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Brade sagte: »Wo persönliche Dinge in einem Zusammenhang mit der Entwicklung der organischen Chemie stehen, sollten sie zur Sprache kommen. Zum Beispiel ist die Erhebung in den Freiherrenstand ein Ausdruck dafür, wie die damalige Gesellschaft Berzelius' Verdienste einschätzte. Die organische Chemie erwies sich als so wichtig für das tägliche Leben, dass es gerechtfertigt erschien, einen ihrer Vertreter zu adeln.«

Anson nickte langsam. »Ein gutes Argument. Vielen Dank. Jetzt habe ich einige Abschnitte über die Entdeckung des Selens gestrichen. Die ist natürlich, wie auch die ganze Sache mit der Lötrohranalyse, sehr interessant, gehört aber nicht zur organischen Chemie.« »Ganz richtig«, sagte Brade. »Das Buch wird ohnehin ziemlich umfangreich werden.«

»Na schön. Würden Sie sich jetzt einmal die Seite 82 ansehen. Ich bin noch nicht bis zur radikalen Theorie gekommen, aber das scheint mir die Stelle zu sein, wo sie hingehören müsste.« So machten sie weiter, die Köpfe zusammengesteckt, hoben Manuskriptblätter hoch, legten sie wieder hin, schoben sie zur Seite, holten sie wieder aus dem Stoss hervor, bis Doris' Stimme sie schließlich in die Alltagswelt zurückrief. »Lou, ich glaube, Virginia ist jetzt soweit.« Doris hatte, weil Anson da war, einen absichtlich sanften Ton angeschlagen. Brade blickte auf. »Gut, Doris. Ja, Cap, ich glaube, wir haben so ziemlich alles geschafft, was wir uns vorgenommen hatten. Wollen wir für heute Schluss machen?« »Haben Sie jetzt etwas vor?«

»Ja, ich gehe mit Ginny in den Zoo. Sie muss nächste Woche in Englisch irgendeinen Aufsatz schreiben, und da bekommt sie durch den Zoobesuch Stoff für ein Thema, sie hat ihren Spaß, und Doris ist uns ein paar Stunden los. Drei Fliegen mit einer Klappe.« Er lächelte kurz, stand auf, schob die Seiten des Kapitels zusammen und legte zum Beschweren die Heftmaschine darauf.

Anson sammelte seine Aufzeichnungen ein. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mitkomme? Es gibt noch mehr zu besprechen.« »Hm.« Brade zögerte. Er wusste nicht, wie er die so behutsam vorgetragene Bitte ablehnen sollte. »Es dürfte für Sie langweilig werden.«

Anson lächelte traurig. »In meinem Alter sind die meisten Dinge langweilig.« Er griff nach seinem Spazierstock.

Es war ein milder, sonniger, für die Jahreszeit sehr warmer Tag, fast ein Sommertag, aber ohne das sommerliche Besuchergedränge, und Brade dachte mit einer gewissen verbissenen Befriedigung daran, dass wenigstens in diesem Zusammentreffen etwas Positives zu erblicken war. Ginny inspizierte das Affenhaus, während er und Anson draußen auf einer Bank saßen.

Brade starrte abwesenden Blickes zu dem Goldadler in dem Käfig auf dem Pfahl inmitten eines kreisrunden Rosenbeets hin. In den kleinen gelben Augen des Vogels wohnte noch eine schläfrige Wildheit, und er fragte sich, wie lange das Tier wohl schon eingesperrt war und womit es, an irgendeinem kosmischen Maßstab von Schuld und Sühne gemessen, seine Gefangenschaft verdient hatte.

Anson hatte sich eine Tüte Popcorn gekauft und knabberte, den Stock quer über die Beine gelegt, mit offensichtlichem Vergnügen. Er sagte: »Ich habe gestern nachmittag mit Littleby gesprochen, Brade.« »Ja?«

»Er hat mir von den Vorlesungen über die Sicherheitsbestimmungen erzählt, die er im Auge hat. Der alte Schwindler glaubt natürlich inzwischen selbst daran, dass er sie die ganze Zeit schon geplant hatte.«

»Ja, ich weiß.« Diese Sache interessierte Brade kaum. »Und dann hat er mich nach Ihnen gefragt.«

Brade setzte sich unwillkürlich gerade auf. »Nach mir?« »Deshalb habe ich Sie ja hier herausgeschleppt. Fort von Ihrer Frau, verstehen Sie!« »Was hat er gesagt?«

»Er hat darum herumgeredet. Aber ich habe den Eindruck gewonnen, dass Ihre Anstellung beim nächsten Termin nur noch um ein letztes Jahr verlängert wird. Sie werden ein Jahr Kündigungsfrist bekommen, um sich nach einer neuen Stelle umzusehen.«

11

Es war, als wäre die Temperatur plötzlich gefallen. Als wärmte die Sonne nicht mehr.

