122186.fb2 Die vergessene Insel - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 4

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gen nach Norden, wobei sie die meiste Zeit vor dem Wind kreuzten, manchmal aber auch den kleinen Hilfsmotor der Jacht benutzt hatten, und er hatte in diesen drei Tagen nicht viel mehr als eben dies erblickt; vom gelegentlichen Schemen einer Insel oder der dünnen Linie der Küste, der sie sich ein paarmal genähert hatten, abgesehen. Während der ersten beiden Tage hatte Mike den Anblick genossen. Er war ihm gewaltig vorgekommen, ehrfurchtgebietend und manchmal -wie jetzt, wenn die Dämmerung hereinzubrechen und die Sonne das Meer mit flüssigem Gold und Rot zu überschütten begann - auch ein bißchen romantisch. Aber all diese Gefühle hatten eines gemeinsam: sie nutzten sich rasch ab. Mittlerweile ging ihm die Monotonie des Meeres gehörig auf die Nerven. Singhs Schweigen übrigens auch. Der Sikh redete nur, wenn er angesprochen wurde, und er antwortete auch dann nur mit knappen Worten. »Wonach suchst du eigentlich die ganze Zeit?« fragte Mike. Singh setzte das Fernrohr ab, drehte sich halb zu dem Jungen herum und sah ihn ohne Überraschung an. Mike hatte sich alle Mühe gegeben, leise zu sein. Er hatte sogar darauf geachtet, daß sein Schatten nicht in Singhs Gesichtsfeld fiel, damit er ihn nicht verriet. Trotzdem mußte Singh schon die ganze Zeit über gewußt haben, daß er da war. Beharrlich an seiner Schweigsamkeit festhaltend,reichte Singh ihm das Fernrohr und deutete mit deranderen Hand in die Richtung, in die er zuvor geblickt hatte. Mike setzte das Fernrohr an.Im ersten Moment sah er so gut wie nichts. Der Horizont hüpfte so wild in dem runden, vergrößerten Ausschnitt der Welt auf und ab, den er durch das Glas sah, daß ihm fast schwindelig wurde, und er mußte

die andere Hand zu Hilfe nehmen, um das Fernrohr ruhig zu halten. Aber auch danach erkannte er nichts anderes als den Horizont - nur etwas näher. Singh berührte das Fernrohr mit den Fingerspitzen und drückte es ein Stückchen nach rechts, und für eine Sekunde blitzte etwas vor Mike auf. Er verlor den Gegenstand sofort wieder aus den Augen, aber nun wußte er, wo er zu suchen hatte, schwenkte das Glas wieder zurück - und erstarrte vor Schrecken. Das Schiff war selbst durch das Fernrohr betrachtet kaum größer als ein Fingernagel; nur ein Umriß, der im regelmäßigen Auf und Ab der Wellen auf dem Horizont erschien und wieder dahinter verschwand, aber Mike wußte trotzdem sofort, was er da sah. »Die LEOPOLD!« Seine Hände zitterten, als er dasFernrohr wieder absetzte und an Singh zurückgab.Singh schob das Fernrohr zusammen und verstaute es unter seiner Jacke. »Ich beobachte sie schon seit einer Stunde«, sagte er. »Sie holt auf. Allerdings nicht sehr schnell.« »Wie lange verfolgen sie uns schon?« fragte Mike. Er war sehr beunruhigt. »Die ganze Zeit«, antwortete Singh. Er lächelte flüchtig. »Und wir folgen ihnen.« »Indem wir vor ihnen hersegeln?« fragte Mike zweifelnd. »Das ist ja gerade der Trick«, antwortete Singh. »Es ist unsere einzige Chance, die Vergessene Insel zu finden, wenn wir uns an Winterfelds Fersen heften. Denn seine Aussichten, die Papiere Eures Vaters zu entschlüsseln und die Position der Insel herauszufinden, sind etwa hundertmal besser als unsere, durchblindes Suchen ans Ziel zu gelangen.« »Was verschweigst du uns noch, Singh?« fragte Mike. Sing lächelte - und schwieg.

Mike wollte seine Frage wiederholen, als er das Geräusch der sich öffnenden Tür vernahm. Etwas verärgert drehte er sich herum und gewahrte Paul, der gebückt aus der Kajüte trat und grüßend die Hand hob. Mike erwiderte die Geste automatisch, während Singh die Gelegenheit ergriff, sich aus dem Staub zu machen. Allmählich begann Mike das Geschick des Inders zu bewundern, ihm immer wieder auszuweichen, ehe er Gelegenheit fand, ihn wirklich auf ein Thema festzunageln-und das, obwohl die Jacht nun wirklich nicht groß war. »Hallo, Prinz«, begrüßte ihn Paul -was Mikes Laune auch nicht weiter hob. Er hatte zwar gleich am ersten Morgen klargemacht, daß er sich kein bißchen anders fühlte als vor dem Zeitpunkt, da Singh seine wahre Identität enthüllt hatte, und auch nicht anders behandelt werden wollte (was die anderen sowieso nicht getan hätten), aber natürlich konnte sich keiner der Jungen eine kleine Stichelei dann und wann verkneifen.»Das Essen ist gleich fertig«, sagte Paul. »Miß Mc-Crooder schickt mich, um dich zu holen. Nicht, daß du eine unserer köstlichen Mahlzeiten versäumst und vom königlichen Fleische fällst« Mike zog eine Grimasse. Es gab an jedem Tag zumindest einen Moment, an dem sich er und die anderen fast auf das Frachtschiff zurückwünschten - wenn das Essen serviert wurde. Singh hatte den Jungen einen Schnellkurs im Segeln erteilt, so daß sie ihm bei der Führung des Schiffes zur Hand gehen konnten, während Miß McCrooder wie selbstverständlich die Kombüse mit Beschlag belegt hatte und sich um das leibliche Wohl ihrer Schützlinge kümmerte. Der Vorsatz war sicher löblich -aber Miß McCrooder war leider Gottes eine miserable Köchin,

»Gleich«, seufzte Mike mit einem Ausdruck übertriebener Verzweiflung in der Stimme. »Laß mich nur noch ein wenig Kraft sammeln. Außerdem ist der Sonnenuntergang so prächtig.« Das war allerdings nicht der ganze Grund, aus dem Mike zögerte. Was er durch das Fernrohr gesehen hatte, hatte ihn doch mehr erschreckt, als er zugeben wollte. Fast ohne sein Zutun ging sein Blick wieder nach Süden und irrte über den Horizont. Wahrscheinlich würden noch Stunden vergehen, bis das Schiff nahe genug herangekommen war, um es mit bloßem Auge zu entdecken. Aber er wußte, daß es da war, und dieses Wissen allein bereitete ihm Unbehagen. »Wonach hältst du Ausschau?« fragte Paul. Er kniff die Augen zusammen und blickte konzentriert in die gleiche Richtung wie er, und für einen Moment war Mike fast sicher, daß er das Schiff seines Vaters sah. Oder wußte, daß es da war. Der Gedanke gab Mike einen scharfen Stich-und ließ ihn zugleich sein schlechtes Gewissen wieder spüren. Er vertraute Paul; sosehr, daß er ihm ohne zu zögern sein Leben anvertraut hätte. Und doch ... ein winziges Mißtrauen war da, wie ein Stachel, der sich in seine Haut gebohrt hatte und den er einfach nicht herausbekam, so sehr er es auch versuchte. Mike schämte sich dieses Gefühls, aber er wurde es einfach nicht los. »Nein«, antwortete er hastig. »Ich sehe mir wirklich den Sonnenuntergang an, das ist alles.« Paul sah ihm zweifelnd in die Augen, und Mike fügte etwas leiser hinzu: »Außerdem wollte ich mit Singh sprechen, was mir aber wieder mal nicht gelungen ist. Ich habe noch nie jemanden gekannt, der so stur sein kann wie er. Und ein solches Geschick hat, direkten Fragen auszuweichen.«

