122716.fb2 Experiment mit dem Tod - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 15

Experiment mit dem Tod - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 15

Mrs. Littleby begrüßte die Gäste gleich hinter der Haustür - in früheren Zeiten, vor dem Aussterben der Rasse der Dienstboten, hätte das zweifellos der Butler getan. Sie war eine Frau von kleiner Gestalt, ohne die gängigen Merkmale der Aristokratie. Ihr mausbraunes Haar, dem es sogar an der Energie fehlte, grau zu werden, war sorgfältig frisiert, sah aber nicht so aus. Ihre Augen schienen für eine Brille gemacht zu sein, aber sie trug keine, und ihr Kleid war so entsetzlich geschmacklos, dass es ihr beinahe schon wieder eine gewisse distinguierte Note verlieh. Sie war immer sehr liebenswürdig und aufmerksam zu ihren Gästen, vergaß nie ihre Namen, ihre Position und die Leistungen, durch die sie sich in der jüngsten Zeit hervorgetan hatten. Allein deshalb mochten sie alle. Sie sagte mit einem freundlichen Lächeln: »Professor Brade, wie schön, dass Sie kommen konnten. Und Mrs. Brade, was für ein reizendes Kleid Sie anhaben. Legen Sie doch bitte Hüte und Mäntel in der Garderobe ab. Professor Brade, ich war ja so erschüttert, als ich von dem schrecklichen Unfall Ihres Studenten hörte. Wie ich zu dem Professor sagte, der arme junge Mann ist ja erlöst, aber wie schlimm muss es für die sein, die ihm nahegestanden haben, und der Doktorvater ist doch in gewisser Hinsicht wie ein Familienangehöriger, denke ich immer. Ich hätte beinahe unsere kleine Gesellschaft verschoben, aber ich weiß, dass so viele sich darauf gefreut haben -« Brade murmelte höfliche Zustimmung, lächelnd und mit dem Kopf nickend, und bewegte sich langsam seitwärts weiter. Mrs. Littleby wechselte noch ein paar Worte mit Doris, dann musste sie ihre Aufmerksamkeit neuen Gästen zuwenden.

Als Brade aus der Garderobe heraustrat, hörte er auch schon Fosters Stimme. Das hatte sie so an sich. Ohne eigentlich lauter zu sein als andere Stimmen, hatte sie ein Timbre, das ihr einen besonders durchdringenden Klang verlieh.

Foster stand neben dem Tisch mit den Appetithappen und beäugte zwischen zwei Sätzen müßig und beiläufig die Horsd'oeuvres. Dann suchte er sich mit der Mühelosigkeit der langen Erfahrung einen schmackhaften Bissen aus und führte ihn zum Mund. Er hatte den Trick heraus, ihn im Mund verschwinden zu lassen, zu kauen und hinunterzuschlucken, ohne dass man den Eindruck hatte, er müsse im Gespräch innehalten.

Yardley und Gennaro, die beiden wissenschaftlichen Assistenten, waren sein unmittelbares Publikum, und das passte Foster zweifellos. Jüngeren gegenüber war es leichter, den Ton anzugeben.

Foster sagte gerade: »Der einzige andere mir bekannte Fall ist Wakefield, aus Südnebraska. Der heiratete tatsächlich ein Mädchen, das bei ihm studierte. Er hatte fünf, sechs Doktoranden, aber darunter war nur dieses eine Mädchen. Sehr hübsch, oben herum etwas spärlich entwickelt für meinen Geschmack, aber sonst durchaus in Ordnung. Ich habe da einen Sonderkursus mitgemacht, deshalb weiß ich das. Wakefield war Junggeselle, so um die Vierzig damals, durchaus kein alter Knacker oder so, er sah ganz gut aus, aber eben durch und durch Junggeselle. Verstehen Sie, so der Typ, der in seinen Fachzeitschriften nie einen Artikel über Funktion und Handhabung von Mädchen gesehen hat und deshalb glaubt, Mädchen seien einfach Jungen, die komische Kleider tragen.«

Er hielt inne mit der erfahrenen Miene dessen, der weiß, wann er mit einem Lacherfolg rechnen kann, und er wurde auch nicht enttäuscht. Er verzog das Gesicht nicht zu dem leisesten Lächeln, genoss aber den Beifall seines Auditoriums ganz offensichtlich, griff nach einem Cocktailglas und trank einen Schluck.

