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Ranke, der weiß geworden war, krächzte etwas Unverständliches. Foster sagte: »Ich glaube, wir sollten das der Polizei überlassen.« Aber Brade war noch nicht fertig. Er wandte sich sofort Foster zu. »Vielleicht war es auch Ihr C in synthetischer organischer Chemie, das ihn fertiggemacht hat.«
»Was reden Sie da?« sagte Foster, dem plötzlich nicht ganz wohl in seiner Haut zu sein schien. »Ich musste ihm die Note geben, die er verdient hatte.«
»Hatte er die Note C verdient? Ich habe seine Prüfungsarbeit gesehen, und die war mehr als ein C wert. Und ich bin organischer Chemiker, das werden Sie zugeben, und ich bin in der Lage, eine Prüfungsarbeit in einem organischen Übungskurs zu beurteilen.«
Foster brauste auf. »Die Note bezieht sich ja nicht nur auf das Schriftliche. Da war die Arbeit im Labor, sein Benehmen in der Vorlesung -«
Brade unterbrach ihn barsch. »Es ist ein Jammer, dass niemand Ihr Benehmen in der Vorlesung beurteilt oder sich fragt, was für eine Befriedigung es Ihnen wohl bereiten kann, auf Studenten herumzuhacken, die sich nicht wehren können. Vielleicht lauert Ihnen mal einer von ihnen bei Nacht und Nebel auf, um eine längst fällige Rechnung zu begleichen.«
Mrs. Littleby kam aufgeregt näher und verkündete mit verzweifelt sanfter Stimme: »Ach, bitte - ach, bitte, es ist angerichtet, gehen wir alle hinüber, ja?«
Ranke und Foster entfernten sich. Brade schritt wie in der Mitte eines kleinen Vakuums durch die Tür zum großen Salon. Und dann war Doris an seiner Seite. »Was ist denn passiert?« fragte sie mit gepresster, gehauchter Stimme. »Wie hat das alles angefangen?«
Brade sagte durch zusammengebissene Zähne hindurch: »Sprechen wir vorläufig nicht darüber, Doris. Ich bin froh, dass es passiert ist.«
Und das war er auch. Da man ihm ohnehin kündigen würde, hatte er nichts mehr zu verlieren, und damit verband sich ein herrliches Gefühl der Freiheit, der Losgelöstheit. In der Zeit, die ihm noch an der Universität blieb, sollten ihn die Fosters und Rankes und alle diese ehrgeizigen Streber nicht mehr ungestraft anrempeln.
Das Gefühl des Trotzes übertrug sich. Man ging ihm aus dem Weg; man ließ ihn allein. So ging er von sich aus zu Littleby. »Professor Littleby.«
»Ah, Brade.« Das mechanische Lächeln des Leiters des Chemischen Instituts wirkte etwas gezwungen.
»Ich möchte doch den Vorschlag machen, Sir, dass die Vorlesung über die Sicherheitsbestimmungen als eine Angelegenheit des gesamten Instituts betrachtet wird, denn schließlich sind wir alle an Sicherheit in den Labors interessiert. Wenn ich Ihrem Vorschlag entsprechend dafür eine persönliche Verantwortung übernehmen soll, dann möchte ich, dass sich dieser Umstand in einer Verbesserung meiner Position innerhalb des Instituts ausdrückt.«
Er neigte den Kopf zu einem knappen Gruß und ließ Littleby stehen, ohne seine Antwort abzuwarten.