»Stimmt«, sagte Paul. »Sogar solchen, die man noch gar nicht gestellt hat.« Sie lachten beide. Es war ein sehr entspanntes, befreiendes Lachen, und vielleicht war es auch der Grund, aus dem Mike plötzlich den Mut aufbrachte, Paul die Frage zu stellen, die ihm seit drei Tagen auf der Seele brannte: »Sag mal -tut es dir überhaupt nicht leid, daß du jetzt bei uns bist, statt bei deinem Vater?« »Du traust mir auch nicht, wie?« antwortete Paul leise. Mikes Frage schien ihn sehr getroffen zu haben. »Unsinn!« erwiderte Mike. »Ich versuche nur, mir vorzustellen, wie es sein muß ... immerhin ist er dein Vater, und -« »Und du bist mein Freund!« fiel ihm Paul ins Wort, so unerwartet heftig, daß Mike ihn überrascht ansah. Paul schwieg eine Sekunde, biß sich auf die Unterlippe und fuhr dann leiser fort: »Ach zum Teufel! Ich weiß allmählich selbst nicht mehr, was ich glauben soll! Wenn ich an eurer Stelle wäre, dann würde ich mir wahrscheinlich auch nicht trauen. Wenn du mir die Geschichte vor vier Tagen erzählt hättest, hätte ich dich einfach ausgelacht. Mein Vater als Entführer und Attentäter?« Er schüttelte den Kopf. »Was immer auf dieser Insel ist, muß unvorstellbar wertvoll sein, daß er sich so weit hinreißen läßt. Hast du denn wirklich keine Ahnung, was es sein kann?« Mike verneinte. »Wie war das?« sagte er mit einem gequälten Lächeln. »Wenn du mir die Geschichte vor vier Tagen erzählt hättest, hätte ich dich einfach ausgelacht?« Sie lachten wieder, aber viel leiser als vorhin, und es klang ein wenig unecht. Mike verfluchte sich in Gedanken dafür, diese ganz und gar überflüssige Frage überhaupt gestellt zu haben. Wenn diese Geschichte

vorbei war, dachte er, dann würde es wohl eine Menge geben, wofür er sich bei Paul entschuldigen mußte. Mike drehte sich zur Reling und blickte wieder auf die See hinaus, diesmal aber ganz bewußt nicht in Richtung der noch unsichtbaren, aber näher kommenden LEOPOLD. Und vielleicht zum ersten Mal, seit dieses Abenteuer begonnen hatte, begann er zu begreifen, daß sich nicht nur die äußeren Umstände seines Lebens verändert hatten. Selbst wenn alles doch noch ein gutes Ende nahm - Mike würde nie mehr derselbe sein wie vorher. Ganz plötzlich wußte er, daß er nie wieder nach Andara-House zurückkehren würde, ganz gleich, wie diese Reise auch endete, ja vielleicht nicht einmal mehr nach England. Der Gedanke erfüllte ihn mit einer sonderbaren Wehmut. An jenem Morgen in London, als sie das Boot bestiegen und zu der verhängnisvollen Fahrt aufgebrochen waren, war ein Abschnitt seines Lebens zu Ende gegangen, den er nie wieder zurückholen konnte. Was nun vor ihm lag, das war vielleicht aufregend, vielleicht gefährlich, vielleicht sogar besser als die Jahre vorher - aber es war auf jeden Fall unbekannt, und aus diesem Grund machte es ihm angst. Dieses Gefühl mußte deutlich auf seinem Gesicht zu sehen sein, denn Paul legte ihm plötzlich die Hand auf die Schulter und sagte in mitfühlendem Tonfall: »Es wird schon nicht so schlimm werden. Weißt du, ich habe trotz allem ein gutes Gefühl bei der Geschichte. Es gibt Tausende von kleinen Inseln in dieser Gegend. Wahrscheinlich schippern wir noch eine Weile durch die Gegend, und irgendwann gibt mein Vater auf.« »Das glaube ich nicht«, sagte Mike. »So schnell gibt dein Vater nicht auf. Er hat zu viel riskiert, um jetzt

die Flinte ins Korn zu werfen. Und er ist seinem Ziel ja schon ziemlich nahe.«

»Falls es dieses Ziel wirklich gibt, ja«, sagte Paul. »Wie meinst du das?« »So, wie ich es sage«, antwortete Paul. »Weißt du, ich habe nichts gesagt, als die anderen dabei waren, aber ein bißchen verrückt kam mir die Geschichte schon vor, die dein schwarzäugiger Schutzengel da erzählt hat. Eine Insel, die von Zauberei geschützt wird! Etwas, was so kostbar ist, daß er es nicht einmal dir verraten darf, worum es sich handelt, obwohl es dir gehört. Irgendwie klingt das alles nach einer Abenteuergeschichte, die sich jemand ausgedacht hat, findest du nicht?« Er lachte. »Am Ende wird er noch behaupten, daß diese Göttin selbst sie beschützt, von der er immer spricht... wie hieß sie doch gleich?« Mike starrte ihn an. »Kali«, flüsterte er. Und dann fügte er mit leiser Stimme hinzu: »Das hat er gesagt, Paul. Mein Gott, ganz genau das hat er gesagt!« »Ich weiß«, sagte Paul. »Und?« »Ja, verstehst du denn nicht?« Plötzlich schrie Mike fast. »Es heißt, daß Kali selbst über ihr Geheimnis wacht! Und das hier ist Kali!« Er zerrte den Anhänger unter dem Hemd hervor. Pauls Unterkiefer klappte vor Staunen herab, als er begriff. Er starrte das goldene Abbild der Göttin Kalian. »Du meinst -«»Ich meine«, unterbrach ihn Mike aufgeregt, »daß wir alle blind gewesen sind. Ich hatte das Ding die ganze Zeit bei mir, und Singh hat es sogar gesagt!« »Aber was soll es uns helfen?« fragte Paul. »Wir haben es doch schon so oft untersucht.« Das stimmte. Aber Mike wußte, daß er auf der richtigen Spur war. »Schnell«, sagte er aufgeregt. »Gehenwir zu Singh.« Sie fanden den Sikh in der Messe, wo er Miß McCrooder dabei zur Hand ging, das Geschirr aufzutragen.

Singh war ein unermüdlicher Arbeiter. Wenn er nicht mit den Segeln hantierte, das Ruder bediente oder über seinen Seekarten brütete, machte er sich auf hundert andere Arten nützlich und half Miß McCrooder sogar beim Kochen. »Singh!« rief Mike aufgeregt, ohne auf die fragenden Blicke der anderen Jungen zu achten, die überrascht in ihren Gesprächen innehielten, als Paul und er hereingepoltert kamen. »Ich glaube, ich weiß es jetzt!« sagte er atemlos. »Hier! Es heißt, Kali selbst wacht über das Geheimnis, erinnerst du dich?« Er streifte die Kette ab und gab Singh den Anhänger. Der Sikh nahm ihn entgegen, legte ihn auf seine ausgestreckte Handfläche und betrachtete ihn ehrfürchtig. »Kali!« flüsterte er. »Mein Vater hat es mir hinterlassen«, antwortete Mike. »Es ist das einzige, was ich überhaupt von ihm habe.«Zum ersten Mal, seit Mike den Inder kennengelernt hatte, war Singh aufgeregt. »Kali«, murmelte er noch einmal. Dann sah er mit einem Ruck auf. »Die Karte«, sagte er. »Ihr habt mir erzählt, daß bei den Papieren Eures Vaters auch eine Seekarte war - erinnert Ihr Euch?« »Ja, warum?« »Glaubt Ihr, daß Ihr sie wiedererkennt?« fragte Singh. Mike nickte zögernd. Er verstand überhaupt nichts vom Kartenlesen, aber schließlich hatte Winterfeld ihm recht genau erklärt, was darauf zu sehen war. »Ich glaube schon - aber wieso?« Singh schloß die Hand schützend um das Amulett. »Wir brauchen den Tisch«, sagte er dann. »Schnell!« Natürlich ließen sich die Jungen das nicht zweimal sagen. Unter beifälligen Bemerkungen verschwanden Teller und Besteck in Windeseile. »Aber ... aber dasEssen!« protestierte Miß McCrooder. »Was ist denn mit dem Essen? Ich habe mir solche Mühe gegeben!« Niemand schenkte ihr Beachtung. Nach kaum einer Minute war der große Tisch frei, und Singh schleppte einen ganzen Arm voll zusammengerollter Seekarten an, die er darauf ablud und eine nach der anderen glattzustreichen begann. Mikes Mut sank, als er das Durcheinander von Linien, Zahlen, Markierungen, Längen-und Breitengraden sah. Obwohl er noch immer davon überzeugt war, daß des Rätsels Lösung tatsächlich irgendwie mit seinem Amulett zu tun hatte, fragte er sich, wie um alles in der Welt sie die Darstellung der Göttin Kali zur Vergessenen Insel führen sollte. »Also gut«, begann Singh, nachdem er die Karten nacheinander ausgerollt und auf dem Tisch übereinandergestapelt hatte. »Versuchen wir die Karte zu finden, die Winterfeld Euch gezeigt hat.« Was so leicht gesagt war, erwies sich als zeitaufwendiges und anstrengendes Unterfangen. Singh sortiertezuerst alle Karten, die andere Seegebiete als die Karibik zeigten, aus. Aber es verblieb immer noch ein großer Rest, und als vor Mike nur noch drei Karten lagen, hatte er rasende Kopfschmerzen und brennende Augen. Aber damit fing die eigentliche Arbeit erst an. Irgendeine Beziehung zwischen dem Amulett und der Karte mußte es geben. Sie versuchten, die Größe des Anhängers mit der irgendeiner Insel in Beziehung zu