»Er musste aber doch ein paar Zeitschriften gelesen haben, keine Fachzeitschriften, nehme ich an, in denen etwas über Mädchen stand, oder es hatte ihn jemand aufgeklärt, denn eines schönen Tages lädt er alle Fakultätsangehörigen zu einer Cocktailparty ein und verkündet seine Verlobung, und seine hübsche Studentin steht errötend neben ihm und lächelt. Und dann haben sie geheiratet. Ich war zur Hochzeit eingeladen.«

»Wann war das, Merrill?« fragte Gennaro.

Foster angelte sich ein Krabbenb rötchen und schob nachdenklich die dicken Lippen vor. »Das war vor zehn Jahren. Soviel ich weiß, sind sie heute noch verheiratet. Aber«- er holte tief und gewichtig Luft- »für mich tut sich da ein Problem auf: Stellen Sie sich vor, Sie haben da eine Studentin, die Ihnen passabel erscheint, und Sie beschließen, alles hübsch legal zu machen, zu heiraten. Alles schön und gut, aber wie kommt es erst mal soweit? Bevor Sie ans Standesamt denken, fragen Sie sich vielleicht: Ist sie auch die Richtige für mich? Vielleicht ist sie's, vielleicht auch nicht. Wie finden Sie das heraus?« »Mir scheint«, sagte Yardley bedächtig (er war ein sehr gewissenhafter junger Mann mit einer etwas zögernden Sprechweise, der vielleicht gerade aus diesem Grund als Dozent nie großen Erfolg haben würde), »mir scheint, es gibt da viele Gelegenheiten. Sie sehen sich vielleicht bei Seminarübungen, und es wäre durchaus natürlich, wenn sie dann und wann zusammen essen gingen, um den Fortgang der Arbeit am Dissertationsthema zu besprechen.« »Ach, das meine ich nicht«, erwiderte Foster, verächtlich abwinkend. »Ich denke nicht an Zusammensein und Konversation machen. Mich interessiert: Wann fasst er sie einmal an? Wann küsst er sie und nimmt sie in die Arme? Denn Sie müssen überlegen ... « Er hielt inne, als sich ein schlankes, dunkelhaariges Persönchen näherte, noch sehr jung, sehr schüchtern wirkend. Ihre Stimme war ein Flüstern, und Fosters Stimme bekam auf einmal einen so weichen Klang, dass man glauben mochte, aus ihm spräche plötzlich ein ganz anderer Mensch. Er sagte: »Ja, Liebes«, nickte, und die junge Frau entfernte sich wieder. Brade kannte sie natürlich. Joan Foster, Merrills Frau, war ebenso zurückhaltend und vornehm, wie Foster ungehobelt und plump war, doch schien sie nie an seinem Gebaren Anstoß zu nehmen, und er passte sein Verhalten ihrer Gegenwart nur an, wenn er mit ihr direkt zu tun hatte.

Zum Donnerwetter, dachte Brade in plötzlicher Entrüstung, was treibt diesen Mann dazu, sich so unkultiviert aufzuführen, eine primitive Sprache zu sprechen, den Hanswurst zu spielen - wo doch jeder wusste, dass er im höchsten Masse gebildet und kultiviert und ein sehr begabter Chemiker war.

Den Faden wieder aufnehmend, fuhr Foster fort: »Also so ein Unternehmen verlangt eine gekonnte Flirtaufklärung. Was versteht davon aber schon ein unerfahrener armer Professor? Oder er stürzt sich Hals über Kopf-« Er drehte zufällig den Kopf gerade so weit zur Seite, dass er Brade entdeckte. Sein Blick hellte sich sofort auf. »Hallo, Lou, haben Sie zugehört?«

»Ich habe gehört, was Sie gesagt haben«, antwortete Brade einschränkend.