Cap Ansons Stimme kam von weit her, und der fröhliche Lärm der anderen Zoobesucher rückte in den Hintergrund. Brades erster Gedanke galt nicht dem Umstand, dass er sich ein neues Auskommen suchen musste, dass eine altgewohnte Lebensweise zu Ende ging - sein erster Gedanke galt Doris.

Sie hatte diesen Augenblick prophezeit. Solange er keine unkündbare Professur bekleidete, war er Littleby oder dem, der ihm als Leiter des Chemischen Instituts nachfolgen mochte, auf Gnade und Ungnade ausgeliefert.

Brade hatte starrsinnig behauptet, dass man ihn nicht vor die Tür setzen würde. Seine Stellung in der Familie hing davon ab. Wie konnte er jetzt Doris gegenübertreten?

Es kam ihm nicht in den Sinn, dass Anson unrecht haben, dass er sich bei der Deutung von Littlebys Gebaren getäuscht haben könnte. Ansons Ansicht stimmte zu gut mit seiner, Brades, Interpretation von Littlebys Kühle am Morgen des Vortags überein.

»War das wegen M -« Er hielt inne - beinahe hätte er »Mord« gesagt. Er versuchte es noch einmal. »Wegen der Sache, die Ralph Neufeld passiert ist?«

Anson machte ein verwirrtes Gesicht. »Sie meinen Ralphs Unglücksfall?« »Ja.«

»Davon hat er nichts gesagt. Warum sollte da ein Zusammenhang bestehen?«

Brade zuckte die Achseln und blickte zur Seite.

»Es ist eine Frage der Forschungsergebnisse«, sagte Anson. »Sie veröffentlichen zuwenig.«

»Veröffentliche oder stirb«, erwiderte Brade grimmig. »Na, Sie kennen das doch, Brade. Eine ganz alte Geschichte. Der wissenschaftliche Ruf macht einen für die Universität interessant. Und dieser Ruf stützt sich auf die Beiträge, die man zur wissenschaftlichen Forschung leistet. Und die Beiträge werden an der Anzahl der Artikel und so weiter gemessen, die man veröffentlicht.« »Wenn ich also meine Forschungsergebnisse zusammenkratze«, meinte Brade, »wenn ich sie in kleinen Portionen dieser und jener Zeitschrift anbiete, wenn ich aus jeder Arbeit ein Dutzend Veröffentlichungen mache, dann wäre ich wohl ein großer Mann. Mir scheint, man kann den Ruf eines Mannes an der Anzahl der Scheibchen messen, in die er seine Forschungsergebnisse einteilt.«

»Brade, Brade.« Der alte Chemiker klopfte Brade mit seiner knotigen Hand beruhigend aufs Knie. »Streiten wir nicht über Qualität und Quantität. Die Dissertationen, die in den letzten zehn Jahren unter Ihrer Obhut entstanden, waren sorgfältig ausgearbeitete, aber kaum hervorragende Beiträge.« Er wiederholte: »Kaum hervorragende Beiträge.« Er musste fast kichern, so sehr gefiel ihm diese Formulierung.

»Ich hatte auch kaum hervorragende Studenten«, entgegnete Brade gereizt und schämte sich dieser Erwiderung sofort. Es nützte ihm nichts. Aber Anson sagte: »Das stimmt. Wessen Schuld ist das?« »Was soll ich denn tun? Um Forschungszuschüsse betteln, damit ich mir Studenten kaufen kann? Das tue ich nicht. Das steht für mich seit langem fest, Cap, dass ich nicht mit dem Hut in der Hand nach Washington pilgere mit irgendeinem Projekt, um Regierungsgelder herauszuschlagen. Ich passe meine Forschungen nicht der Mode an. Ich untersuche das, was mich interessiert, und damit basta. Wenn das einen öffentlichen Zuschuss wert ist, dann nehme ich ihn an, aber ohne Bedingungen. Wenn nicht, ist es mir auch recht.« Zorn klang in seinen Worten mit, während er sich vor sich selbst zu rechtfertigen suchte und im Geist wieder die Argumente hörte, die ihn einen Narren schalten, der Armut mit Tugend gleichsetzte und Wohlhabenheit für eine Sünde hielt. »Nun kommen Sie«, sagte Anson. »Sie wissen, was ich von diesem Zuschusswirbel halte, in dem wir uns befinden. Darauf will ich nicht hinaus. Aber warum sind Sie so erregt? Können Sie keine andere Stelle finden?« Er sah Brade mit festem, unbeweglichem Blick an. Brade hatte Mühe, ihm standzuhalten. Was sollte er sagen? Sollte er sagen, dass da eine negative Auswirkung vorlag - dass das Ausbleiben dieser Beförderung eben diese Beförderung in im mer weitere Fernen rückte -, dass man sich wegen dieses Ausbleibens bei jedem Vorschlag zu einer Beförderung die Frage stellte: Warum ist der Mann schon so lange nur assistierender Professor? Und die Beförderung wartete dann auf die Beantwortung dieser Frage. Und nach jedem Jahr ohne Beförderung werden die Fragen lauter vorgebracht und sind schwerer zu beantworten. Nach einer gewissen Zeit gibt es einfach keine Antwort mehr darauf.