setzen. Nichts. Sie suchten nach einem Eiland oder einer Inselgruppe, die der Form des Amuletts ähnelte. Ohne Ergebnis. Sie suchten nach einer Insel, deren Name ungefähr so klang wie Kali, ohne sie zu finden. Sie ließen das Amulett wie eine Münze auf der Schmalseite über die Karte rollen und hofften, siewürde sie wie durch Zauberei zu ihrem Ziel führen,und taten noch viele andere Dinge, die auf bloßes Herumraten hinausliefen. Schließlich sprach Juan aus, was sie sich insgeheim alle schon dachten. »Das hat doch keinen Zweck«, sagte er müde. »Wir können noch Jahre suchen, ohnediese verdammte Insel zu finden. Wahrscheinlich istsie gar nicht auf dieser Karte verzeichnet, sondern nur auf der, die dein Vater dir hinterlassen hat.« »Wenn das so wäre, hätte mein Vater sie längst gefunden«, sagte Paul. »Wenn es eine Insel gäbe, die nur auf dieser einen Karte verzeichnet ist, dann brauchte er sie nur mit einer x-beliebigen anderen Seekarte zu vergleichen, und schon hätte er sie. Nein, ich wette, daß diese Insel auf keiner Karte der Welt zu finden ist.« »Welchen Sinn sollte diese Karte dann überhaupt haben?« fragte André. An Pauls Stelle antwortete Mike. »Ich weiß es nicht. Aber irgend etwas ... war anders als hier.« Er nahm eine der drei übriggebliebenen Karten zur Hand und blickte sie konzentriert an. Er hatte immer mehr das Gefühl - nein, er wußte! -, daß er die Lösung im wahrsten Sinne des Wortes in den Händen hielt. Aber sie schien etwas von einem glitschigen Fisch an sich zu haben, immer, wenn er sie wirklich ergreifen wollte, glitt sie ihm zwischen den Fingern hindurch. »Vielleicht hat dein Vater sie aus dem Gedächtnis gezeichnet und deshalb nicht ganz richtig?« vermuteteMiß McCrooder.Mike schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Sie sah genau aus wie diese, aber sie war...« Ganz plötzlich fiel es ihm wieder ein. »Sie war auf Pergament gezeichnet«, sagte er. »Auf ganz dünnem Pergament, das fast durchsichtig war!«

Der Inder sah plötzlich sehr angespannt drein. »Pergament?« vergewisserte er sich. »Beinahe durchsichtiges Papier?« Mike nickte, und Singh fuhr fort: »Erinnert Ihr Euch, wie groß sie war?« »Nicht besonders groß«, antwortete Mike. »Viel kleiner als diese hier. Ich habe mich noch gewundert, warum sie so klein war. Er muß manche von den Zahlen und Buchstaben mit der Lupe geschrieben haben.« »Das ist es!« sagte Singh. »Ich glaube, Ihr habt die Lösung gefunden.« »So?« murmelte Mike. »Na, wenigstens einer glaubt das.« Singh lächelte flüchtig. Er stand auf. »Wir haben kein Pergament an Bord«, sagte er, »und auch nicht das nötige Werkzeug, um eine wirklich genaue Karte zu zeichnen. Aber vielleicht geht es auch anders herum.« Er trat an den Kartenschrank und kam gleich darauf mit Schere, Klebstoff, Reißnägeln und einigen starken Kartons zurück. »Was hast du vor?« fragte Mike. Singh lächelte abermals, antwortete aber auch jetzt nicht, sondern wandte sich an Juan. »Darf ich Euch bitten, mir eine der Laternen von Deck zu bringen?« Als Juan sich gehorsam entfernte, deutete Singh auf die Karte und reichte André die Reißnägel. »Befestigt sie an der Wand«, sagte er. »Direkt über dem Tisch. Und möglichst gerade.« Für jemanden, dessen Lebensinhalt das Dienen und Gehorchen war, dachte Mike, verstand sich Singh ziemlich gut aufs Befehle-Erteilen. Aber er sagte nichts, sondern sah wortlos weiter zu, was geschah. Juan brachte die Laterne, und während André mit Bens Hilfe die Karte an der Wand befestigte, begann Singh aus dem Karton einen rechteckigen Kasten zu falten, in dessen Vorderseite er ein kleines, rundes Loch schnitt. Behutsam plazierte er die Laterne in der Mitte der Tischplatte, zündete sie an und stülpte den schwarzen Kasten darüber, so daß ihr Licht fast vollkommen abgeschirmt wurde. Schließlich bat er Miß McCrooder, die Gaslampe herunterzudrehen, die die Messe erhellte. Mike sog überrascht die Luft zwischen die Zähne, als das Licht matter wurde und schließlich ganz erlosch. Es wurde nicht vollständig dunkel. Durch das Loch, das Singh in den Karton geschnitten hatte, fiel ein kegelförmiger Lichtstrahl auf die Karte an der Wand. Singh rückte die Lampe ein paarmal hin und her, bis der gelbe Kreis aus Licht genau auf das Zentrum der Karte gerichtet war. Dann nahm er das Amulett und setzte es in den ausgeschnittenen Kreis in der Pappe, der genau der Größe des Schmuckstückes entsprach. Das Ergebnis war verblüffend. Singhs improvisierte Laterna magica projizierte die Umrisse des Amuletts zigfach vergrößert auf die Karte an der Wand. Singh bewegte das Amulett noch ein paarmal vorsichtig, um es endgültig auszurichten, aber plötzlich war es, als glitte es ganz von selbst in die richtige Position. Und obgleich Mike bereits geahnt hatte, was geschehen würde, fühlte er doch ein fast ehrfürchtiges Schaudern, als Singh die Hand endgültig zurückzog. Der Schatten der Göttin war über eine Gruppe von sieben kleinen Inseln gefallen. Ihre Füße ruhten auf zwei langgestreckten Atollen, die genau nebeneinander angeordnet waren, und fünf ihrer sechs Hände berührten jeweils eine winzige Insel. Nur die sechste, linke obere Hand deutete ins Leere. Aber plötzlich wußte Mike, daß das gar nicht stimmte. Die Karte war

nicht korrekt. In diesem einen Punkt stimmten alle Karten der Welt nicht. Denn dort, wohin Kalis sechste Hand wies, lag die Vergessene Insel Prinz Dakkars.

