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te er. »Mein Vater war ein friedlicher Mann, der be

stimmt nichts mit Krieg oder Waffen im Sinn gehabt hat.« »Woher willst du das wissen?« fragte Ben. »Du hast ihn doch überhaupt nicht gekannt.« »Ich weiß es eben«, antwortete Mike scharf. »Außerdem habe ich genug über ihn gehört. Was soll er schon besessen oder erfunden haben? Irgendeine Geheimwaffe vielleicht?« »Möglich«, sagte Ben gelassen. »Auf jeden Fall ist da eine ganz große Sache im Gange, das könnt ihr mir glauben. Winterfeld hat bestimmt nicht umsonst so viel riskiert.« Mike blickte ihn niedergeschlagen an. Bens Worte trafen den Kern der Sache. Seine Gedanken drehten sich immer schneller im Kreis. Er verstand einfach nicht, warum Winterfeld ihn hatte entführen lassen. Und dabei blieb es für die nächsten beinahe fünf Wochen.

Es war einer jener Tage gewesen, an denen sie unter Deck zu bleiben hatten. Winterfeld hatte Mike durch einen der Matrosen ausrichten lassen, daß er ihn am Abend zu sehen wünsche, um - wie er es ausdrückte die neueste Entwicklung der ganzen Angelegenheit mit ihm zu erörtern, was bedeutete, daß er ihn wieder nach dem Code fragen und Mike ihm neuerlich versichern würde, daß er nach wie vor keine Ahnung habe, was die Papiere seines Vaters bedeuteten, und Winterfeld damit konterte, den Moment ihrer Freilassung erneut in unbekannte Fernen zu verschieben. Zweimal hatte in den vergangenen Wochen so ein Gesprächstattgefunden. Von diesen unerfreulichen Episoden einmal abgesehen, hatte sich ihre »Gefangenschaft« jedoch völlig anders entwickelt, als Mike oder die anderen erwartet hatten. Im Grunde wurden sie überhaupt nicht als Gefangene behandelt. Ganz im Gegenteil. Nachdem das Schiff die britischen Hoheitsgewässer verlassen und seine unfreiwilligen Passagiere den Schock des Entführtwerdens überwunden hatten, begannen sie ihren Aufenthalt an Bord beinahe zu genießen. Mit Ausnahme weniger Gelegenheiten, bei denen sie den Kurs eines anderen Schiffes gekreuzt oder einen Hafen angelaufen hatten, um frische Vorräte oder Kohle zu bunkern, durften sie sich an Bord nahezu frei bewegen. Sie verbrachten viel Zeit an Deck, und je weiter sie nach Süden kamen, desto mehr holten sie den Sommer wieder ein. Auch die Mannschaft, von der die meisten vermutlich Elitesoldaten waren, die Winterfeld vermutlich höchstpersönlich für dieses Unternehmen ausgesucht hatte, erwies sich als unerwartet freundlich. Ganz eindeutig hatte Winterfeld Anweisung gegeben, sie so zuvorkommend wie möglich zu behandeln. Von diesen wenigen Einschränkungen einmal abgesehen, waren Mike die letzten fünf Wochen beinahe wie Ferien vorgekommen, und er wußte, daß es auch den anderen so erging. Selbst Miß McCrooder, die während der ersten Tage sehr schweigsam und besorgt gewesen war, hatte sich zunehmend entspannt. In den letzten Tagen hatte Mike sie immer öfter an Deck gesehen und ein paarmal sogar lachen gehört. Auch wenn Mike sich dieses Gedankens beinahe selbst schämte -sie hätten es weit schlimmer treffen können. Mike schrak für eine Sekunde aus seinen mehr oder weniger düsteren Gedanken hoch, als er das Geräusch der Tür hörte, warf einen Blick über die Schulter zurück und wandte sich dann wieder dem Bild vor dem Bullauge zu, als er sah, daß es nur einer der Matrosen war, der das Essen gebracht hatte.

Sein Blick glitt über die weißen Fassaden der Hafengebäude, die draußen im Licht der Mittagssonne schimmerten. Er fragte sich, welche Stadt es wohl sein mochte: Rio de Janeiro, Caracas, Panama... Aus aufgeschnappten Bemerkungen der Mannschaft und eigenen Beobachtungen -vor allem hatte das immer wärmer werdende Wetter dazu beigetragen -hatten sie sich zwar zusammengereimt, daß das Schiff in irgendeinem südamerikanischen Hafen vor Anker lag, aber natürlich hatten die Männer auf ihre diesbezüglichen Fragen beharrlich geschwiegen. Und seit zwei Tagen standen wieder Wachen vor der Tür ihrer Quartiere, die sie nicht verlassen durften, ehe das Schiff nicht wieder ausgelaufen war und eine gehörige Distanz zwischen sich und die Küste gebracht hatte.Der Matrose klapperte hinter ihm immer heftiger mit dem Geschirr, und Mike wandte abermals den Blick und stutzte. Der Mann war gerade zum dritten Mal dabei, unter heftigem Klirren und Lärmen Tassen und Teller vom Tablett auf den Tisch und zurück zu stellen. Er hatte den Kopf gesenkt, versuchte aber trotzdem, Mike einen beschwörenden Blick zuzuwerfen. Mike wurde schlagartig klar, daß der Mann versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen, aber es nicht wagte, ihn einfach anzusprechen, denn vor der Tür der Kabine, die offen stand wie immer, wenn jemand hereinkam, um ihnen Essen zu servieren, das gebrauchte Geschirr abzuholen oder eine Nachricht zu überbringen, standen zwei Soldaten Wache. Sie unterhielten sich lautstark und lachten, aber trotzdem mußten sie jedes Wort hören, das hier drinnen gesprochen wurde. Mike warf einen raschen Blick zu Chris hinüber, mit dem er sich die Kabine teilte, stellte fest, daß er zusammengerollt auf seiner Liege lag und fest schlief,

und drehte sich dann herum, um mit langsamen Schritten zum Tisch zu gehen. Dabei behielt er unauffällig die Tür im Auge. Die beiden Männer dort draußen redeten noch immer, aber einem von ihnen war aufgefallen, daß das Servieren des Mittagessens etwas lange dauerte, denn er sah genau in diesem Moment mißtrauisch zu ihm herein. »Was gibt es denn heute?« fragte Mike, während er sich dem Tisch näherte. »Schon wieder Gemüsesuppe?« fragte er übertrieben laut und mißmutig. Er hob den Deckel von der Suppenterrine und schnupperte hörbar. »Fällt dem Koch eigentlich gar nichts Neues mehr ein?« Der Mann an der Tür grinste und wandte sich wieder seinem Kameraden zu, und Mike wagte es, dem Steward vor sich direkt ins Gesicht zu blicken. Seltsam er war sicher, den Mann noch nie zuvor hier an Bord gesehen zu haben; und trotzdem kam er ihm irgendwie bekannt vor. Mike runzelte fragend die Stirn. »Heute abend«, flüsterte der Matrose, während er vom Tisch zurücktrat und sich das leere Tablett unter den Arm klemmte. »Eine Stunde nach Mitternacht. Seid bereit.« Mike riß verwirrt die Augen auf, aber er bekam keine Gelegenheit zu einer Frage, denn der Matrose drehte sich schnell herum und verließ mit gesenktem Blick die Kabine. Mike fiel auf, daß seine Haut merklichdunkler war als die der beiden Posten vor der Tür.Eine Stunde nach Mitternacht, wiederholte Mike in Gedanken. Das konnte doch nur heißen...Kaum hatten die beiden Soldaten die Tür hinter demvermeintlichen Steward geschlossen, da fuhr Mike herum, lief zu Chris' Koje und schüttelte seinen Mitgefangenen wach.Chris schlug seine Hand zur Seite, versuchte sich her

umzudrehen, um weiterzuschlafen. Mike hatte nie zuvor einen Menschen getroffen, der so viel schlafen konnte wie Chris und trotzdem ununterbrochen müde war. Aber Mike ließ nicht locker, sondern packte Chris kurzerhand bei den Schultern und zerrte ihn mit sanfter Gewalt in die Höhe. »Verdammt!« flüsterte er hastig. »Mach endlich die Augen auf! Wir müssen zu den anderen! Es ist etwas passiert!« »Hm?« machte Chris. Mike versuchte nicht Chris irgend etwas zu erklären, sondern zerrte ihn vollends in die Höhe und schubste ihn vor sich her zur Tür. »Komm mit!« Irgendwo auf halbem Weg schien Chris dann wohl doch aufzuwachen, denn er streifte Mikes Hand ab und blieb vor dem Tisch stehen. »Das Essen ist ja schon da!« sagte er überrascht. »Ist es schon so spät?« »Ja«, antwortete Mike ungeduldig und zerrte ihn weiter. »Aber dafür ist jetzt keine Zeit. Wir müssen zu den anderen. Und kein Wort!« Chris blinzelte verwirrt, aber Mike hatte schon die Tür erreicht und riß sie auf. Die beiden Wachen draußen unterbrachen überrascht ihr Gespräch und drehten sich zu ihm herum, aber Mike ignorierte sie einfach. »Das lasse ich mir nicht länger gefallen!« sagte er laut und in so zornigem Tonfall, wie er nur konnte. »Den Fraß kriegt ja keiner herunter! Ich spreche mit den anderen, und danach knöpfen wir uns diesen Küchenknaben vor! Auch ein Gefangener hat ein Recht auf vernünftigesEssen!« Der Soldat grinste breit, wobei er eine gewaltige Zahnlücke entblößte, machte aber dann eine auffordernde Bewegung, und Mike eilte weiter, Chris noch immer am Arm haltend. Er hörte, wie der Mann hinter ihm eine spöttische Bemerkung auf deutsch zu seinem Kameraden machte, worauf beide in schallendes Gelächter ausbrachen. Wahrscheinlich hielten die beiden ihn jetzt für völlig übergeschnappt. Ohne anzuklopfen, platzte er in die gegenüberliegende Kabine, wo die drei anderen bereits zum Essen Platz genommen hatten. Alle sahen überrascht auf, als Mike so hereinpolterte, aber er machte eine hastige Bewegung, schloß die Tür hinter sich und atmete erst einmal tiefdurch. »Was ist denn los?« fragte Juan spöttisch. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.« »Ich glaube, das habe ich auch«, sagte Mike leise und bedeutsam. »Hat er es euch auch gesagt?« »Hat wer uns was gesagt?« fragte Juan betont. »Was ist los mit dir? Bekommt dir die Sonne nicht, oder kriegst du den Gefängniskoller?« Mike ignorierte die spitze Bemerkung. Rasch und mit knappen Worten berichtete er, was gerade in seiner Kabine geschehen war. Juan und die beiden anderen hörten ihm mit wachsender Aufregung zu. »Bist du sicher, daß du dich nicht getäuscht hast?« fragte André schließlich. »Natürlich nicht«, antwortete Mike giftig. »Ich habe ein Schläfchen gehalten und das alles nur geträumt, was denkst du denn?« André funkelte ihn zornig an, aber Juan gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. »Hast du das auch gehört?« wandte er sich an Chris. »Nein«, sagte Chris. Er starrte Mike aus großen Augen an, und Mike fügte hinzu: »Er hatwirklich geschlafen.« »Wie üblich«, seufzte Juan. Er überlegte einen Moment. »Und du hast den Mann wirklich noch nie an Bord gesehen?« fragte er schließlich.