Auch das tat ihm gut - und kostete ihn nichts. Das war eben der Vorteil dessen, der alles verloren hatte - es gab nun nichts mehr zu verlieren. Brade und Doris gingen, sobald es die Regeln der Etikette erlaubten. Am Steuer saß Brade so kämpferisch wie zum Sprung geduckt. »Also davon habe ich genug«, sagte er. »Zu so einer Party gehe ich nie mehr, selbst wenn -«
Sie fragte mit überraschend sanfter Stimme: »Aber wie hat denn die Sache angefangen?«
»Foster wollte mich warnen. Er sagte, die Polizei glaube nicht an einen Unglücksfall. Und er selbst auch nicht. Kein Chemiker könne glauben, dass Ralph einen solchen Fehler gemacht hat. Ich nehme an, jemand hat sich deswegen mit der Polizei in Verbindung gesetzt.« »Aber warum? Warum sollte jemand Schwierigkeiten machen wollen?« »Manchen Leuten macht das eben Spaß. Und manche halten es vielleicht sogar für ihre staatsbürgerliche Pflicht. Es scheint, das Institut ist bereit, von einem Selbstmord auszugehen und es dabei bewenden zu lassen - vor allem, wenn man mir die Verantwortung zuschieben kann. Die Idioten - sie wissen nicht, was sie da für ein Gewitter heraufbeschwören.« »Aber -«
»Kein Aber. Es war Mord. Und sie müssen es auch wissen, sonst würden sie sich nicht so schnell mit einem Selbstmord abfinden. Aber die Art, wie es passiert ist - das war einfach zu kompliziert für einen Selbstmord. Er hatte das Natriumzyanid ja zur Hand. Um Selbstmord zu begehen, brauchte er nur ein paar Körner in den Mund zu nehmen. Ein Experiment in Gang zu setzen, um nach der Säurebildung Wasserstoffzyanid einzuatmen? Kein Mensch würde zum Selbstmord eine so umständliche Methode benutzen, die vielleicht nicht einmal funktioniert, wenn sich ihm ein unfehlbares Mittel anbietet.« Sein Denken hatte wieder umgeschaltet. Wieder war die Gefahr, die Stellung zu verlieren, vor der Gefahr, eines Mordes angeklagt zu werden, in den Hintergrund getreten.
Brade schlief in dieser Nacht tief und traumlos - Auswirkung der Ereignisse des gerade vergangenen Abends und der Erschöpfung, die nach zwei halb durchwachten Nächten in ihm gesteckt hatte. Beim Aufwachen fand er einen grauen, feuchten Morgen vor, und die Luft war herbstlich frisch.
Auch ihm war grau zumute. Was ihm am Abend zuvor wie ein heroischer Kampf vorgekommen war, stellte sich ihm jetzt lediglich als Marktweibergezänk dar. Die Gefahren, die ihm drohten, waren dichter herangerückt, und er sah keinen Ausweg.
Natürlich mochte man sich sagen, dass diejenigen, die am energischsten die Selbstmordtheorie verfochten, vielleicht auch diejenigen waren, die kein Interesse daran hatten, dass sich die Sache als Mord herausstellte. Und das geringste Interesse daran musste der Mörder haben.
Hieß dies, dass Ranke Ralphs Mörder war? Oder Foster? So einfach war das nicht. Er schob seinen Teller mit Schinken und Ei von sich und dachte an das Motiv.
Von Anfang an drehte sich alles um das Motiv. Er sagte zu Doris: »Ich gehe heute ins Institut.« »Heute? Am Sonntag?«
»Gerade deshalb. Ich nehme mir Ralphs Experimentaufzeichnungen vor.«
»Warum?«
»Du hast doch gehört, was Ranke gestern abend gesagt hat, oder? Er glaubt, Ralph sei mit seinen Untersuchungen in eine Sackgasse geraten, und ich könnte das nicht feststellen.« »Kannst du es denn?« fragte Doris.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Brade, »aber ich muss es herausfinden. Und mit der Arbeit selbst mache ich lieber auch gleich weiter, und dann werde ich's diesen- diesen Idioten mal zeigen.« »Weißt du, ich hab schreckliche Angst«, sagte Doris.
Brade stand auf und ging um den Tisch herum zu ihr; er legte ihr den Arm um die Schulter. »Angst haben hilft uns jetzt nicht weiter. Wir müssen mit dieser Sache zu Rande kommen. Und das werden wir auch.«
Ihr Kopf ruhte an seiner Brust; sie hatte die Augen geschlossen. >Ja, Schatz«, sagte sie, und dann kam Ginny die Treppe heruntergepoltert. Doris schob ihn von sich und rief: »Du kommst leider zu spät, Virginia, du wirst deine Eier kalt essen müssen.«
Die Zwillingsklötze des Verwaltungsgebäudes der Universität ragten aus dem Grün des Campusgeländes heraus, als Brade von der Fifth Street in die University Road einbog. Das Gebäude wirkte unnatürlich ohne den werktäglichen Autoverkehr davor, ohne den Lärm, ohne den Benzingeruch.