Bei der Suche nach einer neuen Stelle würden die gleichen Fragen wiederauftauchen. Er war nicht zu alt, um sich nach einer neuen Position umzusehen, er war auch kein schlechter Chemiker - er war einfach zu lange in seiner derzeitigen Stellung verblieben. Brade malte sich die höflichen Unterhaltungen aus, wenn er bei den verschiedenen Universitäten vorsprach, das höfliche Händeschütteln, die höflichen Hinweise auf meine Forschungen und deine Forschungen, den höflichen Austausch von Veröffentlichungen.

Und all diese Höflichkeit würde einzig auf die Tatsache hinauslaufen, dass keiner so unhöflich war, die eine Frage zu stellen, auf die es ankam: Warum sind Sie schon so lange nur assistierender Professor, Professor Brade? Warum lässt Ihre Universität Sie lieber gehen, als dass sie Sie befördert?

Kann man da antworten: Sie befördern mich nicht, weil sie mich bis jetzt noch nicht befördert haben? Sie lassen mich gehen, weil sie es müde sind, mich nicht zu befördern?

Er versuchte noch immer Ansons Blick standzuhalten.

Anson sagte: »Ich könnte meinen Einfluss geltend machen, um Ihnen zu helfen.«

Welchen Einfluss denn, dachte Brade in hilfloser Bitterkeit. Oh, Cap, Cap, welchen Einfluss denn? Du hast einen gewissen Einfluss hier an der Universität, weil du ein lebendes Fossil bist, dem niemand etwas tun will. Aber wo sonst? Anderswo hält man nur den wirklichen Anson in Ehren, den wirklichen, jetzt toten Anson, der einmal bedeutende Beiträge zur organischen Chemie leistete. Der alte Mann, der sich jetzt Anson nennt, ist ein Hochstapler, der mit dem wirklichen Anson nur eine körperliche Verbindung über die Jahre hin hat; die Seele, der Einfluss -das ist alles längst vorbei.

»Aber wenn Sie lieber an der Universität bleiben wollen«, fuhr Anson fort, »dann tun Sie etwas, dass man Sie behält. Sie haben noch bis Juni Zeit, erst dann wird man Ihnen für das nächste Jahr kündigen.« »Tun Sie etwas«, wiederholte Brade. »Was soll ich denn tun?« Anson schlug mit seinem Stock auf den Weg, dass einzelne Kieselsteine hochspritzten. »Wollen Sie denn aufgeben? Sie müssen kämpfen, Mann. Sie sind doch nicht auf der Universität, um nur so dahinzuvegetieren. Die Wissenschaft ist ein Kampf.« Er ballte seine alte Faust.

Es gibt Kämpfe genug auf der Welt, bei denen man fürs Kämpfen ganz hübsch bezahlt werden kann. Ich bin nicht zum Kämpfen hier. Ginny kam aus dem Affenhaus gerannt. Die zwei schwarzen Zöpfe flogen hinter ihr her, und ihre flachen Schuhe knirschten über den Kies. »Papi, kann ich noch ins Reptilienhaus gehen?« Brade blickte auf - den Bruchteil einer Sekunde lang erkannte er seine eigene Tochter nicht. »Ja, natürlich«, sagte er. »Wo ist das denn?« »Gleich da drüben. Siehst du das Schild?«

»Sollen wir mitkommen, Ginny?« Er streckte den Arm nach ihr aus, verspürte auf einmal das heftige Verlangen, sie an sich zu drücken, aus diesem körperlichen Kontakt neue Kraft zu schöpfen. Aber Ginny, die nach dem Reptilienhaus geblickt und seine Geste nicht gesehen hatte, war schon wieder einen Schritt zurückgetreten und sagte: »Ich kann allein hingehen. Ich komme dann wieder hierher.«

Und sie hüpfte davon, elf Jahr alt und absolut selbstsicher. »Was soll aus Ralphs Arbeit werden?« fragte Brade.