»Na schön, dann sagen Sie Ihre Meinung dazu. Sie sind der Fachmann.« Er zwinkerte den jungen Assistenten zu, die es bei einer Auseinandersetzung zwischen Professoren vermieden, auch nur durch ein Lächeln Partei zu ergreifen. »Beschreiben Sie einmal die Züge dieser speziellen Partie, die zu einem Schachmatt führen.« »Falls es sich bei dem Problem um das Wechselspiel zwischen einer Studentin und einem Professor handelt und Sie die erforderlichen Züge nicht aus Erfahrung kennen«, erwiderte Brade, »kann sich kein Mensch anmaßen, über den Ausgang der Partie etwas vorherzusagen.« Die Assistenten lachten freundlich, aber Foster bekam geradezu einen Lachanfall. Er schlug sich auf die Schenkel und schüttelte den Kopf hin und her. Er reagierte natürlich viel enthusiastischer als nötig, aber das war, wie sich Brade plötzlich bewusst wurde, einer seiner Tricks. Er lachte immer herzhaft über Witze, die auf seine Kosten gingen. Das sollte dokumentieren, dass er »hart im Nehmen« war. Vielleicht war das Lachen sogar echt.

Foster fasste sich wieder und sagte, plötzlich in einen vertraulichen Flüsterton verfallend: »Übrigens, Lou, kann ich Sie mal einen Augenblick sprechen?«

Aber Brade winkte grüßend zum andern Ende des Raumes hin, wo niemand stand. Er ging murmelnd weiter. »Bis später, Merrill. « Fosters Flüstern fiel in ein Vakuum.

Der Raum füllte sich langsam. Wenn sein Fassungsvermögen voll ausgeschöpft war, würde die Doppeltür zum großen Salon geöffnet werden; die üblichen zwei Kellner, die inzwischen die Speisen angerichtet hatten, würden verschwinden, und die Gäste würden sich anstellen, um ihren Schinken mit Käse, ihre Fleischklößchen und Berge von Spaghetti, ihre gebackenen Bohnen mit Kohlsalat und später ihren Kuchen und Kaffee in Empfang zu nehmen.

Brade ging Littleby aus dem Wege, während er dem andern Ende des Raumes zusteuerte, und der Leiter des Chemischen Instituts mochte ihn gesehen haben oder auch nicht. Brade hielt letzteres für wahrscheinlicher. Hätte Littleby ihn gesehen, hätte sich auch unter den derzeitigen Umständen bei ihm gewiss die Reflexreaktion eines mechanischen Lächelns gezeigt.

Brade stand nun ganz in der Nähe von Otto Ranke; er tat so, als geselle er sich zu der kleinen Gruppe, die sich um ihn gebildet hatte. Er sah sich noch rasch um: Foster war ihm nicht gefolgt. Gut! Er war einfach nicht in der Stimmung, sich von dem Mann bemitleiden zu lassen, der schließlich von der ganzen Sache profitieren würde. Es war offensichtlich, dass der assistierende Professor Merrill Foster seinen Nutzen aus der Angelegenheit ziehen würde. Er war im Begriff, sich sehr schnell einen Namen zu machen, und er war kämpferischer veranlagt als Brade und würde rücksichtsloser als er auf die Position des außerordentlichen Professors hinarbeiten. Das einzige Hindernis auf seinem Wege war Brade. Littleby mochte zögern (oder so tun, als zögere er), einen jüngeren Kollegen dem älteren vorzuziehen. Aber wenn Brade als Hindernis ausschied, würde Fosters Beförderung nicht lange auf sich warten lassen.

Brade erschauerte. Die Universität war kein stiller Zufluchtsort. Der Dschungel der Welt machte an ihren heiligen Mauem nicht halt. Diese trennten nur den einen Dschungel vom andern, und es fragte sich, wo es schlimmer zuging.

