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Ein Stockwerk tiefer erreichten sie eine Station, in der vier MSVKs — zerbrechlich aussehende dreibeinige storchenartige Wesen — leblos zwischen Gerätschaften herumschwebten. Die Bewegungen der Leichen und der Gegenstände im Raum schienen etwas unnatürlich, als wären sie erst kürzlich aus ihrem Ruhezustand gebracht worden. Das war das erste Zeichen des rätselhaften Überlebenden. Und dann befanden sich Conway und der PVSJ in einem großen Raum mit Wänden aus Metall und umgeben von einem Labyrinth von Rohren und Leitungen und Maschinen.
Auf dem Boden lag in einer Mulde der massive Hypergenerator des Schiffs, umgeben von einigen Schaltorganen aus der Steuerzentrale. Darunter die Überreste einer jetzt nicht mehr zu klassifizierenden Lebensform. Neben dem Generator hatte irgendein anderer schwerer Bestandteil des Schiffs ein Loch in den Boden gerissen.
Conway rannte auf das Loch zu, blickte in die Tiefe und rief dann erregt:
„Das ist es!“
Sie blickten in einen weiten Saal, der nur die Steuerzentrale der Schwerkraftanlage sein konnte.
Reihen von niedrigen Metallschränken bedeckten Boden, Wand und Decke, und es war kaum Platz für erdenmenschliche Ingenieure, um sich zwischen den Schränken zu bewegen. Aber hier brauchte man auch selten Ingenieure, denn die Geräte in diesem ungeheuer wichtigen Saal reparierten sich selbst. Im Augenblick wurde diese Fähigkeit freilich einer ernsten Prüfung unterzogen.
Ein Wesen, das Conway provisorisch als AACL klassifizierte, breitete sich über drei der empfindlichen Kontrollschränke aus. Neun andere Schränke, alle mit roten Notsignalen, die aufgeregt blinkten, befanden sich in Reichweite seiner sechs pythonartigen Tentakel, die durch offenbar luftdicht abschließende Löcher seines Plastikanzuges griffen. Die Tentakel waren fast zehn Meter lang und besaßen an der Spitze eine hornartige Substanz, die, dem Schaden nach zu urteilen, den das Wesen angerichtet hatte, stahlhart sein mußte.
Conway hatte im stillen die ganze Zeit Bedauern für den armen Schiffbrüchigen empfunden; er hatte damit gerechnet, ein verletztes, von Panik erfaßtes, vor Schmerz halb verrücktes Wesen vorzufinden. Statt dessen hatte er da ein Wesen vor sich, das allem Anschein nach unverletzt war und jetzt wütend Schwerkraftkontrolleinrichtungen so schnell zerstörte, daß die Reparaturroboter mit dem Ausbessern nicht nachkamen. Conway fluchte und begann, an der Skala die Radiofrequenz des anderen zu suchen. Plötzlich war ein hohes, schrilles Zirpen in seinen Kopfhörern zu vernehmen. „Jetzt hab ich dich!“ murmelte Conway grimmig.
Das Zirpen hörte plötzlich auf, als der andere seine Stimme hörte, und ebenso kamen die mächtigen Tentakel zum Stillstand. Conway merkte sich die Wellenlänge und schaltete dann schnell auf das Band zurück, das der PVSJ und er benutzten.
„Mir scheint“, sagte der Chloratmer, als er gehört hatte, was geschehen war, „daß das Wesen furchtbare Angst empfindet und daß die Geräusche, die es gemacht hat, Geräusche der Furcht waren — sonst hätten Sie sie ja durch Ihren Translator als Worte empfangen. Tatsache ist jedenfalls, daß der Lärm und die Zerstörungswut des Wesens aufhörten, als es Ihre Stimme hörte, aber ich glaube, wir sollten langsam nähertreten und ihm versichern, daß wir ihm nur helfen wollen. Das Unheil, das der Bursche hier angerichtet hat, macht mir den Eindruck, als hätte es nach allem geschlagen, was sich bewegt. Ich glaube also, einige Vorsicht ist geboten.“
„Ja, Padre“, sagte Conway und nickte.
„Wir wissen nicht, nach welcher Richtung die Sehorgane des Wesens orientiert sind“, fuhr der PVSJ fort. „Ich schlage daher vor, daß wir uns ihm von zwei entgegengesetzten Seiten nähern.“
Conway nickte wieder. Sie schalteten ihre Radios auf die neue Wellenlänge und kletterten vorsichtig auf die Decke des Abteils unter ihnen. Dann ließen sie sich behutsam mit Hilfe ihrer Schwerkraftneutralisatoren auf den Boden sinken. Jetzt hatten sie das Wesen zwischen sich und bewegten sich langsam darauf zu.
Die Robotreparaturvorrichtungen waren damit beschäftigt, den Schaden wieder gutzumachen, den jene sechs Tentakel angerichtet hatten, die das Wesen als Gliedmaßen besaß. Jetzt lag es ganz ruhig da und gab keinen Laut von sich. Conway mußte immer noch an den Schaden denken, den dieses Wesen mit seinem sinnlosen Herumschlagen angerichtet hatte. Das, was er auf der Zunge hatte, war alles andere als beruhigende Worte, und so überließ er dem PVSJ-Padre das Reden.
„Keine Angst“, sagte der gerade zum zwanzigstenmal. „Wenn Sie verletzt sind, sagen Sie es uns. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen…“
Aber von dem Wesen kam weder eine Bewegung noch Antwort.
Einem plötzlichen Impuls folgend, schaltete Conway auf Dr. Mannons Wellenlänge.