Mike verneinte. »Ganz bestimmt nicht«, sagte er. »Aber er kam mir trotzdem irgendwie bekannt...« Er brach mitten im Wort ab. »Ich bin ein Idiot!« sagte er dann. Juan nickte. »Meine Rede«, sagte er ungerührt. »Aber würdest du uns vielleicht erklären, wieso dir das erst jetzt auffällt - und in diesem speziellen Fall?« »Ich weiß, woher ich ihn kenne!« sagte Mike. »Erinnert ihr euch an den Morgen im Hafen? Als das Schiff uns gerammt hat? Er war da!« »Auf dem Schiff?« fragte Ben zweifelnd. »Auf dem Kai!« antwortete Mike aufgeregt. »Die Schlägerei! Erinnert euch! Ich bin ganz sicher, daß es derselbe Mann ist, über den die Arbeiter hergefallen sind!« »Das ist unmöglich!« sagte Ben. »Sie haben ihn weggezerrt. Selbst wenn sie ihn am Leben gelassen haben, war er bestimmt nicht mehr in der Lage, an Bord dieses Schiffes zu schleichen. Und außerdem - warum sollte er uns helfen?« »Warum nicht?« erwiderte Mike. »Er könnte immerhin -«Die Tür wurde aufgerissen, und Mike verstummte erschrocken mitten im Wort und drehte sich herum. Es war einer der beiden Soldaten, die draußen auf dem Gang Wache gehalten hatten. Der Mann warf einen mißtrauischen Blick in die Runde, dann wandte er sich an Mike, und auf seinem Gesicht erschien ein spöttisches Lächeln. »Wenn ihr mit eurer kleinen Revolution fertig seid, dann komm bitte mit. Der Kapitän will dich sprechen«, sagte er in ausgezeichnetem Englisch. Mike gehorchte, widerstrebend und von dem sicheren Gefühl erfüllt, daß die Männer genau wußten, was gerade in seiner Kabine geschehen war. Er warf noch einen Blick zu Juan und den anderen zurück. Keiner sagte ein Wort, aber sie sahen sehr erschrocken drein. Vielleicht war es das erste Mal seit langer Zeit, dachte Mike, daß ihnen wieder ins Bewußtsein zurückgerufen wurde, was sie wirklich waren: nichts als Gefangene, die nicht den geringsten Einfluß auf ihr eigenes Schicksalnehmen konnten.

Kapitän Winterfeld erwartete ihn wie immer in der Kapitänskajüte. Er trug auch heute nicht seine Uniform, sondern einen einfachen grauen Anzug, der Mike für die fast hochsommerlichen Temperaturen draußen viel zu warm erschien -aber etwas war doch anders: sein Gesichtsausdruck. Winterfeld wirkte sehr zufrieden. Mike nahm sich vor, auf der Hut zu sein. »Setz dich, Michael!« sagte Winterfeld aufgeräumt. »Wie geht es dir? Alles in Ordnung bei dir und deinen Freunden?« Mike setzte sich gehorsam, antwortete aber nicht. Winterfeld stellte diese Fragen jedes Mal, wenn sie sich sahen, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Wahrscheinlich waren sie nur Ausdruck seines schlechten Gewissens. Statt dessen sah er neugierig auf den Schreibtisch des Kapitäns. Anstelle des üblichen Durcheinanders von Papieren lag diesmal nur ein einziges, engbeschriebenes Blatt darauf -und die Seekarte, die Winterfeld ihm schon in England gezeigt hatte. »Ich habe gute Nachrichten, denke ich«, begann Winterfeld, nachdem auch er Platz genommen hatte. »Vielleicht dauert eure Gefangenschaft jetzt nicht mehr sehr lange.« Mike sagte noch immer nichts, sah aber Winterfeld sehr aufmerksam an. Ihm fiel auf, daß das Aussehen des Offiziers in krassem Gegensatz zu seinem fröhlichen Benehmen stand: Winterfeld war blaß. Unter seinen Augen lagen Ringe, und seine Bewegungen waren ein wenig fahrig. »Es ist uns gelungen, den Code zu entschlüsseln«, fuhr Winterfeld fort. »Ich muß mich bei dir entschuldigen. Wie mir die Spezialisten versichert haben, konntest du unmöglich wissen, wie die Geheimschrift zu entziffern ist.« Eine winzige Pause, in der drei tiefe, parallele Falten auf seiner Stirn erschienen, dann sagte er: »Trotzdem sollte ich böse auf dich sein.« »So?« fragte Mike. Winterfeld nickte heftig. »Ja. Du hast mich belogen. Aber irgendwie kann ich das sogar verstehen.« Er lachte leise. »Ich glaube, ich wäre sogar ein bißchen enttäuscht gewesen, wenn du es nicht versucht hättest.« »Ich ... verstehe nicht -« begann Mike, aber Winterfeld unterbrach ihn sofort wieder: »Das hat jetzt aber wirklich keinen Sinn mehr, Michael. Du hast versucht, mich hinzuhalten, und es ist dir gelungen, aber nun muß es gut sein.« Er beugte sich vor, drehte die Karte auf dem Tisch herum und schob sie Mike zu. Verständnislos blickte Mike darauf hin und dann wieder hoch. »Was ... was soll ich damit?« fragte er. Winterfelds Tonfall war nicht mehr so freundlich. »Wir haben die Papiere entziffert«, sagte er. »Aber jetzt mußt du uns helfen.« »Aber wie denn?« murmelte Mike. »Ich habe keine Ahnung, was -« »Hast du vergessen, was ich dir gerade gesagt habe?« unterbrach ihn Winterfeld. Er räusperte sich. »Wir wissen, was in den Papieren steht. Es war ein Brief an dich dabei - auch das habe ich dir schon einmal gesagt -, und in dem stand ganz eindeutig, daß du weißt, wie diese Karte zu entschlüsseln ist. Also mach es bitte für uns beide nicht unnötig schwer und sei vernünftig.« Mike verstand rein gar nichts mehr. Er schwieg, und auf Winterfelds Gesicht erschien ein Ausdruck von Ungeduld. »Du verlierst nur Zeit«, sagte er. »Ich finde die Insel, von der in den Papieren deines Vaters die Rede ist, auch ohne deine Hilfe, glaub mir. Es wird eben etwas länger dauern. Aber solange wir sie nicht gefunden haben, bleiben du und deine Freunde auf diesem Schiff gefangen.« Insel? dachte Mike verwirrt. Was für eine Insel? Er tat Winterfeld den Gefallen, die Karte zur Hand zu nehmen und sie einige Augenblicke lang zu studieren -aber die Linien, Buchstaben und Zahlen ergaben jetzt für ihn ebensowenig Sinn wie damals in London. »Ich kann Ihnen wirklich nicht helfen«, sagte er nach einer Weile. »Mein Vater hat nie etwas von einer Insel erwähnt. Was soll auf dieser Insel sein?« Winterfeld seufzte. »Du machst es mir wirklich nicht leicht, Michael«, sagte er. »Ich will doch nichts weiterals -«Draußen auf der Brücke wurden aufgeregte Stimmen laut, und eine Sekunde später wurde die Tür aufgerissen. Winterfeld verstummte mitten im Wort, und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck solchen Schreckens, daß Mike in seinem Stuhl herumfuhr und ebenfalls verblüfft die Augen aufriß. Unter der Tür war niemand anders als Paul erschienen. Hinter ihm stürmte ein Mann in einer blauen Uniform herein, der offenbar vergeblich versucht hatte, ihn zurückzuhalten. Auf Pauls Gesicht lag ein schelmisches Lächeln. »Hallo Vater!« sagte er fröhlich. »Na, ist mir die Überraschung ... gelungen?« Seine Augen wurden groß. Er erstarrte mitten in der Bewegung, und Mike konnte sehen, wie jeder TropfenBlut aus seinem Gesicht wich. Das letzte Wort hatte er nur noch geflüstert. Er hatte Mike gesehen. Kapitän Winterfeld hatte seine Überraschung endlich überwunden. Mit einem so heftigen Ruck, daß sein Stuhl umfiel, sprang er auf und beugte sich über den Tisch. »Paul!« donnerte er. »Was tust du hier? Ich hatte dir doch befohlen, an Land auf mich zu warten!« Paul schien die Worte seines Vaters gar nicht zu hören. Fassungslos starrte er Mike an, und Mike seinerseits blickte Paul mit kaum weniger großer Verwirrung an. Paul hier? Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Gehörte er am Ende vielleicht doch dazu, auch wenn sein Vater das Gegenteil behauptet hatte? »Mike?« murmelte Paul in einem Tonfall, als könnte er einfach nicht glauben, was seine Augen sahen. »Mike? Aber wie ... was ... was machst du denn hier?« Es fiel Mike schwer, überhaupt zu antworten. »Das fragst du am besten deinen Vater«, sagte er leise. Paul riß sich mit sichtbarer Mühe von seinem Anblick los und wandte sich an seinen Vater, aber der ließ ihm gar keine Gelegenheit, irgendeine Frage zu stellen, sondern fuhr ihn an: »Was tust du hier?! Wieso zum Teufel -« Er brach ab, atmete hörbar ein und wandte sich dann an den Mann, der hinter Paul stehengebliebenwar. »Sind Sie wahnsinnig geworden? Ich hatte Ihnen befohlen, ihn auf keinen Fall aus den Augen zu lassen!« Der Mann schrumpfte unter den Worten in sich zusammen. »Ich ... es tut mir leid, Herr Kapitän«, stotterte er. »Ich ... ich dachte -« »Sie sollen nicht denken, sondern gehorchen, Sie Idiot!« brüllte Winterfeld. Er ballte die Hände zu Fäusten. Für eine Sekunde sah es wirklich so aus, als wollte er sich einfach auf seinen unglückseligen Untergebenen stürzen. Aber er beherrschte sich.