Sicherheit? Brade sah, dass Doris mit der jungen Mrs. Gennaro sprach. Plötzlich wurde er sich deutlicher der entrüsteten Stimme Rankes bewusst. Der Physikochemiker sprach recht hitzig auf seine Zuhörerschaft ein. »Was ist Krebs schließlich?« sagte er. »Eine Krankheit. Aber was ist eine Krankheit? Es gab einmal eine Zeit, da glaubten die Gelehrten, Krankheiten seien die Folge eines fehlenden Gleichgewichts zwischen den Säften im Körper. Als Pasteur behauptete, sie seien durch parasitische Mikroorganismen verursacht, da wurde er ausgelacht und verspottet, aber er behielt schließlich recht, mit gewissen Einschränkungen. Und vergessen Sie nicht! Der Mann war kein Mediziner, sondern Chemiker. Die Ärzte lachten, und erst die Unerbittlichkeit der Tatsachen ließ sie die Wahrheit erkennen. Jetzt denken die Mediziner bei Krankheiten nur an Keime und Viren, und es wird Zeit, dass man sie an der Nase packt und ihnen eine neue Wahrheit zeigt. Wir wissen bereits, dass Krankheiten nicht nur durch das Vorhandensein von Bakterien, sondern auch durch das Fehlen von bestimmten chemischen Verbindungen verursacht werden können. Durch das Fehlen eines Nahrungsfaktors - Vitamine, besondere Aminosäuren, Spurenelemente - oder das angeborene oder erworbene Fehlen eines Hormons oder Enzyms werden Stoffwechselkrankheiten ausgelöst, die jetzt um so größere Bedeutung erlangen, als wir so viele Infektionskrankheiten inzwischen unter Kontrolle haben.

Es ist wirklich Zeit für eine neue Verallgemeinerung. Alle Krankheiten sind auf die Veränderung des Proteinmoleküls zurückzuführen. An der Veränderung mag die fehlerhafte Reproduktion eines Proteins schuld sein, dann haben wir es mit einer Mutation zu tun. Sie kann dem Organismus durch das Fehlen eines wesentlichen Bauelements aufgezwungen sein. Ein anderer Organismus mag in den Körper eindringen und modifizierte Proteine bilden, wie das die Viren tun, oder Toxine produzieren, die Proteine verändern, wie das bei den Bakterien der Fall ist.

Wir müssen vom genetischen Code her eingreifen. Alles Leben ist Nukleoprotein, und Krankheit ist inadäquates Nukleoprotein. Um mit den Nukleoproteinen fertig zu werden, können wir uns nicht auf Biochemiker verlassen. Sie wissen dazu nicht genug, und die Mediziner können da auch nichts machen. Die Proteine müssen mit physikochemischen Methoden untersucht werden von Leuten, die in der Disziplin der physikalischen Chemie ausgebildet sind, und zwar in einer ganz modernen physikalischen Chemie.

Nun habe ich beim Gesundheitsministerium einen Forschungszuschuss zur eingehenden Untersuchung von Proteinen beantragt. Ich brauchte 500000 Dollar. Eine beträchtliche Summe, das gebe ich zu, aber es handelte sich ja auch um eine sehr wichtige und umfangreiche Untersuchung. Die Leute dort bezweifeln das; es müsste auch mit 5oooo Dollar gehen, meinen sie. Und warum? Weil der Forschungszuschuss die Nützlichkeit der Untersuchungen in Verbindung mit der Ätiologie des Krebses hervorhebt. Das bedeutet automatisch, dass die Sache den Pathologen vorgelegt wird.

Und was verstehen die Pathologen schon von Krebs, das möchte ich gern wissen. Was haben die schon -«

Brade löste sich von der kleinen Gruppe. Das Ziel mochte ein anderes sein, aber die Attitüde war die gleiche: die eines Industriellen, der nach staatlichen Subventionen Ausschau hält, ehe er ein Unternehmen vergrößert.

Er zuckte fast zusammen, als ihn plötzlich jemand an der Schulter berührte. Er drehte sich um. Es war Foster; er machte ein eher ernstes Gesicht.

Brade zwang sich zu einem Lachen. »Ihre Stimme klingt ja direkt unheilverkündend. Ist es etwas Schlimmes?«

»Ich weiß nicht, wie man's nennen soll. Ich dachte mir nur, es ist besser, Sie erfahren es.« Er sah sich vorsichtig um, aber es blickte gerade niemand zu ihnen hin, und er packte Brade noch fester am Arm und sprach noch leiser. »Es handelt sich um Ralph Neufeld.« »Um Ralph?«

»Psst- leise. Es schleicht da offenbar ein Detektiv oder so jemand herum und stellt Fragen. Doheny heißt der Mann. So ein kleiner Dicker.« »Wozu denn das?«