Sie brauchten vier Tage, um die Position zu erreichen, die ihnen der Schatten Kalis verraten hatte. Das Wetter war günstig, und die ganze Zeit über wehte ein kräftiger Wind, so daß sie sich nur mit Hilfe der Segel fortbewegen und so kostbaren Treibstoff sparen konnten. Wahrscheinlich hätten sie die Insel bereits am Abend des vierten Tages erreichen können, doch Singh entschied, daß es sicherer war, bis zum nächsten Sonnenaufgang zu warten. Sie ankerten am westlichen Rand einer Inselgruppe, die aus drei großen und Dutzenden von kleinen Atollen bestand, zwischen denen sich ein wahres Labyrinth gefährlicher Riffe erhob. Niemand hatte Einwände dagegen gehabt, dieses Hindernis erst am nächsten Morgen zu durchqueren, denn dieses Unternehmen war wahrscheinlich schon bei Tageslicht lebensgefährlich. Bei Dunkelheit war es purer Selbstmord. So gingen sie zeitig schlafen, um am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe weiterzusegeln. Trotz aller Aufregung bei dem Gedanken an das, was sie am nächsten Tag erwarten mochte, schliefen sie alle bald ein. Ihren Verfolger hatten sie beinahe

vergessen.

Aber dieser sie nicht.

Mike wachte mitten in der Nacht auf, und er wußte zwar nicht, was, aber ganz genau, daß ihn etwas geweckt hatte. Schritte? Stimmen? Vielleicht auch nur eine Welle, die sich am Rumpf des Bootes gebrochen hatte; oder irgend etwas war umgefallen. Aber er war nicht von selbst wach geworden. Mike lauschte eine ganze Weile in die Dunkelheit hinein. Er hörte jetzt nichts mehr, aber er wußte, daß er sowieso keinen Schlaf mehr finden würde. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, daß die Sonne in einer guten halben Stunde bereits wieder aufging, und dann segelten sie ohnehin weiter. Also stand er auf, zog sich an und verließ seine Kajüte, sehr leise, um die anderen nicht zu wecken. Als er auf Zehenspitzen durch den niedrigen Gang schlich, drang ihm ein leichter, brandiger Geruch in die Nase - eine Mischung aus verschmortem Holz und brennendem Gummi, wie ihm schien. Mike verzog das Gesicht zu einem wehleidigen Grinsen-Miß McCrooders Essen gestern abend hatte ungefähr so geschmeckt. Gebückt näherte er sich der Tür, streckte die Hand nach der Klinke aus -und erstarrte mitten in der Bewegung. Der Brandgeruch wurde stärker. Es war nicht das Abendessen von gestern, das er roch. Der Geruch kam ... von draußen! Roter Feuerschein schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete und auf das Deck hinaustrat. Eine dichte Qualmwolke hüllte das hintere Drittel des Schiffesein.»Feuer!« schrie Mike. »Feuer an Bord!« Er hustete, hob schützend die Hand vor das Gesicht und bewegte sich vorsichtig in die schwarze Qualmwolke hinein, in der es immer wieder weiß und orangerot aufloderte. Asche, glühendheiße Luft und brennende Stoffetzen wehten ihm entgegen, und das Deck unter seinen nackten Füßen war bereits unangenehm warm. Ein Blick nach oben zeigte ihm, daß das Segel noch nicht Feuer gefangen hatte. Aber das allein war schon ein kleines Wunder, und es war nur noch eine Frage von Augenblicken, bis es geschehen würde. Die Hitze machte ihm das Atmen schwer und trieb ihm die Tränen in die Augen, so daß er kaum noch sah, was vor ihm lag, sondern halb blind auf das Zentrum des lodernden weißen Lichtes zustolperte. Er war sich der Gefahr, in der sie allesamt schwebten,

auf eine sonderbar distanzierte Art bewußt, fast als wäre er nur ein unbeteiligter Zuschauer, und außerdem erschien ihm die Vorstellung, auf einem Schiff auf hoher See zu verbrennen, so absurd, daß er Mühe hatte, gegen ein hysterisches Lachen anzukämpfen. Mike hatte fast das Heck der Jacht erreicht, als ihm klarwurde, daß es gar nicht das Schiff war, das brannte. Die Flammen schlugen aus dem kleinen Beiboot, das an einem Tau achtern angebracht war, aber sie brannten so hoch und mit solch wütender Kraft, daß es sich nur noch um Augenblicke handeln konnte, bis sie auf die Jacht selbst übergriffen. Taumelnd und mühsam um jeden Atemzug kämpfend, erreichte er das Heck, fiel auf die Knie und versuchte das Tau zu lösen, mit dem das kleine Ruderboot festgebundenwar.Mike schrie vor Schmerz, als seine Finger das Metall der niedrigen Reling berührten. Es war glühend heiß. Eine Sekunde lang hockte er wimmernd da und preßte die versengten Handflächen gegen den Leib, dann biß er die Zähne zusammen und versuchte es nocheinmal. Es war aussichtslos. Der Knoten hatte sich so festgezogen, daß Mike eine Brechstange gebraucht hätte, um ihn aufzubekommen, und er konnte nicht einmal richtig zupacken, denn auch das Tau selbst war mittlerweile so heiß, daß seine Berührung weh tat. Außerdem hatte der Wind gedreht, so daß die Flammen nun direkt in seine Richtung züngelten. Trotzdem riß und zerrte er verzweifelt weiter an dem Tau; mit dem einzigen Ergebnis allerdings, daß er sich die Fingernägel abbrach und Blut über seine versengten Hände lief. Hinter ihm wurden aufgeregte Stimmen laut. Schreie und das hastige Poltern von Schritten drangen durch das Prasseln der Flammen zu ihm. Das Holz unmittel

bar vor ihm war bereits schwarz, und in dem gesprungenen Lack begannen sich die ersten kleinen Glutnester festzusetzen. Noch eine Minute, allerhöchstens, und die Reling würde aufflammen wie ein Stück trockener Zunder. Mike raffte noch einmal all seine Kraft zusammen und zerrte mit aller Gewalt an dem Knoten. Aber er wußte, daß er es nicht schaffen

würde. Und dann war plötzlich Singh neben ihm. Mit einer

Hand packte er Mike, riß ihn in die Höhe, in der an

deren hielt er einen Dolch. Der Stahl durchtrennte das Tau, und die Strömung, die das Boot bis jetzt unruhig auf der Stelle hatte hüpfen lassen, ergriff es sofort und trieb es davon. Die Flammen, die noch vor einer Sekunde wie die gierigen Hände eines tausendfingrigen glühenden Ungeheuers nach dem Schiff gezüngelt hatten, griffen plötzlich ins Leere, und der Qualm begann sich zu lichten. Mike konnte wieder atmen. Alles begann sich um ihn zu drehen. Er hustete qualvoll, wankte und wäre zusammengebrochen, hätte Singh ihn nicht im letzten Moment aufgefangen. Ihm war entsetzlich übel, und er begann die Schmerzen in seinen Händen und die Atemnot erst jetzt richtig zu spüren. Durch einen Schleier aus Tränen und Schwäche nahm er wahr, wie plötzlich auch die fünf anderen und Miß McCrooder neben ihm auftauchten und ihn mit Fragen zu bestürmen begannen. Aber er war viel zu schwach, um zu antworten. Er verstand

nicht einmal die einzelnen Worte. »Laßt ihn in Ruhe!« sagte Miß McCrooder schließlich. »Seht ihr denn nicht, wie es ihm geht? Er ist -« Sie brach ab. Mike hörte, wie sie scharf die Luft einsog. »Deine Hände!« sagte sie erschrocken. »Mein Gott, Mike - was ist mit deinen Händen?« Mike antwortete auch darauf nicht -aber er konnte

einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken, als sie nach seinen Händen griff, um sie zu begutachten. »Schnell!« sagte sie. »Helft mir, ihn unter Deck zu bringen! Wir müssen ihn versorgen.« Mike wußte nicht, wer es war, der ihn unter den Armen ergriff und mehr unter Deck trug, als er ihn führte; er war einer Ohnmacht so nahe, wie es nur ging. Erst endlose Minuten später kam er wieder halbwegs zu sich. Er saß auf der Bank in der Messe, und seineHände steckten in dicken, weißen Verbänden, die sohinderlich und unpraktisch waren wie Fausthandschuhe. Die Verbrennungen, die er sich zugezogen hatte, waren gottlob nicht ganz so schlimm gewesen, wie es bei all dem Blut und Ruß auf seiner Haut ausgesehen hatte; trotzdem würde er spätestens am nächsten Morgen ein paar gehörige Brandblasen haben und sich wahrscheinlich tagelang jeden Handgriff dreimal überlegen müssen, den er tat. Aber alles in allem hätte es schlimmer kommen können-um nicht zu sagen, er hatte Glück gehabt. Miß McCrooder war gerade dabei, ihm das zum ungefähr fünften Mal zu versichern, als Singh und die anderen Jungen zurückkamen. Chris hatte Miß McCrooder dabei assistiert, Mikes Hände zu verbinden, während Paul, Juan, Ben und André dem Sikh geholfen hatten, das Schiff gründlich nach Schäden zu inspizieren und vor allem nach Glutnestern Ausschau zu halten, damit ihnen die Jacht nicht doch noch über den Köpfen abbrannte, wenn sie schon glaubten, es geschafft zu haben. Singhs erste Frage galt natürlich Mike. »Wie geht es Euch, Herr?« erkundigte er sich besorgt. »Seid Ihr schwer verletzt?« »Danke«, antwortete Mike. »Ich fühle mich schon wieder ganz gut. Es ist nicht so schlimm.«