»Verschwinden Sie!« zischte er. »Herr Kapitän, ich ... ich kann wirklich nichts -« »Gehen Sie mir aus den Augen, Sie Trottel!« fauchte Winterfeld. »Ich erwarte Sie in zwei Stunden in meiner Kabine.« Der Mann starrte ihn noch eine Sekunde lang mit schierem Entsetzen an, dann drehte er sich um und schlich wie ein geprügelter Hund davon. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Paul scharf. Er deutete auf Mike. »Was tut Mike hier? Was ... was geht hier vor?« Winterfeld begann nervös seinen Schnurrbart zu zwirbeln. Seine Finger zitterten. »Das ist eine komplizierte Geschichte«, antwortete er, »die ich dir nicht so rasch erklären kann. Es sollte ... eine Überraschung sein.« »Die ist Ihnen gelungen«, sagte Mike, noch ehe Paul Gelegenheit bekam, zu antworten. »Warum sagen Sie ihm nicht die Wahrheit? Oder soll ich es tun?« Er drehte sich in seinem Stuhl herum und sah wieder zu Paul hoch. »Dein Vater hat mich und die anderen -« »Das reicht!« unterbrach ihn Winterfeld scharf. Er machte eine befehlende Geste zu Mike, aufzustehen. »Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt gehst«, sagte er. »Ich werde Paul alles erklären.« »Ich möchte, daß er bleibt!« mischte sich Paul ein. Mike hatte ihn niemals so aufgebracht und wütend erlebt wie in diesem Moment. »Ich will die Wahrheit wissen!« Kapitän Winterfeld schwieg, während Paul ihn durchdringend anstarrte, und -es kam Mike fast absurd vor, nach allem, was er mit diesem Mann erlebt hatte

- fast schien es, als wäre es diesmal er, der das stumme Blickduell zu verlieren drohte. Aber dann gab er sich einen Ruck, straffte sich und brüllte, daß Mike die Ohren klangen:»LeutnantStrecker!«

Die Tür wurde aufgerissen, und der Soldat, der Mike hergeführt hatte, kam herein. Er wirkte sehr unruhig. »Herr Kapitän?« Winterfeld deutete auf Mike. »Bringen Sie Michael zurück zu seinen Freunden!« sagte er. »Mein Sohn bleibt noch einen Moment hier. Ich habe mit ihm zu reden.«

Mike hatte nach seiner Rückkehr nicht nur Chris und die drei anderen, sondern auch Miß McCrooder in seiner Kabine angetroffen und hatte sie von der neuesten Entwicklung unterrichtet. Danach schmiedeten sie Fluchtpläne - wie sie es schon so oft getan hatten, seit ihre Reise ins Ungewisse begonnen hatte, aber doch mit dem Wissen, daß sie allesamt zum Scheitern verurteilt waren. Diesmal aber war es anders: Wenn der geheimnisvolle Fremde, den Mike wiedererkannt zu haben glaubte, tatsächlich auf ihrer Seite stand, dann hatten sie möglicherweise zum ersten Mal eine wirkliche Chance, Winterfelds Gefangenschaft zu entkommen.Es war Miß McCrooder, die einen Wermutstropfen in ihre zuversichtliche Stimmung fallen ließ; und zwar einen gehörigen. »Wer sagt euch eigentlich, daß dieser Fremde tatsächlich hier ist, um uns zu befreien?« fragte sie, nachdem sie ihren immer abenteuerlicher werdenden Wenn-wir-erst-einmal-hier-raus-sind-Geschichten wortlos zugehört hatte. Für eine Sekunde wurde es still. Alle blickten Miß McCrooder verwirrt an. »Aber ... aber was soll er denn sonst wollen?« fragte Chris schließlich. »Das weiß ich nicht«, antwortete Miß McCrooder. »Aber ich würde nicht zu optimistisch sein. Er hat nur gesagt: eine Stunde nach Mitternacht. Nicht mehr. Woher wollt ihr so genau wissen, was dann passiert?«

Schweigen breitete sich nach diesen Worten zwischen ihnen aus. Auf allen Gesichtern stand die gleiche Enttäuschung geschrieben. Miß McCrooder fuhr hastig fort: »Versteht mich nicht falsch - ich selbst glaube auch, daß uns dieser Mann helfen will; schon, weil ich es einfach glauben möchte. Aber selbst wenn ein Wunder geschieht und wir irgendwie von diesem Schiff entkommen, ist damit noch lange nicht alles vorbei. Wir wissen nicht einmalgenau, wo wir sind. Aufjeden Fall in einem fremden Land, in dem wir ganz auf uns allein gestellt sein

werden.« »Das ist kein Problem«, sagte Juan großspurig. »Wir müssen irgendwo in Südamerika sein. Da wird Spanisch gesprochen. Und sobald wir eine spanische Botschaft finden, reicht ein einziges Telegramm an meinen Vater, und dieser Winterfeld wird sich wünschen, niemals geboren zu sein.«Ehe jemand etwas darauf erwidern konnte, wurde dieTür aufgerissen, und Leutnant Strecker und der zweite Soldat führten den sich heftig sträubenden Paul herein, der die beiden Männer aus Leibeskräften in seiner Muttersprache beschimpfte. Sie mußten ihn an beiden Handgelenken festhalten, sonst hätte er sich wahrscheinlich auf der Stelle losgerissen und wäre wieder auf den Gang hinausgestürmt. Unsanft bugsierten sie ihn bis zur Mitte des Raumes, dann wandten sie sich um, verließen die Kabine und schlossen rasch die Tür. Paul eilte ihnen, noch immer schimpfend, nach, rüttelte ein paarmal vergeblich an der Klinke und versetzte der Tür schließlich einen zornigen Tritt,Als er sich herumdrehte, starrten ihn alle an, und für ein paar Augenblicke breitete sich eine eigenartige Stimmung in der kleinen Kabine aus. Paul wirkte zor

nig und verlegen zugleich, während die Jungen - Mike und Miß McCrooder ausgenommen - keinen Hehl daraus machten, daß sein Erscheinen nicht unbedingt eine angenehme Überraschung bedeutete. »Was tust du denn hier?« fragte Ben schließlich. »Hat dich dein Vater zum Spionieren hergeschickt?« Pauls Augen blitzten, aber er behielt die Ruhe. »Ich habe es ja nicht geglaubt«, sagte er, während er seinen Blick von einem zum anderen wandern ließ. »Ihr ... ihr wart tatsächlich die ganze Zeit über hier? Hier an Bord? Was ist nun wirklich geschehen?« Er fuhr zusammen, als er jetzt auch Miß McCrooder sah. »Sie sind auch hier? Wo ist McIntire? Ist er auch an Bord?« »Das solltest du eigentlich besser wissen als wir«, grollte Ben, bevor Miß McCrooder antworten konnte. »Wahrscheinlich habt ihr doch die ganze Zeit über uns Idioten gelacht, daß euch die Bäuche weh taten, oder?« Pauls Blick spiegelte vollkommenes Unverständnis, und Miß McCrooder fragte rasch: »Ist McIntire denn nicht bei euch?« »Bei uns?« Paul schüttelte den Kopf. »Aber wieso denn? Er -« »Lüg uns nicht auch noch an!« unterbrach ihn Ben aufgebracht. »Er gehört doch zu euch!« »Jetzt reicht es aber!« antwortete Paul. »Wenn du jetzt nicht aufhörst, dann...« »Dann?« fragte Ben, als Paul nicht weitersprach. Er

stand auf und trat herausfordernd auf Paul zu. »Was

dann?« Paul funkelte ihn an. Er war fast einen Kopf kleiner

als Ben und wog sicherlich zwanzig Pfund weniger. Und außerdem kannte er wie alle anderen den Ruf, der dem jungen Engländer vorauseilte - nämlich, kei

ner Prügelei aus dem Weg zu gehen und die meisten auch zu gewinnen. Und trotzdem sah es für einen Moment so aus, als wollte Paul sich einfach auf ihn stürzen, um die Diskussion mit seinen Fäusten fortzusetzen.Es war Juan, der den drohenden Streit schlichtete. Hastig sprang er auf, trat zwischen die beiden Kampfhähne und breitete die Arme aus. »Bitte, Leute!« sagte er. »Seid vernünftig! Das hat doch keinen Zweck!« Ben schob kampflustig die Schultern vor. »Laß mich zehn Minuten mit ihm allein, und ich zeige dir, was Zweck hat«, sagte er drohend. »Vielleicht brauche ich auch nur fünf, und er wird uns alles erzählen, was wir wissen wollen.« »Das tut er bestimmt auch so«, sagte Juan. Er bedachte Ben mit einem mahnenden Blick, ehe er sich vollends zu Paul herumdrehte. »Oder?« Paul sah Ben weiterhin herausfordernd an, aber nach ein paar Sekunden nickte er. »Ich weiß wirklich nicht, was das alles bedeutet«, sagte er. »Bis vor einer Stunde wußte ich nicht einmal, daß ihr überhaupt hier seid! Ich dachte, ihr wärt in London, nicht in Rio.« »Rio de Janeiro?« vergewisserte sich Mike. Paul nickte.»Na ja, jetzt wissen wir wenigstens, wo wir sind«, stellte Juan fest. Zu Paul gewandt, fuhr er fort. »Aber wie kommst du hierher?« »Mit der LEOPOLD«, antwortete Paul. »Sie liegt ein paar Meilen von hier vor Anker. Mein Vater hat mich heute morgen abgeholt und ist mit mir an Land gegangen. Er wollte mir die Stadt zeigen. Danach ist er weggegangen, um noch irgendwas Geschäftliches zu erledigen -wenigstens hat er das gesagt. Ich sollte am Hafen warten, bis er zurückkäme. Aber ich hatte kei

