel ihm etwas ein. »An dem Tag, als Sie Paul abholten, sind meine Sachen durchsucht worden«, sagte er. »Das geschah in Ihrem Auftrag, nicht wahr?« »Ja«, gab Winterfeld ungerührt zu. »Aber nun etwas anderes.« Er beugte sich vor, grub eine Karte aus dem Papierstapel auf dem Tisch aus und hielt sie Mike hin. »Ich nehme an, das hier sagt dir auch nichts?« blaffte er. Mike nahm die Karte zögernd entgegen und studierte sie aufmerksam. Er erkannte, daß es sich um eine Seekarte handelte, die ein Stück einer Küstenlinie und eine Anzahl kleiner Inseln zeigte, aber damit hörte es auch schon auf. Das einzig Auffällige daran war vielleicht das Material, auf dem sie gezeichnet war. Anstelle von Papier hatte der Zeichner dünnes, beinahe durchsichtiges Pergament verwendet, das unter den Fingern knisterte und so brüchig war, daß Mike fast befürchtete, es würde unter seiner Berührung einfach zerkrümeln. Sehr behutsam legte er die Karte auf den Tisch zurück und schüttelte den Kopf.

Winterfeld beherrschte sich jetzt nur noch mühsam. So zornig, als wolle er ein Loch hineinbohren, stieß er mit dem Zeigefinger auf die Karte herab. »Das hier ist Kuba, und diese Linie hier stellt die südamerikanische Ostküste dar. Sagt dir das vielleicht etwas?« »Nein«, antwortete Mike. »Wirklich nicht.« Mike begriff tatsächlich nicht, was all diese Papiere und Karten zu bedeuten hatten. Er wußte zwar, daß sein Vater zweimal im Leben zur See gefahren war, aber doch nur als Passagier auf einem Schiff, um von Indien nach England zu gelangen und zurück. Was sollte er mit all diesen Seekarten und geheimnisvollen Formeln? »Du machst es mir wirklich nicht leicht, Michael«, sagte Winterfeld wütend. »Bei den Papieren war ein Brief deines Vaters an dich, der besagte, daß du diese Karte entschlüsseln kannst. Also sollte deine Vernunft dir sagen, daß es vollkommen sinnlos ist, mich zu belügen. Früher oder später finde ich doch heraus, was diese Karten bedeuten. Einen Unterschied macht es nur für dich und deine Freunde. Mir ist es ziemlich gleich, ob ich euch irgendwo in England wieder an Land setze oder auf einer einsamen Insel in der Karibik.« »Die anderen?« Mike erschrak. »Sie haben die anderen auch entführt?« »Mir blieb keine andere Wahl«, sagte Winterfeld ruhig, »nachdem sich der Kapitän des Schleppers so ungeschickt anstellte, mußte alles auch offiziell nach einem Unfall aussehen. Nur du solltest von den anderen abgesondert und aufgenommen werden. Aber so ... unglückseligerweise hat einer deiner Kameraden den Taucher gesehen.« »Und was haben Sie mit uns vor?« fragte Mike. »Nichts«, antwortete Winterfeld. »Ihr bleibt für eineWeile meine Gäste, das ist alles. Wenige Monate, vielleicht sogar nur noch Wochen.« »Aber ich weiß doch nichts!« protestierte Mike. Winterfeld schüttelte den Kopf und begann die Papiere zusammenzusortieren. »Vielleicht sagst du sogar die Wahrheit«, sagte er etwas ruhiger. »Vielleicht weißt du wirklich nichts. Aber ich bin sicher, daß du herausfinden kannst, was das alles bedeutet. Nun, du wirst Zeit genug haben, darüber nachzudenken. Ich werde dich hierbehalten, bis ich diese Karten entschlüsselt habe -egal, ob allein oder mit deiner Hilfe.«»Ich würde es nicht einmal tun, wenn ich es könnte«, sagte Mike zornig. »Das glaube ich dir sogar«, antwortete Winterfeld. »Und ich verstehe es. Aber wenn dir dein eigenes Schicksal schon gleich ist, dann denk doch wenigstens an deine Freunde.« Mike spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. »Sie sind ein -« Winterfeld hob befehlend die Hand. »Bitte, Michael! Es nutzt keinem von uns, wenn du mich beleidigst. Geh jetzt zurück zu deinen Freunden. Ihr könnt ja gemeinsam darüber nachdenken, ob ihr unbedingt Lust habt, mich und dieses Schiff in die Karibik zu begleiten oder nicht.« Winterfeld machte eine ungeduldige Handbewegung, und Mike wandte sich zur Tür, drehte sich aber wieder zu Winterfeld um. »Darf ich noch eine Frage stellen?« Winterfeld sah von seinen Papieren auf. Er schwieg. »Was ist mit Paul?« fragte Mike. »Hat er von alledem hier gewußt?« »Paul?« Winterfeld lächelte. »Nein. Ich habe ihm erzählt, daß aus dem geplanten Ausflug nichts gewordenist. Er war ziemlich traurig. Aber er weiß nichts. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.«