»Keine Ahnung. Mit mir hat er nicht gesprochen. Aber bei einem meiner Studenten hat er sich erkundigt, und ich habe davon erfahren. Der junge Mann hat den Eindruck gewonnen, dass Doheny Ralphs Tod nicht auf einen Unglücksfall zurückführt.«

13

Brade starrte Foster an. Er war völlig aus der Fassung gebracht. Foster murmelte etwas beklommen: »Ich dachte einfach, es ist besser, Sie erfahren davon.«

Brade musste innerlich umschalten. Seit Stunden war er darauf gefasst gewesen, von Foster gewissermaßen seine bevorstehende Entlassung bestätigt zu bekommen. Mit dieser Nachricht hatte er nicht gerechnet. Er versuchte einen unbekümmerten Ton anzuschlagen. »Was sollte denn außer einem Unglücksfall in Frage kommen?« »Ja, wissen Sie«, meinte Foster, »ein bisschen merkwürdig, finde ich, sieht die Sache ja aus. Man muss schon ein Anfänger sein, um Zyanid mit Acetat zu verwechseln. Und Neufeld war kein Anfänger.« »Sagt das der Detektiv?«

»Lou, ich weiß nicht, was der Detektiv sagt. Aber er hat mit diesem einen Studenten von mir gesprochen und ihn gefragt, ob Ralph niedergeschlagen gewesen sei, wie er mit der Arbeit vorangekommen sei, ob er einmal etwas von Schwierigkeiten oder so gesagt habe.«

Mrs. Littleby trat mit einem Tablett voller Cocktails auf sie zu. Foster lehnte etwas gepresst lächelnd mit einem Kopfschütteln ab, aber Brade griff nach einem Glas und trank einen Schluck, wobei er Foster nicht aus den Augen ließ.

»Was wollen Sie damit sagen, Merrill?« »Ich glaube, die Polizei vermutet Selbstmord.«

Brade hatte mit dem Wort gerechnet, trotzdem traf es ihn wie ein Schock. »Warum Selbstmord?« fragte er. »Warum nicht?«

»Seine Arbeit machte gute Fortschritte.«

»Und wenn schon - was wissen Sie von seinem Privatleben?« »Kennen Sie einen Umstand, der auf Selbstmord hindeutet?« Brade hatte nicht in heftigem Ton sprechen wollen, aber der Druck der Ereignisse lastete zu stark auf ihm und beeinträchtigte seine Selbstbeherrschung. Foster reagierte sofort. Er zog feindselig die Augenbrauen zusammen. »Lassen Sie mich aus dem Spiel. Ich wollte Ihnen nur einen Gefallen tun und Sie warnen. Wenn Sie sich deswegen aufregen, dann entschuldigen Sie - ich will nichts gesagt haben.«

»Warum stellen Sie sich so, als hätte die Sache irgend etwas mit mir zu tun?« fragte Brade. »Selbst wenn es Selbstmord gewesen wäre -« Da stand plötzlich Ranke zwischen ihnen. »Was höre ich da von Selbstmord?«

Brade sah ihn scharf an. Foster zuckte die Achseln, als wollte er sagen, er habe seine Pflicht erfüllt und wenn Brade ihm das auch noch übelnehme, dann müsse er eben die Folgen tragen. Foster sagte: »Wir sprachen gerade von Ralph Neufeld.« »Selbstmord?« Rankes Lippen verzogen sich zu einem Harpyienlächeln, und sein deutender Finger machte erst zwei Zentimeter vor dem zweiten Knopf an Brades Hemd halt. »Wissen Sie, das glaube ich auch. Der Junge war verrückt. Total verrückt. Wir können froh sein, dass er darauf verzichtet hat, sich samt dem Chemischen Institut und uns dazu in die Luft zu jagen.« Brade war, als hätte er Fieber. Der eine stand links, der andere rechts von ihm. Beide glaubten an Selbstmord. Warum? Brade sagte: »Warum Selbstmord? Warum fällt es Ihnen so leicht, an Selbstmord zu glauben? In spätestens einem halben Jahr hätte er seinen Doktortitel gehabt.« Ranke war noch immer die Harpyie. »Sind Sie dessen so sicher? Wie kam er denn mit seiner Arbeit voran?«

»Sehr gut«, gab Brade kurz angebunden zurück. »Wie wollen Sie das wissen?«

Brade war im Begriff zu antworten; er sah die Falle, die Ranke ihm gestellt hatte. Er konnte ihr nicht aus dem Weg gehen; sein Schweigen bedeutete nur, dass Ranke sich die Mühe machen musste, ihn hineinzustoßen.