Miß McCrooder hatte ihm zwar eindringlich erklärt, daß es nicht besonders schlimm war und er nicht einmal eine Narbe zurückbehalten würde, aber seine Hände fühlten sich an, als hätte jemand angefangen, ihm die Haut abzuziehen; und zwar jemand, der mit Feuereifer bei der Sache war. »Ihr habt großes Glück gehabt«, fuhr Singh fort. »Ihr hättet schwer verletzt oder gar getötet werden können. Wir alle haben großes Glück gehabt. Wäre das Feuer auch nur wenige Minuten später entdeckt worden -« »Das hat nichts mit Glück zu tun«, sagte Mike. »Ich habe jemanden gehört.« Juan, der unmittelbar neben Singh stand, riß ungläubig die Augen auf, aber der Sikh schien kein bißchen überrascht. »Jemanden gehört? Wen?« »Keine Ahnung«, sagte Mike. »Aber irgend jemand ist auf Deck herumgeschlichen. Ich bin davon wach geworden. Deshalb habe ich das Feuer rechtzeitig entdeckt.« Während er dies sagte, ließ er seinen Blick aufmerksam von einem Gesicht zum anderen schweifen. Aber er entdeckte nirgendwo ein verräterisches Blinzeln oder auch nur so etwas wie Verlegenheit. Wer immer es gewesen war, er hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt. »Moment mal«, sagte Ben. »Soll das heißen, jemand hat das Feuer ... gelegt?« »Wenn nicht der Blitz auf dem Beiboot eingeschlagen hat, ist das wohl die einzige Erklärung«, antwortete Mike. »Es war so«, sagte Singh ruhig. »Hier. Das habe ich aus dem Wasser gefischt.« Er warf ein Stück Segeltuch auf den Tisch, das er bis jetzt zusammengeknüllt in der Hand gehalten hatte. Mike griff ungeschickt mit seinen bandagierten Händen danach, und sofort fiel ihm der stechende Geruch auf.

»Petroleum?« fragte er. Singh nickte. »Ja. Deshalb brannte das Boot wie eine Fackel. Es wäre völlig aussichtslos gewesen, es löschen zu wollen.« »Das heißt, wir haben einen Verräter an Bord«, grollte Ben. Er sah Paul bei diesen Worten durchdringend an, und natürlich reagierte dieser ganz genau so, wie Mike befürchtet hatte. »Was starrst du mich so an?« schnappte er. »Glaubst du, daß ich es war?« Ben verzog abfällig die Lippen. »Zuerst das kleine Mißgeschick bei unserer Flucht, und jetzt das -du mußt uns wirklich für sehr blöd halten, wie?« »Kaum«, antwortete Paul herausfordernd. »Ausgenommen dich vielleicht. Denkst du, ich bin verrückt und zünde das Schiff an, auf dem ich selbst bin? Ich wäre zusammen mit euch verbrannt oder ertrunken. Denk mal darüber nach, Schlaumeier.« Singh deutete auf den petroleumgetränkten Lappen, den Mike wieder auf den Tisch zurückgelegt hatte. »Ich glaube, daß der, der das Feuer gelegt hatte, selbst nicht mit einem solchen Erfolg rechnete.« »Natürlich nicht«, sagte Paul sarkastisch. »Ich wollte nur das Beiboot versenken, daß sich niemand damit aus dem Staub machen konnte. Kann ja sein, daß einer vorhat, nach England zurückzupaddeln.« »Ich denke nicht, daß es dem Attentäter darum ging, das Boot zu versenken«, erwiderte Singh, noch immer sehr ruhig. »Worum dann?« fragte Mike. Singh machte eine vage Handbewegung. »Ein solches Feuer sieht man auf dem Meer meilenweit«, sagte er. »Noch dazu nachts.« Er seufzte. »Es wird gleich hell. Wir müssen die Segel setzen. Ich bin ziemlich sicher, daß wir bald Gesellschaft bekommen.«

Singh behielt recht. Nicht einmal zehn Minuten später begann der erste graue Schimmer der Dämmerung das Samtblau der Nacht zu zersetzen, und sie segelten los. Und als das Licht heller wurde und sie weiter sehen konnten, erblickten sie die LEOPOLD, die weniger als fünf Meilen entfernt war und mit voller Kraft auf die kleine Segeljacht zuhielt.

Ungeachtet seiner indischen Abstammung hatte Mike nie an ein vorherbestimmtes Schicksal geglaubt oder gar daran, daß es irgendwelche Mächte gab, die dieses Schicksal steuerten und sich irgendwie um das Tun und Sein der Menschen kümmerten. Aber wenn es sie gab, dachte er, dann hatten sie einen besonders bizarren Sinn für Humor und eine Schwäche für grausame Scherze. Ihre verzweifelte Flucht dauerte nunmehr gute vier Stunden. Die LEOPOLD war in dieser Zeit ein halbes dutzendmal so nahe gekommen, daß sie die Gestalten an Deck des riesigen Kriegsschiffes erkennen konnten, und ebensooft so weit zurückgefallen, daß sie kaum mehr ein Schatten auf dem Horizont gewesenwar.Das Schlachtschiff war sehr viel schneller als die kleine Segeljacht, aber Singh hatte sich als überaus geschickter Steuermann erwiesen, und es war ihm immer wieder gelungen, eine Fahrrinne in dem Labyrinth aus winzigen Inselchen und Atollen zu entdecken, die zu flach für den gepanzerten Giganten war, oder eine Passage zwischen zwei Riffen, durch die sie hindurchschlüpfen konnten, während ihr Verfolger das Hindernis weitläufig umschiffen mußte und dabei wertvolle Zeit verlor. Singh hatte mit dem deutschen Kriegsschiff regelrecht Katz und Maus gespielt. Zwei-oder dreimal hatten sie sogar ernsthaft ge

glaubt, der LEOPOLD entkommen zu sein, aber das Schiff war stets wie ein Gespenst wieder hinter ihnen erschienen, ein unheimlicher, riesiger Verfolger, den sie einfach nicht abschütteln konnten, ganz egal, wie sehr sie es auch versuchten. Aber nun war ihre Glückssträhne endgültig zu Ende. Sie hatten die Gruppe aus Inseln und Korallenriffen hinter sich gelassen und wieder Kurs auf offene Gewässer genommen, und in diesen war die LEOPOLD mit ihren mächtigen Maschinen der Jacht haushoch überlegen. Sie kam immer näher. Vielleicht hätte Mike den Gedanken, dieses Rennen am Ende doch zu verlieren, sogar noch akzeptiert, denn er bildete sich nicht ernsthaft ein, das Glück gepachtet zu haben. Was es ihm -und allen anderen auch - so schwermachte, sich in die scheinbar unvermeidliche Niederlage zu schicken, war der Umstand, daß sie ihr Ziel beinahe erreicht hatten. Vor einer halben Stunde hatte Singh wortlos auf einen Schatten gedeutet, der vor ihnen auf dem Horizont erschienen war, und obwohl er kein einziges Wort gesagt hatte, wußte Mike, was vor ihnen lag. Die Vergessene Insel. Der Anblick erfüllte Mike mit Zorn und Enttäuschung, die ihm fast die Tränen in die Augen trieb. Während der letzten halben Stunde war aus dem Punkt am Horizont eine gewaltige Felseninsel geworden, die sich wie eine von der Hand der Natur erschaffene, uneinnehmbare Festung aus dem Meer erhob. Mike schätzte ihre Größe auf eine gute Meile. Ihre Flanken erhoben sich nahezu senkrecht aus dem Wasser, das sich in tosender Gischt an den Felsen brach, und wenn man genau hinsah, konnte man die verräterischen Wellen erkennen, die sich schon etliche Dutzend Meter davor auf der Wasseroberfläche