ne Lust, den Tag in der Gesellschaft seines Adjutanten zu verbringen. Der Kerl ist ungefähr so gesprächig wie eine Rolle Schlaftabletten. Also bin ich ausgebüchst und habe ein Boot gechartert, das mich hierher brachte. Ich wollte ihn überraschen.« »Das ist dir gelungen«, sagte Mike. Paul verzog das Gesicht, enthielt sich aber jeden Kommentars. Mike konnte sich lebhaft vorstellen, welches Donnerwetter auf Paul herabgegangen war, nachdem er ihn mit seinem Vater alleingelassen hatte. »Wieso ist die LEOPOLD hier?« fragte er dann. Paul zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, antwortete er. »Mein Vater spricht nicht mit mir über militärische Dinge. Wahrscheinlich ist es sowieso geheim. Aber mir ist aufgefallen, daß wir ziemlich überhastet aufgebrochen sind. Eigentlich sollten die Reparaturen ja noch sechs Tage dauern, aber die LEO-POLD ist schon am nächsten Morgen ausgelaufen. Mein Vater und ich haben auf euch gewartet. Als ihr zwei Stunden nach dem verabredeten Zeitpunkt immer noch nicht da wart, ist mein Vater mit einemBoot losgefahren, um nach dem Rechten zu sehen. Erkam erst nach einer ganzen Weile zurück und erzählte, daß es einen Unfall im Hafen gegeben hat.« »Ja«, sagte Ben, »so kann man es auch nennen.« Paul durchbohrte ihn mit Blicken, fuhr aber in unverändertem Ton fort: »Ich war ziemlich besorgt, aber er beruhigte mich und sagte, daß niemandem etwas passiert sei. Nur wärt ihr alle bis auf die Knochen naß geworden und zu Tode erschrocken, so daß McIntire den Ausflug abgesagt hätte und mit euch nach Andara-House zurückgefahren sei.« Er hob die Hände. »Natürlich habe ich ihm geglaubt. Woher sollte ich denn wissen, was wirklich passiert war?«»Na, dafür weißt du es jetzt«, sagte Mike.

»Gar nichts weiß ich«, erwiderte Paul. »Du kennst meinen Vater schlecht, wenn du glaubst, er hätte mir auch nur eine einzige Frage beantwortet. Er hat mich angeschrien und mir einen Vortrag über die Bedeutung der Worte Gehorsam und Befehl gehalten, aber das war auch alles. Aber ich weiß immer noch nicht, warum ihr hier seid.« »Dann sollte es ihm jemand erklären«, sagte Juan. Er wandte sich mit einer auffordernden Geste an Mike. »Und wer wäre besser dazu geeignet als der, dem wir dieses ganze Schlamassel zu verdanken haben?« Nun war es an Mike, Juan einen wütenden Blick zuzuwerfen. Aber dann begann er ruhig zu erzählen, was an jenem Morgen in London und danach wirklich passiert war. Pauls Gesichtsausdruck wurde immer entsetzter, während er ihm zuhörte. »... und jetzt sind wir hier«, schloß Mike. »Bis vor zehn Minuten wußten wir nicht einmal, wo dieses Hierüberhauptist.« »Das ... klingt unglaublich«, murmelte Paul. Er sah Mike nicht an, sondern hatte den Blick gesenkt. Doch Mike glaubte genau zu spüren, wie es in seinem Freund aussah. Schließlich war der Bösewicht in der Geschichte niemand anders als Pauls Vater. »Du kannst es ruhig glauben«, sagte Ben giftig. »Genauso wie wir glauben, daß dein liebes Väterchen dich nur zum Spionieren hergeschickt hat!« Mike warf Ben einen drohenden Blick zu, aber Paul schien den letzten Satz gar nicht gehört zu haben. »Aber das ... das paßt überhaupt nicht zu ihm!« sagte er. »Ich sage das bestimmt nicht nur, weil er mein Vater ist. Er ist ... der pflichtbewußteste Mann, den ich kenne, Er würde so etwas nie tun!« »Außer vielleicht, jemand befiehlt es ihm«, sagte Juan leise.

Paul starrte ihn erschrocken an, aber dann schüttelte er den Kopf. »Quatsch!« sagte er überzeugt. »Ich weiß, ich weiß - England und das Kaiserreich sind im Moment nicht gut aufeinander zu sprechen. Aber warum sollte die deutsche Kriegsmarine ein halbes Dutzend Kinder entführen und dabei riesige diplomatische-Verwicklungen riskieren?« »Sie haben Mike entführt«, erinnerte Miß McCrooder. »Wir anderen sind nur aus Versehen mit dabei, vergiß das nicht.« »Es ergibt trotzdem keinen Sinn!« beharrte Paul. »Was soll er schon wissen, was so wichtig ist?« »Anscheinend hat mein Vater irgend etwas besessen, was für eure Leute von großem Wert ist«, sagte Mike. »Er muß es auf irgendeiner einsamen Insel in der Karibik versteckt haben - und dein Vater ist der Meinung, daß ich weiß, wo diese Insel liegt. Aber ich weiß es nicht.« »Verrat ihm lieber nicht zu viel«, sagte Ben. »Sonst kannst du es ebensogut gleich seinem Vater erzählen.« »Jetzt hört aber endlich auf!« mischte sich Miß McCrooder ein. Sie stand auf und wandte sich an Paul. »Wieso hat er dich herbringen lassen?« fragte sie geradeheraus. »Das weiß ich nicht«, antwortete Paul. »Er hat gesagt, ich wäre selbst schuld, wenn er mich jetzt genau wie die anderen behandeln müsse.« »Wie die anderen?« Miß McCrooder runzelte die Stirn. »Soll das heißen, daß du hier bleiben sollst? Als Gefangener? Genau wie wir?« »Bis alles vorbei ist, ja«, antwortete Paul. »Aber er hat gesagt, daß es jetzt nicht mehr lange dauern kann.« »Was für eine hervorragende Idee!« sagte Ben vom Fenster her. »Warum zieht er nicht gleich selbst hierein. Dann hört er aus erster Hand, was wir miteinander reden.« Selbst Mike fiel es für einen Moment schwer, den Worten seines Freundes Glauben zu schenken. Er zweifelte nicht daran, daß Paul bis zum heutigen Tage keine Ahnung vom Schicksal seiner Mitschüler gehabt hatte -aber die Vorstellung, daß Kapitän Winterfeld so weit ging, seinen eigenen Sohn gefangenzusetzen, erschien ihm doch zu verrückt. Es sei denn, flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken, das, was er auf jener geheimnisvollen Karibikinsel zu finden hoffte, war noch viel, viel wertvoller, als sie alle bisher angenommen hatten.

Mitternacht kam und ging, und an Bord kehrte allmählich eine gewisse Ruhe ein. Sie hatten noch lange zusammengesessen und geredet, bis es schließlich Zeit zum Abendessen war und sich Ben, Juan und André in ihre eigene Kabine zurückzogen. Auch Miß Mc-Crooder -die als einzige eine Kabine für sich allein hatte - war gegangen, wobei sie Chris mitgenommen und erklärt hatte, es mache ihr nichts aus, sich für diese Nacht das Zimmer mit ihm zu teilen; am nächsten Morgen würde man weitersehen und zur Not ein drittes Bett in Mikes Kajüte aufschlagen lassen. Daß sie in dieser Nacht nicht schlafen würden und allesamt hofften, daß es ohnehin ihr letzter Abend auf diesem Schiff war, wußte Paul nicht - und sie hüteten sich, auch nur eine Andeutung in dieser Richtung zu machen. Sie hatten die Zeit, in der Paul einmal zwischendurch die Toilette aufgesucht hatte, genutzt, um sich zu einigen, ihn in diesem Punkt im unklaren zu lassen. Wenn er tatsächlich im Auftrag seines Vaters hier war, um sie auszuspionieren, durfte er auf keinen Fall etwas von ihrem Vorhaben erfahren. Undwenn nicht -nun, dann schadete es nichts, wenn er erst in allerletzter Sekunde davon erfuhr. Mike hatte ein schlechtes Gewissen bei dieser Vorstellung, aber er beugte sich schließlich dem Willen der Mehrheit und tröstete sich damit, daß Paul ihre Vorsicht verstehen würde. Sie waren übereingekommen, sich zwei Minuten vor der verabredeten Zeit in Mikes Kabine zu treffen, wobei Miß McCrooder der gefährlichste Teil des Planes zukommen würde -nämlich, die Wachen abzulenken, die sonst mißtrauisch werden konnten. Nun ging es allmählich auf eins zu. Mike mußte sich beherrschen, um nicht immer öfter auf die Uhr zu sehen, während er mit Paul zusammensaß und redete. Er hatte gehofft, daß Paul irgendwann müde werden und einschlafen würde, aber das Gegenteil war der Fall -er wurde immer munterer und ließ sich von Mike über die Gespräche mit seinem Vater in allen Einzelheiten berichten. »Weißt du«, sagte er dann, »irgendwie glaube ich, daß Vater recht hat mit seiner Vermutung, daß du den Schlüssel zu dem Geheimnis besitzt.« Mike sah seinen Freund einen Augenblick lang durchdringend und verwirrt an, dann begriff er, daß Paul diesen Blick ebensogut als mißtrauisch deuten konnte, und zwang sich zu einem Lächeln. »Bestimmt nicht«, sagte er. »Ich hätte es ihm längst gesagt, wenn es so wäre. In einer Sache stimme ich ihm nämlich zu