»Aus den kinetischen Untersuchungen?« Anson machte ein missvergnügtes Gesicht und schüttelte heftig den Kopf. »Die werfen Sie am besten in den Mülleimer.«

»In den Mülleimer? Aber es könnten sich da ganz neue Möglichkeiten auf dem Gebiet der organischen Reaktionen eröffnen. Wenn es mir gelänge, die abschließenden Bestätigungen zu finden, die letzten Akzente zu setzen« (er redete sich auf einmal in ein neues Gefühl der Hoffnung hinein), »könnte ich eine Arbeit vorlegen, die gehöriges Aufsehen erregen würde.«

Aber Anson schien sich für diese Idee nicht begeistern zu können. Er sagte: »Was wollen Sie mit diesem unfertigen Material anfangen? Ein neuer Student kann doch mit nur ein paar abschließenden Bestätigungen keine Doktorarbeit machen.« »Das natürlich nicht.«

»Wollen Sie sich selbst dransetzen, Brade?«

Brade gab keine Antwort. Er schob mit dem Schuh Kies fort, so dass ein Streifen Erde hervorsah.

»Dazu bringen Sie nicht die Voraussetzungen mit, das weiß ich genau«, sagte Anson. »Wenn Sie zu mir gekommen wären, ehe Sie mit dieser Sache anfingen, hätte ich Ihnen davon abgeraten. Kein Professor sollte einem Studenten ein Thema geben, dem er nicht selbst gewachsen ist. Das war immer mein Grundsatz: genau zu wissen und zu verstehen, womit sich meine Studenten beschäftigen. Wäre einer von ihnen plötzlich verschwunden, hätte ich die Experimente jederzeit weiterführen können. In dieser Lage sind Sie nicht, wie ich vermute.« Brade errötete. Er hatte sich pflichtgemäß Duplikatsblätter angesehen, die Ralph ihm gegeben hatte, aber die darin angeführten Integrationen und Berechnungen konfigurationeller Entropie hatten sein Verständnis überstiegen.

»Ich könnte mir die Kenntnisse aneignen«, sagte er. »Ich bin nicht zu stolz, um noch dazuzulernen.«

»Es ist keine Frage des Stolzes. Sie haben einfach nicht die Zeit dazu. Ich will Ihnen einen Rat geben.« Anson legte Brade behutsam die Hand auf die Schulter, so dass Brade sich einen Augenblick lang deutlich bewusst war, dass sein Verhältnis zu diesem alten Mann dem seiner eigenen Studenten zu ihm, Brade, entsprach. »An Ihrer Stelle würde ich ein ganz neues Gebiet erschließen. Ich würde mir ein Gebiet suchen, das noch so neu, so dünn besetzt ist, dass man einfach aufsehenerregende Entdeckungen machen muss; ein Gebiet, das die Chemiker mit Forschungszuschüssen noch nicht mit Beschlag belegt haben. Sehen Sie mal den Adler da! «

Brade blickte verwirrt auf. Der Vogel hatte die Augen geschlossen, die Flügel angelegt. Der Schnabel ging langsam auf und zu, wie bei einem alten Mann, der im Schlaf vor sich hin murmelt. »Was ist mit ihm?« fragte Brade.

»Na ja, er ist ein Fleischfresser, zunächst einmal. Die Affen in dem Haus da drüben mögen auch Insekten fressen, aber sie leben hauptsächlich von Früchten und anderer pflanzlicher Nahrung. Und doch sind die vegetarischen Affen mit dem Fleischfresser Mensch verwandt, während es der Fleischfresser Adler nicht ist. Wie spiegelt sich das in der Chemie der drei Lebewesen wieder?« »Was soll das?« fragte Brade.

»Ich spreche von vergleichender Biochemie. Die chemischen Unterschiede zwischen den einzelnen Organismen. Die wenigen Leute, die sich damit befassen, verstehen kaum etwas von organischer Chemie. Sie, Brade, würden da Spezialkenntnisse mitbringen, mit deren Hilfe Sie es sehr weit bringen könnten, finde ich. Und ich könnte mir das sehr interessant vorstellen.« Er deutete auf das Reptilienhaus. »Welches sind, chemisch gesehen, die Anpassungsweisen des Verdauungsapparats der Pythonschlange, die ein ganzes Tier verschlingt, ohne es zu kauen, dann mehrere Tage damit verbringt, es zu verdauen, und vielleicht erst in Monaten wieder etwas zu sich nimmt?«

»Du liebe Güte, Cap«, sagte Brade. Er musste unwillkürlich lächeln. »Da wüsste ich ja nicht, wo ich anfangen sollte.«

»Das ist es ja gerade. Bahnen Sie sich Ihren eigenen Weg durch den Dschungel.«