bildeten. Die Insel mußte von einem wahren Schutzwall aus Riffen und unterseeischen Felsen umgeben sein, der es nahezu unmöglich machte, sich ihr zu nähern, geschweige denn, an Land zu gehen. Doch selbst, wenn es ihn nicht gegeben hätte -sosehr sich Mike auch anstrengte, er konnte nirgends etwas wie einen Strand erkennen, keine Bucht, kein Fleckchen, an denen die Wellen nicht mit furchtbarer Wucht gegen den Fels brandeten. Jeder Versuch, die Insel anzulaufen, konnte nur in einer Katastrophe enden. Vielleicht gab es auf der anderen Seite des Eilandes eine Möglichkeit, es zu erreichen, ohne daß das Schiff vorher von Riffen aufgeschlitzt und anschließend gegen die Steilküste geworfen und zerschmettert wurde, aber Mike wußte, daß ihnen nicht mehr die Zeit blieb, danach zu suchen. Die LEOPOLD hatte sie fast eingeholt. Er drehte sich herum und sah zu Winterfelds Schlachtschiff zurück, wie er es in den letzten zehn Minuten unzählige Male getan hatte. Die Jacht schoß mit prall geblähten Segeln vor dem Wind dahin, und Singh hatte den Hilfsmotor eingeschaltet, um auch noch das letzte bißchen Geschwindigkeit aus dem Schiff herauszuholen. Trotzdem näherte sich die LEO-POLD unaufhaltsam. Mike hatte sogar das Gefühl, daß das Schiff sein Tempo ein wenig gedrosselt hatte; wahrscheinlich hatte man auch dort die Gefahr bemerkt, die von den verborgenen Riffen ausging, und wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Und warum auch? Sie konnten dem Schiff nicht mehr entkommen. Und selbst wenn, dachte Mike -sie hatten Winterfeld schließlich genau dorthin geführt, wo er es gewollt hatte. Für einen Moment fragte er sich allen Ernstes, ob der deutsche Kapitän ihre Flucht nicht im stillen unterstützt -oder zumindest stillschweigend geduldet

- hatte, damit genau das geschah, was nun geschehenwar.Er verscheuchte den Gedanken. Es war müßig, sich den Kopf zu zerbrechen. In spätestens einer Stunde würden sie alle Antworten erfahren; wahrscheinlich sogar eher. Nun konzentrierte er sich wieder auf das, was vor ihnen lag. Singh hatte den Kurs der Jacht abermals ein wenig korrigiert, so daß sie nun beinahe parallel zu der Insel dahinjagten, statt sich ihr in spitzem Winkel zu nähern. Der Anblick war majestätisch und furchterregend zugleich. Die Insel war bar jeglicher Vegetation, und ihre Flanken erhoben sich nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich vollkommen gerade aus dem Meer. Sie sah aus wie ein titanischer Felspfeiler, den jemand zwanzig oder dreißig Meter über dem Wasser abgeschnitten hatte. Wahrscheinlich gab es dort oben ein Plateau, auf dem sich das verbarg, was immer das wahre Geheimnis dieser Insel war. Der Gedanke, so kurz vor dem Ziel zu scheitern, machte Mike fast krank. Er wandte sich zu Singh um, der hoch aufgerichtet hinter dem Ruder stand und die Insel und vor allem das Meer an ihrem Fuß keine Sekunde aus dem Auge ließ. »Gibt es denn gar keine Möglichkeit zu entkommen?« fragte er. Er rechnete nicht mit einer Antwort. Vermutlich brachte er sie alle in Gefahr, wenn er Singh ablenkte, denn in diesen tückischen Gewässern konnte schon ein Moment der Unaufmerksamkeit zum Verhängnis werden. Trotzdem antwortete Singh nach einigen Sekunden. »Vielleicht«, sagte er. »Wenn wir die andere Seite erreichen, haben wir eine kleine Chance. Aber es wird gefährlich.«

Mike hätte um ein Haar gelacht. Gefährlich? Was glaubte Singh denn, was ihre Reise bisher gewesen war? Trotzdem fragte er: »Wie gefährlich?« »Es könnte unser aller Leben kosten«, antwortete Singh. Er hörte sich nicht so an, als erschrecke ihn dieser Gedanke sonderlich. »Aber wir haben eine Chance?« vergewisserte sich Mike. »Eine kleine«, sagte Singh. »Wenn unser Vorsprung reicht und die Götter auf unserer Seite sind.« Mike sah wieder zur LEOPOLD zurück. Was Singhs Götter anging, so maßte er sich kein Urteil an - aber die LEOPOLD war tatsächlich langsamer geworden. Sie kam noch immer näher, aber ihr Vorsprung schmolz jetzt nicht mehr so rasch wie bisher. »Dann versuch es«, sagte er. Singh zögerte. »Es ist nicht nur Euer Leben, über das Ihr entscheidet«, sagte er. »Habt Ihr Eure Freunde gefragt, ob Ihr auch ihres riskieren dürft?« Mike sah ihn betroffen an. Es machte ihn verlegen, daß Singh ihn darauf hatte aufmerksam machen müssen. Aber er mußte gar nicht fragen. Alle anderen standen in Hörweite, und er empfand ein Gefühl tiefer Dankbarkeit, als er die Zustimmung in ihren Augen erkannte. Aber er spürte auch die Last der Verantwortung, die damit auf seine Schultern gelegt wordenwar.»Versuch es«, sagte er leise, aber sehr entschlossen. Das Schiff schoß weiter wie ein Pfeil auf den Wellen dahin, und die steinernen Flanken der Felseninsel jagten nur so an ihnen vorüber, und trotzdem hatte Mike plötzlich das Gefühl, als liefe die Zeit zehnmal langsamer. Die LEOPOLD fiel weiter hinter ihnen zurück, und die bisher unsichtbare Rückseite der Vergessenen Insel tauchte nun vor ihnen auf.

Mike hatte alle Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Die Rückseite der Insel unterschied sich in nichts von der Vorderseite. Der Fels war wie eine solide Mauer, in der es nicht die kleinste Lücke zu geben schien. Plötzlich wehte ein dumpfer Knall über das Meer zu ihnen heran. Kaum eine Sekunde später hörten sie ein schrilles, immer lauter werdendes Heulen, und dann schoß eine turmhohe, weiße Gischtsäule kaum hundert Meter vor dem Bug der Jacht in die Höhe. Die Druckwelle ließ die Jacht erbeben wie ein welkes Blatt im Sturm, und ein ganzer Schwall eiskalten Wassers ergoß sich über das Deck und durchnäßte sie bis auf die Knochen. Singh fluchte lauthals in seiner Muttersprache und drehte wie wild am Ruder, um das Schiff auf dem plötzlich kochenden Meer auf Kurs zu halten, und Mike klammerte sich an der Reling fest. »Was war das?« keuchte André erschrocken. »Was soll das schon gewesen sein, Schlaumeier?« fragte Ben böse. »Pauls Vater macht Ernst.« Er durchbohrte Paul mit Blicken. »Das war ein Warnschuß. Und ich gehe jede Wette ein, der nächste trifft.« Auch Paul war von der Erschütterung fast von den Füßen gerissen worden. Mühsam rappelte er sich wieder hoch und sah zur LEOPOLD zurück. Sein Gesicht war völlig weiß geworden. »Das kann doch nicht sein!« stammelte er. »Das kann er doch nicht machen!« Als hätte sie nur auf ein Stichwort gewartet, gab die LEOPOLD in diesem Moment einen zweiten Schuß auf sie ab. Diesmal lag der Einschlag wesentlich näher. Plötzlich drehte Singh mit aller Kraft und so schnell am Ruder, daß sich das Schiff auf die Seite legte wie ein Radfahrer in einer scharfen Kurve. Der Mast ächzte unter der Belastung, und das Segel war