- ich bin sicher, daß er die Insel früher oder später sowieso findet, ob mit oder ohne meine Hilfe. Ich will nur noch hier raus und die anderen auch. Es interessiert mich mittlerweile gar nicht mehr, was er auf dieser Insel zu finden hofft.« »Aber mich«, entgegnete Paul. »Und zwar brennend. Egal, was die anderen von meinem Vater halten: Er

ist ein ehrlicher Mann. Wenn er sich zu so etwas hinreißen läßt, dann muß es sich um etwas wirklich Kolossales handeln.« Er legte den Kopf schräg und sah Mike aus eng zusammengekniffenen Augen an. »Überleg noch mal«, sagte er. »Dein Vater muß doch irgendeine Andeutung gemacht haben.« »Ich habe ihn ja nicht mal gekannt«, erinnerte Mike. »Ich weiß nicht einmal genau, wie er ausgesehen hat. Aber ich weiß, daß er nichts mit Politik oder Krieg im Sinn gehabt hat. Er war ein Beamter, das ist alles.« »Das mag schon sein«, wiederholte Paul. »Aber irgend etwas - hat er dir rein gar nichts hinterlassen? Keinen Brief, kein Andenken?« »Doch«, antwortete Mike spitz. »Eine ganze Mappe mit Briefen sogar. Dein Vater hat sie.« Paul fuhr bei diesen Worten zusammen. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und Mike kam sich gemein vor, daß er sich diesen billigen Triumph nicht hatte verkneifen können. Hastig zog er den Anhänger unter dem Hemd hervor, den er an einer Kette um den Hals trug. »Und das hier«, sagte er. Paul beugte sich neugierig vor, nahm das Amulett in die Hand und betrachtete es sehr lange und sehr interessiert. Mike ließ ihn gewähren. Auch er hatte den Anhänger in den letzten Wochen unzählige Male angesehen schließlich war Pauls Überlegung nicht so weit hergeholt, daß nicht auch er und die anderen darauf ge

kommen wären, in diesem Amulett den Schlüssel zu vermuten, hinter dem Winterfeld her war. Aber das konnte nicht sein. Das Amulett enthielt kein Geheimfach, keine verschlüsselte Botschaft, keine Schriftzeichen, nichts. Es war ein unglaublich kunstfertiges Stück Goldschmiedearbeit, das die sechsarmige Göttin Kali darstellte - ein durchaus gängiges Motiv der indischen Mythologie -, nicht mehr und nicht weniger. Schließlich ließ Paul das Amulett wieder sinken und schüttelte den Kopf. »Wenn das Ding irgend etwas zu bedeuten hat«, sagte er enttäuscht, »dann ist diese Bedeutung wirklich gut getarnt.« Mike verstaute das Amulett wieder unter seinem Hemd, aber er kam nicht mehr dazu, zu antworten. Draußen auf dem Gang erscholl plötzlich ein halblauter, krächzender Schrei, und eine Sekunde später polterte etwas schwer gegen die geschlossene Tür. Paul sah überrascht hoch, während Mike aufstand, zur Tür ging und mit klopfendem Herzen einen Schritt davor stehenblieb. Es war fünf Minuten vor eins. »Was ist denn los?« fragte Paul flüsternd. Bevor Mike antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen-und er vermochte nur noch mit Mühe einen Schrei zu unterdrücken! Einer der beiden Soldaten, die draußen auf dem Gang Wache hielten, taumelte ihm entgegen. Sein Hals und das Hemd waren blutüberströmt. Auf seinem Gesicht lag ein ungläubiger Ausdruck, und sein Mund war weit geöffnet, wie zu einem Schrei. Aber er bekam keinen Laut über die Lippen. Torkelnd näherte er sich Mike, streckte die Hände nach ihm aus und sank in die Knie, ehe er ihn erreichen konnte. Mike machte einen erschrockenen Schritt zur Seite, als der Soldat zusammenbrach. Er schlug mit einem dumpfen Laut auf dem metallenen Boden auf und rührte sich nicht mehr. Unter seinem Gesicht begann sich rasch eine dunkle, glitzernde Lache zu bilden. »Was zum Teufel geht hier vor?« keuchte Paul. Mike hörte, wie er von seinem Stuhl aufsprang, drehte sich aber nicht zu ihm herum. Der Blick seiner entsetzt aufgerissenen Augen war auf den zweiten, reglosen

Körper draußen auf dem Gang gerichtet. Der Soldat lag auf dem Rücken, und auch sein Hals und das Hemd darunter waren rot. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Sein Mörder stand mit gespreizten Beinen über ihm. Er trug nicht mehr die Matrosenuniform, in der Mike ihn auch am Morgen gesehen hatte, sondern ein weites Gewand und einen kunstvoll gewickelten Turban, unter dem ein rabenschwarzer Pferdeschwanz bis weit über seine Schultern herabhing. In der rechten Hand hielt er den Dolch, mit dem er die beiden Wachen getötet hatte. »Was -?« begann Mike, wurde aber sofort von dem Fremden unterbrochen. »Still!« zischte er. »Zum Reden ist jetzt keine Zeit! Wir müssen weg! Wo sind die anderen?« Mike deutete auf die gegenüberliegende Tür, und der Mann fuhr mit einer katzenhaften Bewegung herum und öffnete sie. Mike hörte einen überraschten Ausruf in dem Raum auf der anderen Seite, und der Mann antwortete wohl auch, aber er verstand die Worte nicht. Wie hypnotisiert starrte er abwechselnd die beiden Toten an. Er fühlte einen eisigen Schrecken, der alles überstieg, was er jemals empfunden hatte; selbst die Todesangst, als er damals im Hafen beinahe ertrunken wäre. Es war das erste Mal, daß Mike so direkt mit dem Tod konfrontiert wurde. Er hatte tote Tiere gesehen undvom Tod von Menschen gehört und gelesen - aber erhatte sich noch nie einer Leiche gegenübergesehen. Die beiden Männer waren tot - sie waren ermordet worden, vor seinen Augen und wohl auch irgendwie seinetwegen. Zweifelsfreiwaren diese beiden Soldaten seine Feinde gewesen, die vielleicht nicht einmal gezögert hätten, ihn und die anderen umzubringen, hätten

sie den Befehl dazu erhalten, und doch erschütterte Mike ihr Anblick zutiefst. Der Fremde, der gekommen war, um ihn zu retten, hatte sie seinetwegen getötet. Ebensogut hätte er selbst ein Messer nehmen und ihnen die Kehle durchschneiden können. Auf dem Gang wurde es wieder laut, als der Fremde in Begleitung Juans und der beiden anderen zurückkam. Einer der drei mußte ihm wohl den Weg zu Miß McCrooders Kabine gewiesen haben, denn er eilte unverzüglich hin und betrat auch sie, ohne anzuklopfen. Juan erstarrte mitten in der Bewegung, als er den toten Soldaten sah, und André schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Ben blickte den Leichnam nur kurz an und wirkte zufrieden, wie Mike schaudernd registrierte. Wenige Sekunden später erschienen auch Miß Mc-Crooder und Chris auf dem Gang. Miß McCrooder sog erschrocken die Luft ein, zog Chris an sich und bedeckte seine Augen mit der Hand, während der Fremde sich wieder an Mike wandte. »Schnell jetzt, Herr«, sagte er. »Wir müssen -« Er stockte mitten im Wort. Seine Augen wurden schmal, als er Paul erblickte, der hinter Mike unter der Tür erschienen war. Dann spannte sich seine Gestalt. Mike sah, wie sich seine Hand fester um den Dolch schloß, den er noch immer in der Rechten trug. »Wer ist das?« fragte er. »Ein Freund«, sagte Mike hastig. »Er gehört zu uns.« Der Fremde warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Mike sah, wie es in seinem dunklen Gesicht arbeitete. Dann nickte er. »Er kommt mit uns«, sagte er. »Ich gehe nirgendwohin, ehe ich nicht weiß, was hier gespielt wird!« erwiderte Paul, und Ben sagte: »Er kommt auf keinen Fall mit! Da können wir ja genausogut Winterfeld selbst einladen, uns zu begleiten!«

»Aber er kann auch nicht hierbleiben«, fügte Juan ruhig hinzu. »Er würde uns verraten.« Mike wies auf die Toten. »Warum ... haben Sie das getan?« fragte er leise. »Es mußte sein, Herr«, antwortete der Fremde. »Sie hätten Alarm geschlagen. Wenn mein Eindringen bemerkt wird, sind wir alle verloren.« In drängenderem Ton fügte er hinzu: »Wir müssen gehen, Herr. Die Deckwache dreht gleich ihre Runde. Wenn sie das Boot bemerken, ist es um uns geschehen.« »Ich rühre mich nicht von der Stelle!« sagte Paul. Er sprach sehr laut, aber seine Stimme zitterte auch hörbar. Das Entsetzen mußte ihm ebenso in die Knochen gefahren sein wie allen anderen. »Dann werden wir dich wohl fesseln und knebeln müssen«, sagte Ben grinsend. »Ich übernehme das gern.« Er trat einen Schritt vor, aber der Fremde hielt ihn mit einer hastigen Bewegung zurück. »Er weiß schon zuviel«, sagte er. »Er kommt mit oder stirbt.« Mike zweifelte keine Sekunde daran, daß der Fremde seine Worte auch ausführen würde. »Bitte, Paul«, sagte er, »sei vernünftig. Er meint es ernst.« Paul schien das wohl ebenso zu sehen, denn von seiner Entschlossenheit war nicht mehr viel geblieben. »Was ... was geht hier überhaupt vor?« sagte er stockend. »Wer ist das?« »Wir ziehen aus, das geht vor, Schlaumeier«, sagte Ben fröhlich. »Mit oder ohne dich, das ist egal. Und wenn du dort oben auch nur einen Mucks von dir gibst, dann drehe ich dir höchstpersönlich den Hals um, das verspreche ich dir.« »Schnell jetzt, Herr«, drängte der Fremde. »Sie dürfendas Boot nicht entdecken!« Alles in Mike sträubte sich dagegen, über den Leich

nam des Soldaten hinwegzusteigen, aber das mußte er, um die Treppe auf der anderen Seite des Ganges zu erreichen. Eng an die Wand gepreßt und mit geschlossenen Augen machte er einen Schritt über den reglosen Körper hinweg und dann noch zwei, drei weitere, hastige Schritte, um sich möglichst schnell von ihm zu entfernen. Plötzlich begann sein Herz zu hämmern, und er zitterte am ganzen Leib. Angeführt von dem geheimnisvollen Fremden bewegten sie sich die Treppe hinauf. Mike und Paul gingen unmittelbar hinter ihm, dicht gefolgt von Miß McCrooder und Chris, während Juan Ben vorsichtshalber ans Ende der kleinen Kolonne verbannt hatte. Ihr Führer öffnete lautlos die Tür, gab ihnen ein Handzeichen,zurückzubleiben, und huschte hindurch. Schon nach einer Sekunde kam er zurück und winkte. »Keinen Laut!« flüsterte er, während Mike und Paul sich an ihm vorbeischoben. Es war dunkel, als sie an Deck hinaustraten -aber längst nicht so dunkel, wie Mike gehofft hatte. Die Nacht war sternenklar, und als hätten Winterfeld und seine Männer selbst die Natur auf ihrer Seite, stand auf dem Himmel ein fast vollkommen gerundeter Mond, der den Hafen wie ein übergroßer, bleicher Scheinwerfer beschien. Zudem brannten hinter den Fenstern der Brücke noch etliche Lichter, so daß jeder, der dort oben stand und zufällig herabsah, sie bemerken mußte. Ihr Führer deutete auf den schwarzen Schlagschatten der erhöhten Frachtluke, einige Schritte entfernt. Mike zeigte ihm mit einem stummen Nicken, daß er verstanden hatte, sah noch einmal mit klopfendem Herzen zu den hellerleuchteten Fenstern der Brücke hinauf, sammelte all seinen Mut -und huschte los. In wenig mehr als einer Sekunde gelangte Mike in