»Ich nehme an, er hat Ihnen gesagt, er kommt gut voran«, fuhr Ranke fort.

»Das hat er allerdings«, erwiderte Brade, der Falle trotzend. »Wie wollen Sie wissen, dass er Ihnen die Wahrheit gesagt hat?« »Ich besitze die Duplikate seiner Aufzeichnungen.«

Ranke lächelte noch breiter, und auch Foster lächelte. Brade wurde sich einer plötzlichen Stille im Raum bewusst; die einzelnen Grüppchen hielten in ihren Gesprächen inne und blickten zu ihm hin; Doris zerknüllte ein Taschentuch in der Hand und biss sich auf die Unterlippe. Brade wusste, dass er keinen Chemiker hier im Salon davon überzeugen konnte, dass er genug von Kinetik verstand, um beurteilen zu können, ob Ralph mit seiner Arbeit gut vorangekommen war oder nicht.

Rankes Stimme war honigsüß, honigsanft: »Ich weiß, von welchen Theorien Ralph Neufeld ausging, und ich sage Ihnen, sie waren unsinnig. Ich war bereit, ihn das selbst herausfinden zu lassen auf die' minimale Chance hin, dass er dabei auf eine sekundäre Spur stieß, die doch noch zu etwas geführt hätte. Aber das hat natürlich nicht funktioniert. Es war unmöglich, mit ihm auszukommen. Da ist er zu Ihnen gegangen, und das war sein Verderben. Ein Student, der sich mit einem solchen Thema abgibt, ohne einen Fachmann auf dem Gebiet zu Rate zu ziehen, der fordert die Katastrophe selbst heraus.« Das musste Ranke am meisten geärgert haben. Ralph hatte den großen Mann nie zu Rate gezogen. Brade sagte: »Sie brauchen den Jungen nicht nachträglich zu verdammen, nur weil er sich von Ihnen nicht hat helfen lassen.«

Ranke reckte das Kinn in die Höhe. »Ob er zu mir kam oder nicht, das war mir gleich. Was zum Teufel hätte mich das kümmern sollen? Ich bin nur zufällig der Auffassung, dass er in eine Sackgasse geraten war. Und ich will Ihnen etwas sagen, Lou: Er war schließlich gezwungen, diese Tatsache zu erkennen. Er hatte sich wieder und wieder mit dem Problem herumgeschlagen, hatte seine Messdaten interpretiert und noch einmal interpretiert, bis er schließlich keinen Ausweg mehr sah. Er konnte Ihnen nur vorläufig noch sagen, dass er gut vorankam, und dann ging es nicht mehr weiter. Und das hieß: keine Promotion. Also hat er sich umgebracht. Warum nicht?«

»Weil seine Arbeit doch gute Fortschritte machte«, entgegnete Brade in kaltem Zorn. »Ich mag ja in der physikalischen Chemie keine Kapazität sein, aber ein Spengler bin ich auch nicht gerade. Im Notfall kann ich auch noch eine Waldensche Inversion von einer fotochemischen Kettenreaktion unterscheiden. Ich habe seine Berichte gelesen, und er machte gute Fortschritte.« Irgendwie sah er den Raum nicht so, wie er wirklich war. Vor seinen Augen hing ein Schleier, der alles verschwimmen ließ. Alle Männer und Frauen um ihn her schienen ihn anzustarren - mit Ranke und Foster in der vordersten Reihe. Und hinter ihm schien ein Abgrund zu gähnen.

Wölfe! Er kämpfte gegen die Wölfe. Die Ereignisse der vergangenen achtundvierzig Stunden rückten in einen seltsam leuchtenden Brennpunkt. Eine gewalttätige Stimmung war in die akademische Abgeschiedenheit eingedrungen und hatte alle in Panik versetzt. Jetzt versuchten sie die zürnenden Götter zu besänftigen. Sie hatten beschlossen, für ihre Sünden zu büßen und eine Bestrafung abzuwenden, indem sie Brade opferten.