plötzlich so straff gespannt, als wolle es zerreißen. Erschrockene Schreie gellten über das Deck, und vor Mikes ungläubig aufgerissenen Augen vollführte dieJacht ein Manöver, das er nie für möglich gehaltenhätte. Sie machte praktisch auf der Stelle kehrt undjagte nun direkt auf die Felseninsel zu - und die gefährlichen Riffe davor! »Singh!« kreischte Mike entsetzt. »Willst du uns umbringen?« Singh schien seine Worte nicht zu hören, sondern hielt das Boot mit eiserner Hand weiter auf Kurs. Mike klammerte sich wieder an der Reling fest. Doch der vernichtende Aufprall, auf den er wartete, kam nicht. Rechts und links der Jacht durchstießen immer wieder spitze Felsen die Wasseroberfläche, aber die Fahrrinne unmittelbar vor ihnen war frei. Es gab einen Weg durch die Riffe, und ganz offensichtlich kannte Singh ihn. Allerdings fragte sich Mike, wohin Singh überhaupt wollte. Selbst wenn sie die Riffe überwanden - vor ihnen war nichts als senkrechter, unübersteigbarer Fels, an dessen Fuß sich die Wellen mit Urgewalt brachen. Trotzdem hielt Singh immer weiter auf die Insel zu. Die Jacht wurde immer schneller und schwankte manchmal nach rechts oder links, wenn der Inder dem Verlauf der unsichtbaren Fahrrinne folgte. Dann und wann schrammte etwas unter dem Rumpf entlang oder schlug unter Wasser gegen die Bordwand. Mike sah zur LEOPOLD zurück. Das große Schiff war noch weiter zurückgefallen und verlor jetzt sichtlich mehr und mehr an Tempo. Sein Kapitän hatte wohl eingesehen, daß er der Jacht nicht auf demselben Weg folgen konnte, und zog es vor, sein Schiff nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Das brauchte er auch nicht. Mike beobachtete voller Entsetzen, wie einer der großen Geschütztürme am

Vorderdeck herumschwenkte, sich genau auf die Jacht richtete - und eine grelle Feuerzunge ausstieß! Der dumpfe Knall und die weiße Schaumexplosion vor

ihnen erfolgten nahezu gleichzeitig. Die Jacht erzitterte wie unter einem Hammerschlag. Holzsplitter und winzige, scharfkantige Steintrümmer regneten auf sie herab, und in dem Segel über Mikes Kopf gähnte plötzlich ein fast metergroßes, schwarzgerändertes

Loch. Winterfeld machte nun tatsächlich Ernst. »Der nächste Schuß trifft«, sagte Paul. In seinem Gesicht stand das pure Entsetzen geschrieben. »Sie bringen uns um.«Selbst Mike glaubte mittlerweile nicht mehr daran, daß die LEOPOLD nur Warnschüsse abgab. Winterfeld wollte sie vielleicht nicht umbringen, aber er

schien entschlossen, die Jacht unter allen Umständen zu stoppen, und nahm dabei in Kauf, sie zu verletzen oder auch einen oder mehrere von ihnen zu töten. Mike sah, wie das Geschützrohr ein wenig herumschwenkte. Verzweifelt blickte er nach vorne. Die Felswand raste regelrecht auf sie zu. Noch ein paar

Sekunden, und sie würden daran zerschellen, falls sie nicht vorher von einer Granate getroffen und in Stücke gerissen wurden! Und das Schiff schoß weiter auf die Insel zu. Die Felsen kamen näher, immer schneller und schneller, wie eine granitene Faust, die sie zerschmettern würde und dann waren sie plötzlich fort, und da, wo vor einer Sekunde noch eine scheinbar unüberwindliche Barriere gewesen war, tat sich ein schmaler Kanal auf. Hinter ihnen erscholl wieder ein dumpfer Knall und gleich darauf die Explosion der Granate, die diesmal die Felswand getroffen hatte. Aber sie waren in Sicherheit.

Zumindest vorläufig... Sicher fragst Du Dich voll Spannung, was Mike und seine Freunde auf der Insel erwartet. Gleich kannst Du weiterlesen, wir wollen Dich nur schnell etwas fragen: Hat es Dir Spaß gemacht, die Jungen auf ihrer gefährlichen Flucht zu begleiten? Möchtest Du auch weiterhin mit ihnen und der Nautilus die Weltmeere durchqueren und die aufregendsten Abenteuer erleben? Das kannst Du: Der zweite Band, »Das Mädchen von Atlantis«, wartet bereits in der Buchhandlung auf Dich. Es gibt auch einen »Kapitän-Nemo-Fan-Club«. Wenn Du Mitglied werden möchtest, dann schreib einfach an

Verlag Carl Ueberreuter Kennwort »Kapitän Nemo« Aiser Straße 24 A-1091 Wien

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So, jetzt geht's weiter...

Mike kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, und

auch die anderen sahen sich mit offenen Mündern

um. Der Kanal war vollkommen gerade, als hätte jemand eine gigantische Axt genommen und die Insel mit einem einzigen Schlag gespalten. Das Wasser floß ruhig dahin, und nach dem Lärm und dem Tosen der vergangenen Minuten kam ihnen die Stille fast unheimlich vor. »Das ist ... phantastisch«, flüsterte Mike. Singh lächelte. »Ich sagte doch, daß die Insel durch einen mächtigen Zauber geschützt wird.« Mike widersprach dem Sikh nicht, obwohl er ahnte, daß es wohl eher eine optische Täuschung als Zauberei war, die die Einfahrt verbarg - aber das änderte nichts am Ergebnis.

Und die Wunder waren noch nicht vorbei. Der Kanal war ungefähr hundert Meter lang, dann mündete er in einen kreisrunden, gut eine Meile messenden See. Die Insel war nicht massiv, sondern eine gewaltige Mauer, die diesen See umgab. Den Strand, den sie auf der äußeren Seite der Insel vermißt hatten, fanden sie nun hier - und noch mehr. Das Äußere der Insel bot sich als kahler, salzverkrusteter Felsen dar, auf dem kein Leben Fuß gefaßt hatte -aber ihr Inneres quoll geradezu davon über. Bis dicht unter die Kanten der natürlichen Schutzmauer erhob sich das Blätterdach eines schier undurchdringlichen Dschungels, in dem es überall raschelte, huschte, knisterte, pfiff, kreischte und schrie. Vögel erhoben sich aus dem Blätterdach und begannen schimpfend über dem Boot zu kreisen, das ihre Ruhe störte, und Mike sah eine Anzahl kleiner Affen, die sich schnatternd von Ast zu Ast schwangen und ihnen ein Stück weit am Ufer folgten. Es war ein phantastischer, wunderbarer Anblick, ein vergessenes Paradies, das vielleicht seit Jahrmillionen vom Rest der Welt vergessen existierte. Singh deutete schweigend nach vorne. Auf dem flachen, fast weißen Sandstrand erhob sich ein knappes Dutzend großer Gebäude von sonderbarer Bauweise. Mikes Herz begann schneller zu schlagen. Er ahnte, daß das Geheimnis der Vergessenen Insel nun zum Greifen nahe vor ihnen lag. Als sich das Schiff langsam den Bauwerken auf der anderen Seite des Kratersees näherte, sah Mike, daß es sich bei vielen nur mehr um Ruinen handelte. Die Gebäude, aus tonnenschweren Felsquadern erbaut und einer sonderbar fremdartigen, auf eine beunruhigende Weise zugleich aber auch vertraut erscheinenden Geometrie folgend, waren zum Teil zerstört, zum Teil von Schlingpflanzen und Moos überwuchert, mit denen der Dschungel das Gelände zurückzuerobern begann, das ihm der Mensch einst abgetrotzt hatte. Nirgends war auch nur die mindeste Spur menschlichen Lebens zu sehen. Vor den Türen und Fensteröffnungen spannten sich große Spinnennetze oder Vorhänge aus Schlingpflanzen. Die Ansiedlung war verlassen, begriff Mike, und das schon seit ziemlich langer Zeit. Singh steuerte die Jacht so nahe an den Strand heran, wie er konnte -was ihrer Größe wegen nicht nahe genug war, um trockenen Fußes an Land zu gehen. Aber da sie ohnehin alle bis auf die Haut durchnäßt waren, machte es niemandem etwas aus, die letzten Meter an Land zu waten. Mike selbst trat als erster an die Reling heran und wartete ungeduldig, daß das Schiff zur Ruhe kam. Doch Singh winkte ihn zurück. »Wartet«, sagte er. »Es ist besser, wenn wir zusammenbleiben.« »Wieso?« fragte Mike. »Hier lebt doch niemand mehr, oder?«