den schwarzen Schatten des Lukenrandes, aber er war plötzlich felsenfest davon überzeugt, daß man ihn einfach entdecken mußte. Und wenn schon nicht das, so mußten seine Schritte, deren Dröhnen in seinen eigenen Ohren wie das Stampfen einer Elefantenherde klang, im ganzen Hafen zu hören sein. Aber das Wunder geschah - sowohl er und Paul als auch alle anderen erreichten unbehelligt die Luke und kauerten sich in den Schutz des Schattens. Niemand rief ihnen zu, stehenzubleiben. Nirgends gellte eine Alarmsirene. »Bleibt einen Moment hier«, flüsterte der Fremde, der als letzter geduckt über das Deck herangeeilt kam und sich neben Mike niederkauerte. »Ich sehe nach den Wachen.« Mike wollte ihn zurückhalten, aber er verschwand so schnell wie ein Schatten, der schon nach einer Sekunde von der Nacht aufgesogen wurde. Mike hatte nie einen Menschen getroffen, der sich so geschmeidig und lautlos zu bewegen vermochte wie er. »Wer ist das?« flüsterte Paul neben ihm. »Ich habe keine Ahnung«, murmelte Mike. »So, du hast keine Ahnung? Und wieso hat er dich dann Herr genannt?« Mike schwieg. Er hätte eine Menge darum gegeben, die Antwort auf diese Frage zu kennen. Er spürte, daß sein Schweigen Pauls Mißtrauen nur noch schüren mußte. Es vergingen nur Sekunden, bis der Fremde zurückkam. »Die Wache ist auf der anderen Seite«, flüsterte er. »Wir haben Glück.« Er deutete nach rechts. »Mein Boot liegt dort unten. Lauft zur Reling. Einzeln und nacheinander. Ich passe hier auf.« Da Juan der entsprechenden Bordseite am nächsten

war, huschte er als erster los. Nach wenigen Schritten

erreichte er die Reling, beugte sich hinüber -und kletterte ohne zu zögern auf der anderen Seite in die Tiefe. Erst als ihm auch Ben auf die gleiche Weise folgte, erkannte Mike die Strickleiter, die an der Reling verknotet war. Geduckt lief er los, erreichte die Reling und schwang das Bein darüber. In diesem Moment erscholl in der Dunkelheit hinter ihm ein lautstarkes Scheppern und Klirren. Irgend etwas fiel mit einem gehörigen Krach um, der nun wirklich bis zum Ufer zu hören sein mußte. Mike erstarrte mitten in der Bewegung. Fast in der gleichen Sekunde erschien neben der Brücke eine Gestalt. »Wer ist da?« rief eine Stimme. Dann wurde sie schrill. »He - du da an der Reling! Rühr dich nicht! Keine Bewegung!« Mikes Herz schlug bis in seinen Hals hinauf, als der Wachtposten die Arme in die Höhe riß und ein Gewehr auf ihn anlegte. Er hörte das Klicken der Sicherung, die herumgelegt wurde. Er würde sterben. Jetzt. Doch der Schuß, auf den er wartete, kam nicht. Statt dessen sah er aus den Augenwinkeln, wie hinter der Ladeluke plötzlich eine zweite, schlanke Gestalt in die Höhe wuchs und eine blitzartige Bewegung mit dem Arm machte. Der Posten schien die Gefahr im letzten Moment zu spüren, denn er fuhr herum und versuchte, mit seinem Gewehr auf die Gestalt zu zielen, aber er war nicht schnell genug. Etwas flog wie ein silberner, sich irrsinnig schnell drehender Blitz durch die Luft, bohrte sich mit einem dumpfen Schlag in seine Brust und schmetterte ihn gegen die Decksaufbauten. Der Mann schrie auf, ließ sein Gewehr fallen und brach zusammen. Paul und die anderen sprangen hinter ihrer Deckung hervor und rannten zur Reling, ohne auch noch die geringste Vorsicht zu wahren. Mike kletterte so hastig

weiter hinunter, daß er ein paarmal Gefahr lief, den

Halt zu verlieren und abzustürzen.

Was ihr geheimnisvoller Retter als Boot bezeichnet hatte, das entpuppte sich als Segeljacht, als Mike die Strickleiter losließ und die letzten anderthalb Meter einfach in die Tiefe sprang. Er verlor auf den rutschigen Planken das Gleichgewicht, fiel auf die Knie und kroch hastig ein Stück zur Seite, damit ihm André nicht in den Nacken sprang -was zweifellos geschehen wäre, denn hinter diesem drängten bereits Chris

und Miß McCrooder heran. Doch auch ihre Verfolger hatten nicht aufgegeben. Als die Gestalt ihres Retters über der Reling erschien, erscholl oben an Deck ein zorniger Schrei; gleich darauf gellte das Schrillen einer Alarmpfeife durch die Nacht, und dann krachte ein Schuß. Keine zehn Zenti

meter neben dem Fremden stoben Funken aus dem Metall der Reling, und die Kugel jaulte als Querschläger davon. Der Fremde schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung über die Reling - und sprang in die Tiefe, ohne zu zögern! Mike schrie erschrocken auf. Das Deck des größeren Schiffes lag gute fünf Meter über ihnen, vielleicht sogar mehr. Aber wieder bewies ihr geheimnisvoller Freund seine außerordentliche Geschicklichkeit. Er prallte dicht neben ihm auf, kam mit einer eleganten Rolle wieder auf die Füße und fuhr noch in der gleichen Bewegung herum. Mit beiden Armen versuchte er, die kleine Jacht vom Rumpf des Frachters wegzustoßen. Das Schiff zitterte, bewegtesich aber nicht. »Helft mir!« sagte er. »Schnell!« Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das Schiff abzustoßen - doch in diesem Moment erschienen bereits die Schatten der Verfolger an der Reling über ihnen.

Irgend jemand schrie eine Warnung, und da krachte auch schon wieder ein Schuß. Mike zog den Kopf ein und warf sich herum. Die Kugel klatschte neben dem Schiff ins Wasser, aber schon krachte der nächste Schuß, und dann wieder einer und wieder einer. Die Kugeln ließen das Wasser aufspritzen, aber einige Geschosse fetzten auch Splitter aus den Decksplanken oder zerschmetterten Glas. Während Mike mit Riesensätzen und im Zickzack über das Deck sprang und verzweifelt nach irgendeiner Deckung Ausschau hielt, sah er aus den Augenwinkeln, wie sich zwei Matrosen hintereinander auf die Strickleiter schwangen, über die sie selbst geflohen waren, um in die Tiefe zu klettern. Die Jacht drehte sich scheinbar schwerfällig von dem größeren Schiff weg, nahm aber nun sichtbar Fahrt auf, und die Distanz zwischen den beiden Schiffen wuchs rasch. Die Soldaten schossen jetzt ununterbrochen, und die Kugeln sirrten so dicht um Mikes Ohren und die der anderen, daß sie das Gefühl hatten, mitten in einen zornigen Hornissenschwarm hineingeraten zu sein, doch niemand wurde getroffen. Schließlich hörte das Gewehrfeuer auf. Mike, der sich wie alle anderen angstvoll an Deck zusammengekauert hatte, saß noch einige Sekunden mit eingezogenem Kopf da, ehe er es auch nur wagte, die Augen zu öffnen und wieder zu dem Frachter hinüberzublicken. Er war überrascht, wie groß der Abstand in den wenigen Augenblicken geworden war, die seit ihrer Flucht vergangen waren. Das Schiff war sicherlich schon fünfzig Meter entfernt, und die Distanz wuchs mit jeder Sekunde. Mike hörte ein schweres, flappendes Geräusch, sah hoch und gewahrte ein riesiges, geblähtes Segel, das sich plötzlich über ihren Köpfen spannte. Er konnte hören, wie der Schiffsrumpf unter den Kräften ächzte, die plötzlich auf ihn einwirkten. Das Schiff war nicht nur viel größer, als er bisher angenommen hatte, sondern auch sehr schnell. Plötzlich wußte er, daß sie in Sicherheit waren. Selbst wenn der Frachter mit seinen schweren Motoren schneller sein sollte als dieses Schiff -er würde eine halbe Stunde oder mehr brauchen, um überhaupt Fahrt aufzunehmen, und bis dahin waren sie längst in der