Miß McCrooder war nicht mehr in der Kabine, als Mike zurückgebracht wurde. Dafür lagen auf der Pritsche trockene, sauber zusammengefaltete Kleider, die Mike anzog, froh, endlich mit mehr als nur einer Decke bekleidet zu sein. Einige Augenblicke später wurde ihm etwas zu essen gebracht, und noch bevor er seine Mahlzeit völlig beendet hatte, nahm das Unterseeboot fühlbar Fahrt auf. Eine Viertelstunde später wurde die Tür geöffnet, und die beiden Matrosen kamen, um ihn abzuholen. Auf dem Weg nach obenbegegnete er auch Miß McCrooder wieder, doch alles ging viel zu schnell, als daß sie Gelegenheit gefunden hätten, auch nur ein Wort miteinander zu wechseln. Ihre Bewacher bugsierten sie zu einer Leiter, über die sie steil in die Höhe und durch einen kurzen, metallenen Turm kletterten.Es war dunkel, als sie aus der Luke herausstiegen. Mike hatte erwartet, an Bord der LEOPOLD gebracht zu werden, doch das Tauchboot war neben einem uralten, rostigen Frachter längsseits gegangen. Obwohl Mike vor Kälte und Aufregung zitterte, sah er sich aufmerksam um, während er über die schmale Strickleiter zum Deck des größeren Schiffes hinaufstieg. Viel gab es allerdings nicht zu entdecken. Es war spät in der Nacht, und sie befanden sich mehr als eine Meile von der Küste entfernt. Winterfeld konnte nicht riskieren, einer Patrouille in die Hände zu fallen. Allein das Risiko, mit diesem Tauchboot die Themse hinauf bis in den Hafen von London zu fahren, mußte ungeheuer groß gewesen sein. Die Geschichte kam Mike immer rätselhafter vor. Natürlich hatte er schon von Unterseebooten gehörtnicht nur die deutsche Kriegsmarine, sondern auch die einiger anderer Staaten verfügten über einige dieser gepanzerten Schiffe, die zwanzig oder auch fünfzig Meter unter der Wasseroberfläche zu fahren vermochten und tagelang dort bleiben konnten, wenn es sein mußte. Ein solches Schiff mußte unvorstellbar kostbar sein. Was um alles in der Welt glaubte Winterfeld in diesen Papieren zu finden, daß er tatsächlich eines dieser Schiffe aufs Spiel setzte, nur um Mike habhaft zu werden? Kräftige Hände streckten sich ihm entgegen und halfen ihm, die letzten anderthalb Meter zu überwinden. Mike wurde wenig sanft auf dem Deck abgesetzt und auf eine Tür zugestoßen, hinter der eine eiserne Treppe steil in die Tiefe führte. Die wenigen Blicke, die er zuvor in die Runde hatte werfen können, bestätigten seinen ersten Eindruck: sie befanden sich auf einem großen, schon etwas betagten Frachter, der durchdringend nach Fisch stank und sichtbar schon bessere Zeiten erlebt hatte. Einige der Aufbauten waren unter Planen versteckt und hatten Formen, die nicht besonders friedlich aussahen, und die Worte, die sich die Matrosen zuwarfen, waren deutsch. Sie wurden die Treppe hinunter und in einen Raum am Ende eines langen Korridors getrieben, wo Mike eine Überraschung erlebte: An einem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes saßen Juan, André und Ben, und in einer Ecke hockte, in eine Decke eingerollt, zitternd und die Knie an den Körper gezogen, aber unverletzt, Chris. Die Wiedersehensfreude hielt sich in Grenzen. Vor allem Juan beschränkte sich darauf, Mike die Hand zu schütteln und sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Und er war auch der erste, der sein Mißtrauen ganz offen in Worte kleidete.

»Wo bist du die ganze Zeit über gewesen?« fragte er. »Uns haben sie alle zusammen hergebracht-schon vor ein paar Stunden übrigens.« Mike überlegte kurz, dann entschloß er sich, die Wahrzeit zu sagen, und erzählte Juan und den anderen, wie es ihm ergangen war. Die Jungen staunten nicht schlecht, aber sie schenkten ihm offensichtlich Glauben. Schließlich hatte zumindest Juan die Taucher ebenfalls gesehen. »Was zum Teufel ist mit diesen Papieren, daß sie so wichtig sind?« fragte Ben, nachdem Mike mit seinem Bericht zu Ende gekommen war. »Ist dir überhaupt klar, was Winterfeld als Deutscher mit unserer Entführung in dieser Zeit riskiert?« »Jetzt ... übertreibst du aber«, sagte Mike stockend. Er fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. So hatte er die Sache noch gar nicht gesehen. »Kaum«, sagte Juan grimmig. Er deutete auf Ben. »Er hat völlig recht. Ich weiß ja, daß Politik dich nicht interessiert, aber im Moment gibt es derartige Spannungen zwischen Großbritannien und dem Deutschen Kaiserreich, daß diese Sache hier leicht ins Auge gehen kann!« Jetzt verspürte Mike einen eisigen Schauer. Wenn Juan recht hatte, dann spielte Winterfeld nicht nur mit seinem und dem Leben der anderen, sondern mit der Existenz ganzer Völker. Aber warum nur? »Findest du nicht, daß es an der Zeit ist, uns verschiedenes zu erklären?« sagte Juan plötzlich. Mike sah ihn verwirrt an. »Was soll das heißen?« »Versuch nicht, uns für dumm zu verkaufen!« antwortete Juan scharf. »Was will Winterfeld von dir, Mike? Immerhin wären wir fast ertrunken deinetwegen. Du könntest uns wenigstens verraten, warum.« »Aber ich weiß es wirklich nicht!« sagte Mike.