»Die Ruinen sind nicht ungefährlich«, erwiderte Singh. »Und viel größer, als es den Anschein hat. Es ist besser, wenn wir vorsichtig sind.« Mike sah den Inder scharf an. Ihm war keineswegs entgangen, daß Singh seiner Frage geschickt ausgewichen war, statt sie wirklich zu beantworten. »Jemand sollte beim Schiff zurückbleiben«, sagte Miß McCrooder. »Was ist, wenn es abgetrieben wird?« Sie klang ziemlich nervös, und Mike mußte nicht einmal in ihr Gesicht sehen, um die mühsam unterdrückteFurcht zu erkennen.»Das ist nicht nötig«, antwortete Singh. »Wir brauchen es nicht mehr. Außerdem bleibt uns vielleicht nicht mehr genug Zeit, um zurückzugehen und den zuholen, der hiergeblieben ist.«»Wieso?« fragte Miß McCrooder erschrocken. »Weil wir die Insel auf einem anderen Wege verlassen«, antwortete Singh geduldig. »Wenn wir Erfolg haben, in Freiheit. Und wenn nicht -als Gefangene auf dem Kriegsschiff.«»Als Gefangene? Aber ... aber sie können doch aufkeinen Fall hierherkommen, oder?« stammelte Miß McCrooder. »Ich meine, sie kennen die Passage nicht, und das Schiff ist viel zu groß, um hier hereinzukommen.« »Die LEOPOLD sicher«, sagte Paul. »Aber sie hat Beiboote. Und sie haben gesehen, wohin wir gefahren sind.« »Ich fürchte, Paul hat recht«, sagte Singh. »Sie werden bestimmt eine Weile brauchen, um die Passage durch die Riffe zu finden. Vielleicht verlieren sie sogar ein Boot dabei oder auch mehr. Trotzdem glaube ich nicht, daß wir mehr als zwei oder drei Stunden haben.« »Eher weniger«, sagte Paul düster. »Unterschätzt mei

nen Vater nicht. Ich kenne ihn. Und die Männer, die er bei sich hat, sind verdammt gut.« »Sicher«, höhnte Ben. »Deshalb sind wir ihnen ja bisher auch entkommen, nicht wahr?« »Sei lieber froh, daß es so ist«, sagte Mike rasch und ehe Paul antworten konnte. Die Zeit, die ihnen noch blieb, war einfach zu kostbar, um sie mit einem weiteren sinnlosen Streit zu vergeuden. Mit einer beinahe befehlenden Geste wandte er sich an den Sikh. »Also los! Geh voraus, Singh.« Der Sikh war der erste, der über Bord sprang. Sofort versank er bis an die Hüften im glasklaren Wasser, drehte sich noch einmal um und hob die Arme, um den anderen zu helfen. Mike, Paul, Juan, Ben und André ignorierten seine angebotene Hilfe, während Miß McCrooder und auch Chris sich von seinen starken Armen über die Reling heben und so weit zum Ufer hin absetzen ließen, wie es ging. Mike spürte, wie sich ein sonderbares Gefühl in ihm breitzumachen begann, während sie den flachen Strand hinaufwateten. Es war eine Mischung aus Neugier, mühsam beherrschter Angst vor dem, was sie vielleicht entdecken mochten, und Faszination. In den ersten Minuten jedenfalls gewahrten sie nichts als Ruinen und moosbedeckte Steine. Ein paar kleine Tiere huschten davon, als sie sich vorsichtig dem ersten der großen Quaderbauten näherten, die den Strand säumten, und einmal glaubte er einen Schatten hinter einem Fenster zu sehen, der hastig zurückzuckte, als er genauer hinsah, war sich aber nicht sicher. Aus dem Dschungel drang ihnen eine verwirrende Vielfalt von Gerüchen und Geräuschen entgegen, doch nichts davon war menschlichen Ursprungs. Und trotzdem... Er konnte es nicht begründen, aber Mike hatte mit jedem Schritt, der sie den Ruinen näherbrachte, mehr das Gefühl, aus unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Schließlich wurde es so stark, daß er stehenblieb und sich an Singh wandte. »Bist du sicher, daß hier niemand mehr ist?« fragte er. »Es ist lange her, daß ich hier war«, antwortete Singh. »Du warst schon einmal hier?« fragte Mike überrascht. Singh nickte. »Vor langer Zeit«, sagte er. »Aber du ... hast doch gesagt, du wüßtest nicht, wo die Insel liegt!« sagte Mike. »Das war auch die Wahrheit«, erwiderte Singh mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln. »Ich war Passagier auf dem Schiff Eures Vaters, damals. Müßtet Ihr jetzt aus England lossegeln - ohne die Karte und Euer Amulett -, würdet Ihr diese Insel wiederfinden?« Mike mußte zugeben, daß an diesem Argument etwas dran war. Vermutlich würde er die Vergessene Insel nicht einmal mit der Karte seines Vaters wiederfinden. Singhs Worte erklärten auch, wieso er von der verborgenen Passage durch die Riffe gewußt hatte. Und doch ... völlig stellte Mike diese Antwort nicht zufrieden. Singh verschwieg ihm etwas, selbst jetzt noch.

Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde stärker, als sie in das erste Gebäude eindrangen. Aber was sie im Inneren des leerstehenden Hauses sahen, das war so erstaunlich, daß es Mike so sehr in seinen Bann schlug und er seine Furcht beinahe vergaß. Von außen hatte das Gebäude zwar groß und irgendwie sonderbar gewirkt, ein gigantischer, abereindeutig primitiver Bau, wie er ihn aus seinen Schulbüchern und Zeitschriften kannte, am ehesten noch vergleichbar mit den zyklopischen Ruinen, wie sie in Ägypten oder auch Mexiko gefunden worden waren; Zeugnisse einer untergegangenen Kultur, die riesenhafte Bauwerke zu erschaffen imstande gewesen, aber über einen gewissen niedrigen Stand der Technik nicht hinausgekommen war. Hier stimmte das nicht. Nicht einmal im entferntesten. Was sich vor Mike und den anderen ausbreitete, als sie durch die halb eingestürzte Tür traten, das war einmal eine Maschinenhalle gewesen. Von ihrer ehemaligen Einrichtung war nicht viel geblieben - was nicht fortgeschafft worden war, das hatten Erosion und Zeit zernagt, so daß sie im Grunde nur Staub und Rost fanden -aber man konnte noch deutlich sehen, wo einst gigantische Maschinen gestanden haben mußten. Riesige Fundamente erhoben sich aus dem grünen Teppich, der den Boden wieder überwuchert hatte. Hier und da ragte ein zerfressenes Rohr aus dem Boden, hingen die zerborstenen Reste einer Rohrleitung von den Wänden oder ringelten sich mächtige Kabel wie die zerrissenen Adern eines riesigen metallenen Tieres von der Decke. Es gab eine Anzahl runder, wie geschmolzenes Silber schimmernder Pfützen, in deren unmittelbarer Nähe nichts gedieh und denen Singh in respektvollem Bogen auswich, und wenn man erst einmal wußte, wonach man zu suchen hatte, entdeckte man bald die Stellen, an denen Schalttafeln gehangen haben mußten, Löcher in den steinernen Wänden, wo einst technische Apparaturen gewesen waren, und grün überwucherte Konturen, die trotz allem zu regelmäßig waren, um von der Hand der Natur erschaffen worden zu sein. Es gehörte tatsächlich nur noch ein wenig Phantasie dazu, und man glaubte noch das machtvolle Geräusch der riesigen Maschinen zu hören, das diesen Raum einst erfüllt hatte wie das

Schlagen eines metallenen Herzens.