Nacht verschwunden. Langsam stand er auf, atmete ein paarmal tief und langsam ein und aus und versuchte sich dann einenÜberblick zu verschaffen. In den Planken gähnten Dutzende von großen, schwarz geränderten Löchern, wo die Gewehrkugeln eingeschlagen hatten. Zwei Fenster des flachen Ruderhauses waren zerbrochen, die Reling auf der linken Seite an gleich drei Stellen zerschmettert, und bei genauem Hinsehen glaubte Mike auch in den großen Segeln etliche Einschußlöcher zu erkennen - aber wie durch ein Wunder schien keiner von ihnen auch nur einen Kratzer abbekommen zu haben. »Seid Ihr unverletzt, Herr?« Mike drehte sich herum und sah sich ihrem Retter gegenüber. Zum ersten Mal hatte er jetzt Gelegenheit, das dunkle, beinahe edel geschnittene Gesicht des Fremden in Ruhe zu betrachten. Was er vorhin schon vermutet hatte, wurde nun zur Gewißheit -der Mann war kein Europäer, sondern Inder wie er selbst. Seine Haut war sehr viel dunkler als die Mikes und Augen und Haar tief schwarz. »Mir ist nichts passiert«, antwortete Mike. »Und den anderen auch nicht. Aber es war verdammt knapp.« »Die Götter waren auf unserer Seite«, bestätigte der Fremde. »Ja -und die Deutschen sind noch miserablere Schützen, als man sich erzählt«, sagte Bens Stimme hinter Mike. »Wer sind Sie?« fragte Mike. »Warum haben Sie uns geholfen? Sie hätten selbst dabei draufgehen können!« »Und wir auch«, sagte Ben. »Mein Name ist Ghunda Singh, Herr«, sagte der Fremde. Er legte die Handflächen vor dem Gesicht aneinander, berührte mit den Fingerspitzen seine Stirn und verbeugte sich fast bis zu den Schuhspitzen: »Es ist meine Aufgabe, für Eure Sicherheit zu sorgen. Bitte verzeiht mir, daß ich Euch nicht eher zu Hilfe eilen konnte. Aber es war unmöglich, sich dem Schiff auf hoher See zu nähern. Die Soldaten waren sehr wachsam.« »Ihre ... Aufgabe?« wiederholte Mike perplex. »Aber wieso? Ich ... ich meine ... ich kenne Sie ja nicht einmal.« »Dafür kenne ich Euch um so besser, Herr«, antwortete Singh mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Während der letzten sechs Jahre habe ich über Euch gewacht, so gut ich konnte.« »Das haben wir gemerkt«, spöttelte Ben. »Vor allem in London, als wir um ein Haar umgebracht wordenwären.«»Halt endlich die Klappe, Ben!« sagte Mike zornig und ohne den Blick von Singh zu wenden. »Der Mann am Hafen? Der waren Sie, nicht wahr?« Singhs Gesicht verdüsterte sich. »Ja, Herr«, sagte er. »Bitte verzeiht mir. Ich versuchte Euch zu warnen, aber ich hatte unsere Feinde unterschätzt. Sie stellten mir eine Falle. Ich konnte ihnen entkommen, aber da wart Ihr und Eure Freunde bereits an Bord dieses Schiffes gebracht worden. Wenn Ihr mich dafür bestrafen wollt, werde ich die Strafe mit Freuden entgegennehmen.«

»Bestrafen?« wiederholte Mike verwirrt. »Wie kommen Sie auf die Idee? Sie haben uns gerade das Leben gerettet, oder?« Singh verbeugte sich abermals auf jene sonderbare Weise. »Die Götter waren mir gnädig«, sagte er. Mike seufzte. »Meinetwegen«, sagte er. »Dann waren es eben die Götter. Aber tun Sie mir einen großen Gefallen, Singh?« »Euer Wunsch ist mir Befehl, Herr«, antwortete Singh. »Gut«, sagte Mike. »Dann hören Sie um Himmels willen auf, mich Herr zu nennen.«

Auch in dieser Nacht fand Mike kaum Schlaf, obwohl Singh ihm eine Kajüte ganz für sich allein zugewiesen hatte. Es war nicht die Aufregung über ihre abenteuerliche Flucht, die ihn sich bis in die frühen Morgenstunden hinein auf dem Bett herumwälzen ließ, sondern die Erinnerung an den Tod der beiden Soldaten, für den er sich immer noch die Schuld gab. Und die absurde Furcht, daß die Welt, die er bei seinem Aufwachen vorfinden würde, wieder nicht mehr dieselbe warwie am Abend. Noch vor wenig mehr als einem Monat war er nichts anderes als ein ganz normaler Schüler unter zweihundert anderen gewesen, und nun befand er sich am anderen Ende der Welt, war aus wochenlanger Gefangenschaft geflohen, man hatte auf ihn und seine Freunde geschossen, und er hatte erfahren, daß er seit sechs Jahren einen Schutzengel besaß, der unbemerkt über ihn gewacht hatte. Und um das Maß voll zu machen, wußte er immer noch nicht, warum all dies überhauptgeschehen war! Er drehte sich auf der schmalen Koje herum und gönnte sich noch einige Sekunden, in denen er in dem

grauen Zwielicht zwischen Schlaf und Wachsein dahindämmerte. Aber dann spürte er, daß er wieder einzuschlafen drohte, und im gleichen Moment erinnerte er sich an einen Traum, den er in dieser Nacht gehabt hatte; einen Traum, in dem zwei tote Männer an sein Bett getreten waren und vorwurfsvoll auf ihn herabgeblickt hatten. Ihre Kehlen waren durchschnitten gewesen, so daß in ihren Hälsen große, blutige Wunden wie zusätzliche Münder mit leuchtendroten Lippen klafften, sie hatten immer wieder auf ihn gedeutet, und schließlich hatte er an sich herabgesehen und erkannt, daß er einen Dolch in der Hand hielt, an dessen Klinge frisches Blut klebte. An dieser Stelle war zwar der Traum nicht abgebrochen, aber dumpfe, polternde Geräusche und Stimmengewirr drangen in sein Bewußtsein und ließen ihn gänzlich wach werden. Das war ihm nur recht, denn er hatte Angst davor, wieder einzuschlafen. Er fragte sich, ob er jemals wieder würde schlafen können, ohne die Gesichter der beiden Männer zu sehen. Mike setzte sich auf, gähnte hinter vorgehaltener Hand und rieb sich die Augen. Er hörte jetzt Bens Stimme aus dem Durcheinander heraus, dann die Juans und die Miß McCrooders. Sie alle klangen sehr aufgeregt. Für einen Moment war Mike ernsthaft versucht, sich wieder hinzulegen. Er war es einfach leid, sich zu streiten, zu diskutieren oder auch einfach nur irgendeine Entscheidung zu treffen. Für eine Sekunde wünschte er sich nichts mehr, als die Augen aufzuschlagen und festzustellen, daß alles nichts als ein Traum gewesen war. Der Streit in der benachbarten Kabine wurde lauter. Widerstrebend schwang Mike die Beine von der Liege und stand auf. Prompt stieß er sich den Kopf an der niedrigen Decke.

Mike rieb sich den schmerzenden Schädel. Das Privileg, als einziger eine Kabine für sich allein zu haben, hatte er mit dem Nachteil bezahlen müssen, daß es der kleinste Raum an Bord war und auch der niedrigste.Lautlos vor sich hin fluchend, öffnete er die Tür, trat auf den Gang hinaus und nur einen Augenblick später in das, was Singh am vergangenen Abend in einem Anfall von Größenwahn als Messe bezeichnet hatte. Er platzte mitten in eine Rauferei hinein. Ben und Paul waren aufeinander losgegangen. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte Paul bei dem ungleichen Kampf den kürzeren gezogen. Er lag auf dem Rücken, mitten in den Trümmern eines Stuhles, den er bei seinem Sturz offensichtlich zerbrochen hatte, und der einzige Grund, aus dem Ben sich nicht wieder auf ihn stürzte, war wohl Juan, der ihn am Arm gepackt hatte und ihn zurückhielt. Aber Ben war so aufgebracht, daß er sich neuerlich auf ihn stürzen wollte, da trat Miß McCrooder dazu. »Hört sofort auf«, sagte sie scharf. »Gewalt und Streit bringen uns nicht weiter.« Mike ahnte den Grund der Auseinandersetzung. »Was war hier los?« fragte er. »Ben wollte, daß Paul aus dem Zimmer geht, wenn wir miteinander reden«, antwortete Juan. »Was soll denn der Unsinn?« fragte Mike. »Stimmt das?« »Es ist kein Unsinn!« antwortete Ben gereizt. Er fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht, um das Blut wegzuwischen, das aus seiner Nase lief. »Ich bleibe nicht in einem Raum mit diesem Spion.« »Ich dachte, das Thema wäre bereits erledigt«, sagte Mike.

Ben schnaubte. »Und? Ich traue dem Kerl keinen Schritt über den Weg! Hat er uns gestern abend nicht beinahe ans Messer geliefert?« »Wie kommst du auf die Idee?« fragte Mike. Ben zog eine Grimasse, dann deutete er auf Paul. »Dann frag ihn doch einmal, wer gestern abend einen solchen Krach gemacht hat, daß die Wachen auf uns aufmerksam geworden sind!« »Ich war es jedenfalls nicht!« sagte Paul aufgebracht, der sich in der Zwischenzeit vom Boden erhoben hatte.»Aber das ist doch Unsinn«, widersprach Mike. »Überleg doch mal! Sie haben auf uns geschossen! Genausogut hätten sie auch Paul treffen können.« »Haben sie aber nicht!« gab Ben ungerührt zurück. »Sie haben überhaupt niemanden getroffen. Ein Dutzend gut ausgebildeter Soldaten schießt aus allen Rohren auf uns, und keiner kriegt auch nur eine Schramme ab -findet ihr das nicht auch komisch? Seht euch mal das Deck draußen an. Es sieht aus wie ein Schweizer Käse! Sie müssen ein paar hundert Schuß abgefeuert haben!« »Vielleicht sind sie miserable Schützen«, sagte Mike. Aber die Worte klangen selbst in seinen eigenen Ohren nicht ganz so überzeugend, wie er es gerne gehabt hätte. »Oder ganz ausgezeichnete«, antwortete Ben. Mike blinzelte. »Wie meinst du das?« »Vielleicht haben sie ja absichtlich danebengeschossen«, knurrte Ben. »Wer weiß -vielleicht sollten wir ja entkommen.« »Also, das ist nun wirklich Quatsch«, sagte Juan. »Warum sollte Winterfeld uns entkommen lassen nach aller Mühe, die er sich gemacht hat, uns gefangenzunehmen?«