»Das reicht jetzt!« fiel Miß McCrooder scharf ein. »Mike hat gesagt, daß er es nicht weiß, und ich glaube ihm. Warum sollte er uns etwas vormachen?« Juan starrte trotzig zu ihr hoch und setzte zu einer Entgegnung an, aber in diesem Moment erhielten sie von unerwarteter Seite Schützenhilfe: Chris, der bis jetzt völlig reglos in seiner Ecke gesessen und scheinbar gar nicht mitbekommen hatte, worum es bei dem Streit überhaupt ging. »Miß McCrooder hat recht!« sagte er heftig. »Laß Mike in Ruhe. Er kann nichts dafür. Um ein Haar wäre er selber ums Leben gekommen-das hast du selbst gesagt.« Juan blinzelte. »So?« fragte er schließlich langgedehnt. »Ja, so!« versetzte Chris zornig. »Außerdem kann uns gar nichts passieren. Spätestens in ein paar Stunden ist bestimmt die Polizei hier und holt uns raus.« »Wie kommst du denn auf die Idee?« erkundigte sich Juan hämisch. »Die wissen doch nicht mal, daß wir hier sind!« »Aber sie wissen, daß wir zur LEOPOLD unterwegs waren«, versetzte Chris mit einem Scharfsinn, den ihm niemand zugetraut hätte. »Wenn wir nicht zurückkommen, dann werden sie sich diesen Winterfeld schon vorknöpfen, da wette ich drauf!« »Ich fürchte, diese Wette würdest du verlieren«, murmelte André. Mike drehte sich überrascht zu ihm herum. Auf Miß McCrooders Gesicht erschien ein sorgenvoller Ausdruck. »Wie meinst du das?« fragte sie. André antwortete mit gesenktem Blick und sehr leise: »Ich fürchte, niemand wird uns auf der LEOPOLD suchen. Oder auch nur in der Nähe. Weil niemand weiß, daß wir dorthin wollten.«

»Unsinn!« widersprach Mike. Er begann nervös mit dem kleinen Amulett zu spielen, das an einer Kette um seinen Hals hing. »McIntire hat -« »McIntire«, unterbrach ihn André, nun mit fester Stimme, »gehört wahrscheinlich dazu.« »Quatsch!« entfuhr es Mike. Ben lachte schrill, aber Juan, Chris und Miß McCrooder starrten den jungen Franzosen aus erschrocken aufgerissenen Augen an. »Wie kannst du das wissen?« fragte Miß McCrooder. »Hört zu«, sagte André. »Ich habe mir nichts dabei gedacht, deshalb habe ich bisher nichts davon gesagt aber heute morgen habe ich gehört, wie McIntire dem Fahrer erzählt hat, daß er mit uns eine Hafenrundfahrt machen will. Kein Wort von Winterfeld oder der LEOPOLD. Wenn er das allen erzählt hat, dann ... dann denken sie jetzt, es wäre ein ganz normaler Unfall gewesen. Niemand wird auch nur auf die Idee kommen, daß wir entführt worden sind.« Ein erschrockenes, fast atemloses Schweigen breitete sich in der Kabine aus. Es war Juan, der dieses Schweigen schließlich brach. »Wißt ihr, was das bedeutet?« fragte er. Niemand antwortete, und Juan fuhr mit leiser, zitternder Stimme fort: »Wenn Winterfeld dafür gesorgt hat, daß niemand weiß, was wirklich mit uns passiert ist, dann wird er auch dafür sorgen, daß das so bleibt. Er kann uns gar nicht wieder gehen lassen.« Er überlegte einen Moment. »Vielleicht besaß dein Vater irgend etwas, was für die Deutschen von großem Wert ist«, sagte er dann zu Mike zugewandt. »Immerhin könnte es sein, daß demnächst ein Krieg ausbricht.«

»Jetzt fang nicht schon wieder damit an!« beschwerte

sich André. Mike schüttelte den Kopf: »Das kann nicht sein«, sag