„Der Bursche scheint ein AACL zu sein“, sagte er schnell. „Können Sie mir sagen, weshalb dieses Wesen hier ist oder weshalb es sich weigern oder unfähig sein sollte, mit uns zu sprechen?“
„Ich spreche mit dem Empfang“, antwortete Mannon nach einer kurzen Pause. „Aber sind Sie sich der Klassifikation sicher? Ich kann mich nicht erinnern, je einen AACL gesehen zu haben. Sind Sie sicher, daß es kein Creppelianer ist?“
„Es ist kein creppelianischer Oktopoid“, erklärte Conway. „Das Wesen besitzt sechs Hauptgliedmaßen, und es liegt einfach da und tut nichts…“
Conway hielt plötzlich inne, denn er bemerkte, daß seine Aussage nicht mehr stimmte. Das Wesen hatte sich zur Decke hin abgestoßen, wobei es sich so schnell bewegte, daß es im gleichen Augenblick dort zu landen schien, indem es sich abgestoßen hatte. Conway sah, wie über ihm eine weitere Kontrolleinheit zerstört wurde, als das Wesen zuschlug, und andere fielen aus ihren Halterungen, als die Tentakel sich festzuhalten suchten. In seinem Kopfhörer schrie Mannons Stimme und berichtete etwas von Schwerkraftschwankungen in einer bisher stabilen Abteilung des Hospitals und von ansteigenden Verletztenzahlen, aber Conway konnte keine Antwort geben.
Er sah hilflos zu, wie der AACL sich erneut zum Sprung anschickte.
„… wir sind hier, um Ihnen zu helfen“, sagte der PVSJ, als das Wesen vier Meter vor dem Padre landete. Fünf große Tentakel verankerten sich fest, während ein sechster blitzartig, so schnell, daß ihm das Auge nicht folgen konnte, herauszuckte, den PVSJ erfaßte und gegen die Wand schmetterte. Chlor spritzte aus dem Anzug des PVSJ und verbarg einen Augenblick in seinem Nebel das formlose, jämmerliche Etwas, das langsam in die Mitte des Raumes zurückprallte. Der AACL begann wieder, zirpende Laute von sich zu geben.
Conway hörte sich selbst wie einen Fremden Mannon berichten und vernahm dann, wie Mannon nach Lister schrie. Schließlich erreichte ihn die Stimme des Direktors.
Sie sagte:
„Sie müssen das Wesen töten, Conway!“
Sie müssen es töten, Conway!
Diese Worte waren es, die durch ihre Schockwirkung Conway wieder in die Wirklichkeit zurückrissen. Das sah einem Monitor ähnlich, dachte er bitter. Ein Problem durch Mord zu lösen. Und einen Arzt, ein der Erhaltung des Lebens verschworenes Wesen, aufzufordern, diesen Mord zu verrichten. Es hatte nichts zu besagen, daß das Wesen vor Furcht halb wahnsinnig war, es hatte im Hospital Schwierigkeiten gemacht, also mußte man es töten.
Conway hatte Angst gehabt und hatte sie auch noch. In dem Zustand, in dem er sich gerade noch befunden hatte, hätte er in seiner Panik vielleicht die alte Dschungelregel „töte oder werde getötet“, angewandt. Aber nicht jetzt. Ganz gleich, was ihm oder dem Hospital zustieß, er würde kein intelligentes Mitwesen töten, und Lister konnte schreien, bis er blau wurde.
Zu seiner Überraschung erkannte Conway plötzlich, daß Lister und Mannon beide auf ihn einbrüllten und seine Argumente zu widerlegen versuchten. Er mußte laut gedacht haben, ohne es zu bemerken. Er drehte wütend am Stellknopf seines Radios, bis die Stimmen nicht mehr zu hören waren.
Aber da war noch eine andere Stimme, die auf ihn einredete, eine unbeschreiblich müde, flüsternde Stimme, die immer wieder mit einem schmerzhaften Keuchen abbrach. Einen Augenblick dachte Conway, daß der Geist des toten PVSJ Listers Argumente fortsetzte, und dann sah er über sich eine Bewegung.
Die mit einem Raumanzug bekleidete Gestalt Williamsons schwebte sacht durch das Loch in der Decke. Wie es dem schwerverletzten Monitor gelungen war, dorthin zu gelangen, überstieg Conways Verständnis — seine gebrochenen Arme schlossen die Verwendung seines Schwerkraftneutralisators aus. Also mußte er den ganzen Weg zurückgelegt haben, indem er sich mit den Füßen abstieß — wobei er sich darauf hatte verlassen müssen, daß ihn nicht irgendein noch zufällig aktiv gebliebenes Schwerkraftgitter zum zweitenmal herunterriß.
Und dann brach Conway der kalte Schweiß aus. Unfähig, seinen Flug zu bremsen, schwebte der verletzte Monitor jetzt langsam auf den Boden zu — direkt auf den geduckten AACL zu! Vor Conways fasziniertem Blick löste sich langsam einer der stahlharten Tentakel und bereitete sich auf den tödlichen Schlag vor.
Conway warf sich instinktiv in Richtung auf den schwebenden Monitor. Er hatte jetzt keine Zeit, sich wegen dieser Tat tapfer — oder dumm — vorzukommen. Krachend prallten die beiden Menschen zusammen, und dann schlang Conway die Beine um Williamsons Hüfte, um die Hände für den Schalter des Neutralisators freizuhaben. Sie wirbelten wie wild um ihren gemeinsamen Schwerpunkt, und Wände, Decke und Boden drehten sich so schnell um sie, daß Conway kaum die Steuerorgane im Auge behalten konnte. Es schien Jahre zu dauern, bis die Drehung zum Ende kam und sie wieder auf das Loch in der Decke und damit der Sicherheit zustrebten. Sie hatten sie beinahe erreicht, als Conway die schlangenartigen Tentakel auf sie zukommen sah!