»Damit wir ihn freiwillig an den Ort führen, den er mit Gewalt nicht von Mike erfahren hat«, sagte Ben. »Solange jemand bei uns ist, der uns auf Schritt und Tritt beobachtet, kann er uns getrost an der langen Leine laufen lassen, nicht wahr?« »Allmählich reicht es mir«, grollte Paul. Mike hob beruhigend die Hand, aber Paul schob ihn einfach zur Seite, ballte die Fäuste und baute sich herausfordernd vor dem größeren Jungen auf. »Wenn du das wirklich glaubst, dann komm mit mir an Deck, und wir bringen die Sache hinter uns.« Bens Augen glitzerten tückisch. »Gern«, sagte er. »Kommst du allein, oder bringst du deinen Aufpasser mit?« Er deutete auf Mike. »Ich nehm's auch mit euch beiden auf, wenn es sein muß.« Plötzlich lag eine Stimmung von Gewalttätigkeit in der Luft, die Mike fast anfassen zu können glaubte. »Jetzt ist es endgültig genug!« mischte sich Miß Mc-Crooder energisch ein. »Wir wollen lieber überlegen, was wir als nächstes tun.« »Wir fahren nach Hause, denke ich«, antwortete Juan schnell. Auch er war froh, daß jemand von dem Streit ablenkte. »Das dachte ich bis vorhin auch«, sagte Miß McCrooder. »War einer von euch heute morgen schon an Deck?« Ein allgemeines Kopfschütteln antwortete ihr. »Das dachte ich mir. Ich verstehe nicht viel von Nautik, wißt ihr, aber die Himmelsrichtungen kann ich zur Not noch erkennen. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann fahren wir auf nordöstlichem Kurs.« Aus dem ernsten Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde Sorge. »Und?« fragte André. »Nordöstlicher Kurs, von Rio de Janeiro aus«, erklär

te Mike, »bedeutet Kurs aufs offene Meer - nicht wahr?« Die beiden letzten Worte galten Miß McCrooder, die nur stumm nickte. »Aber das ist doch Unsinn!« protestierte Juan. »Dieses Schiff ist viel zu klein, um den Atlantik zu überqueren. Wenn Singh vorhat, damit nach England zurückzusegeln, muß er verrückt sein!« »Ich fürchte, das hat er nicht vor«, sagte Miß McCrooder. »Ich habe ihn gefragt, wohin wir segeln, aber er hat mir nicht geantwortet.« »Das war mir leider nicht möglich, Mylady«, sagte Singh von der Tür aus. »Es war mir nicht erlaubt, einem anderen als meinem Herrn das Ziel unserer Reise mitzuteilen.« Miß McCrooder und die Jungen fuhren erschrocken zusammen. Sie hatten gar nicht gemerkt, daß der Inder die Messe betreten hatte. Es war Miß McCrooder anzusehen, wie peinlich es ihr war, daß der Inder ihre Worte gehört hatte -und auch das verstanden haben mußte, was sie nicht ausgesprochen hatte. »Na, dann erlaube ich es Ihnen jetzt«, sagte Mike, um das unangenehme Schweigen zu brechen. »Wohin segeln wir? Sie haben doch nicht vor, in dieser Nußschale den Atlantik zu überqueren?« Singh lächelte geheimnisvoll. »Nein, Herr«, sagte er. »Obwohl es durchaus möglich wäre. So eine Reise ist schon von kleineren Schiffen bewältigt worden. Doch unser Ziel liegt auf dieser Seite des Ozeans.« »Dann könnten Sie ja so freundlich sein, es uns zu verraten«, grollte Ben. »Es sei denn, Sie haben uns nur befreit, um uns zu einer kleinen Kreuzfahrt einzuladen.« Singh zögerte. Er lächelte noch immer, aber Mike erkannte auch deutlich die Unentschlossenheit, die sich hinter diesem Lächeln verbarg. »Ich ... fürchte, das darf ich nicht«, sagte er schließlich. »Das Ziel unserer Reise ist geheim.« »He, he!« protestierte Mike. »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß Sie reden dürfen. Ich habe keine Geheimnisse vor meinen Freunden.« Singhs Gesichtsausdruck sah plötzlich gequält aus. »Verzeiht mir, Herr«, sagte er. »Aber ich fürchte, ich kann Eurem Befehl nicht gehorchen. Die Anweisungen, die Euer Vater für mich hinterließ, sind eindeutig.« Mike mußte sich beherrschen, um nicht herauszuplatzen. »Nun hören Sie endlich mit dem blödsinnigen Herr auf!« sagte er. »Mein Name ist Mike Kamala -« »Nein, Herr«, unterbrach ihn Singh sanft, »das ist er nicht.« Mike blinzelte. »Nicht?« Singh schüttelte den Kopf. »Unter diesem Namen seid Ihr in England aufgewachsen, doch er ist falsch. Euer Vater wählte ihn, um Euch zu schützen, denn er fürchtete, daß seine Feinde Euch als Druckmittel benutzen würden, wüßten sie von Eurer wahren Identität. Nicht zu Unrecht, wie sich gezeigt hat. Euer wirklicher Name ist Dakkar. Ihr seid Prinz Dakkar.« Mike sah aus den Augenwinkeln, wie Paul zusammenfuhr und sein Gesicht jede Farbe verlor, Ben und André rissen verblüfft die Augen auf, während Juan nach einer ersten Sekunde der Überraschung auf eine sonderbare Weise zu lächeln begann und Chris ihn mit offenem Mund und unübersehbarer Ehrfurcht anstarrte. »Prinz Dakkar?« wiederholte Mike ungläubig. Singh legte wieder die Hände aneinander und verbeugte sich auf die gleiche Weise wie am Abend zuvor. »Wie Euer Vater vor Euch und dessen Vater vorihm«, antwortete er. »Und Euer Sohn, solltet Ihr Kinder zeugen und die Linie fortsetzen.« »Und Sie sind -« »Euer Diener und Leibwächter«, sagte Singh. »Wie mein Vater der Leibwächter Eures Vaters war und mein Großvater der des Ihren.« Er lächelte flüchtig. »Wie Ihr bin auch ich der letzte meines Geschlechtes.« »Na, dann haben wir ja wenigstens etwas gemein«, murmelte Mike. Er fühlte sich noch immer wie vor den Kopf geschlagen. Prinz? Er sollte ein leibhaftiger Prinz sein? Das war unfaßbar - aber auch ziemlich aufregend. Plötzlich fühlte er ein fast ehrfürchtiges Schaudern. »Ihr ehrt mich, Herr«, sagte Singh, »doch wir haben nichts gemein. Ihr seid der Sohn eines Radschahs, der den Göttern näher steht als den Menschen, während ich nur ein unbedeutender Krieger aus der Kaste der Sikhs bin. Mein Leben zählt nichts, wenn Ihr es befehlt.« »Dann habe ich gleich den ersten Befehl für dich«, sagte Mike. »Nämlich, daß du in Zukunft keine Befehle mehr von mir annehmen wirst. Du kannst meinetwegen weiter meinen Leibwächter spielen oder unseren Kapitän und Steuermann, aber ich will nicht, daß du dich benimmst, als würdest du mir gehören.« Singh nickte demütig. Er widersprach nicht, aber Mike spürte auch so, daß er sich diesem Befehl nicht so einfach beugen würde. »Also gut«, fuhr Mike fort. »Und jetzt kannst du uns endlich verraten, wohin wir fahren.« Singh seufzte. »Es tut mir leid, Herr«, sagte er. »Doch ich fürchte, daß ich das nicht kann. Auch ich kenne das Ziel unserer Reise nicht genau. Mein Auftrag war, bis zu Eurem einundzwanzigsten Geburtstag über

Euch zu wachen und Euch dann zur Seite zu stehen, um die Vergessene Insel zu finden.« »Die Vergessene Insel?« »Der Name, den Euer Vater für dieses Eiland wählte«, erklärte Singh. »Sie ist auf keiner Seekarte verzeichnet. Niemand weiß von ihrer Existenz. Auch ich weiß nur ungefähr, wo sie zu suchen ist. Das Seegebiet, das Euer Vater mir nannte, ist groß genug, um ein Leben lang darin nach ihr suchen zu können. Und es heißt, daß ein Zauber sie beschützt. Die Göttin Kali selbst wacht über das Erbe, das Euer Vater Euch hinterließ.« Mike gab sich Mühe, sich seine Enttäuschung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. »Aber welchen Sinn soll dieses Erbe haben, wenn niemand weiß, wo es zu finden ist?« beschwerte er sich. Singh machte eine enttäuschte Handbewegung. »Der Weg war in den Papieren beschrieben, die Euer Vater für Euch hinterlegt hat«, sagte er. »Ohne sie, fürchte ich, wird es uns kaum möglich sein, die Vergessene Insel zu finden.« »Ja, und die Papiere hat Winterfeld«, sagte Juan. »Also lange Rede, kurzer Sinn -wir können genausogut aufgeben. Du hast es selbst gesagt - wir können ein Leben lang nach dieser Insel suchen, ohne sie zu finden. Also ist es nur vernünftig, wenn du uns im nächsten Hafen an Land setzt.« »Ich fürchte, das wird nicht gehen«, antwortete Singh in einem Tonfall echten Bedauerns, der aber zugleich auch keinen Widerspruch zuließ. Er deutete auf Paul. »Sein Vater besitzt die Papiere meines Herrn. Die Gefahr, daß er sie entschlüsselt und die Position des Eilandes herausfindet, ist zu groß. Das Geheimnis der Vergessenen Insel darf auf keinen Fall in die falschen Hände geraten.«

»Was ist auf dieser Insel verborgen?« fragte Mike. »Weißt du es?« Singh nickte. »Aber du wirst es uns nicht sagen«, fuhr Mike fort, als er begriff, daß der Sikh von sich aus nicht weiterreden würde. »Das darf ich nicht«, antwortete Singh. »Auch nicht, wenn ich es dir befehle?« frage Mike. »Auch dann nicht«, antwortete Singh. »Es tut mir leid. Bitte verzeiht mir.« »Was zum Teufel ist denn das für ein merkwürdiges Geheimnis?« begehrte André auf. »Du tust ja so, als stünde das Schicksal der ganzen Welt auf dem Spiel.« »Vielleicht ist das auch so«, antwortete Singh mitgroßem Ernst.Mike schauderte. Und er war ganz offensichtlich nicht der einzige, den Singhs Worte mit einem Gefühl eisigen Fröstelns erfüllten. Auch die anderen blickten den Inder überrascht, aber auch entsetzt an. In Singhs Worten war etwas gewesen, was sie zu einer düsteren Prophezeiung hatte werden lassen. Und ganz plötzlich hatte Mike Angst.

Singh stand im Heck des Schiffes, hatte ein Fernrohr an das rechte Auge gehoben und blickte konzentriert nach Süden. Es war nicht das erste Mal an diesem Abend, daß er das tat, und es war auch nicht das ersteMal, daß Mike ihn dabei beobachtete und sich fragte,wonach der Sikh eigentlich suchte. Während der letzten drei Tage hatte Mike ihn sehr oft so dastehen sehen.Mike beschattete die Augen mit der Hand und blinzelte angestrengt in die gleiche Richtung, ohne allerdings mehr als Wolken und das monotone Silberblau des Ozeans zu erkennen. Sie fuhren jetzt seit drei Ta