Die Universität sah fremd und feindselig aus. Vielleicht war es, weil Sonntag war, vielleicht hatte er auch das Gefühl, nicht mehr ganz dazuzugehören. Etwas war geschehen am Abend zuvor. Er hatte Verbindungen zerrissen, hatte innerlich bereits die Tatsache akzeptiert, dass er nicht mehr eines der vielen Rädchen dieses Getriebes war. Der Parkplatz schien ihn feindselig anzustarren. Nur drei Wagen standen hier, wo man sonst kaum eine Lücke fand. Das Chemische Institut wirkte fremd, das Sekretariat und das Chemische Museum waren geschlossen, und seine Schritte hallten in der Sonntagsstille unnatürlich laut wider.
Er fuhr mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock hinauf. Die Türen auf dem Flur waren alle geschlossen, so dass er das Licht anknipste, um etwas zu sehen. .
Vor der Tür des Labors angelangt, in dem Ralph gearbeitet hatte, zog er seinen Schlüsselbund heraus und suchte nach dem passenden Schlüssel. Irgend etwas irritierte ihn dabei-ach so, ja, es war ein Schlüssel zuviel.
Mit einem jähen Gefühl des Unbehagens erinnerte er sich daran, dass der Kriminalbeamte ihm am Freitag Ralphs Schlüssel zurückgebracht hatte. Das Unbehagen war ausgelöst durch den gleichzeitigen Gedanken, dass der Beamte daran zweifelte, dass ein Unglücksfall vorlag-er schien einen Selbstmord, jedenfalls einen gewaltsamen Tod zu vermuten.
Brade drehte den Schlüssel im Schloss herum, öffnete die Tür, trat ein und blieb so verblüfft stehen, wie man immer stehen bleibt, wenn man jemanden an einem Ort antrifft, wo man sich allein glaubte. Und die andere Person im Labor, die ebenso überrascht war, starrte Brade an und hatte den Mund halb geöffnet, als wollte sie einen Schrei ausstoßen.
14
Brade fasste sich wieder. Mit beherrschter, wenn auch etwas bebender Stimme sagte er: »Guten Morgen, Roberta. Mit Ihnen hatte ich hier nicht gerechnet.«
Roberta Goodhue legte die Hände in den Schoss. Sie hatte in einem Notizbuch geblättert, und eine Schublade von Ralphs Arbeitstisch war herausgezogen, aber nun ließ sie die Seiten langsam wieder zuklappen. »Guten Morgen, Professor Brade«, sagte sie. »Wie sind Sie denn hier hereingekommen?« »Ich- ich habe nur seine Sachen durchgesehen. Er-er ist gestern beerdigt worden, und da dachte ich, ich würde etwas finden, was ich behalten könnte, etwas -«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende, und Brade hätte ihn beinahe statt ihrer vervollständigt: etwas zur Erinnerung an ihn. Er hatte großes Mitgefühl mit ihr. Was eignete sich wohl als Andenken an eine Romanze zwischen zwei Chemiedoktoranden? Ein altes Reagenzglas, in dem er eine seiner Lösungen nachlässigerweise hatte vertrocknen lassen? Ein paar verstreute Pulverkristalle, die er abgewogen hatte, die man in einen kleinen Umschlag tun und in ein Buch legen konnte? »Oh, ich wusste nicht, wann die Beerdigung war, sonst wäre ich auch gekommen.«
Aber Roberta sagte: »Schon gut. Nur seine Mutter und ich sind mitgegangen. Es hatte eine Beerdigung in aller Stille sein sollen.« Brades Gedanken wandten sich wieder dem Problem ihrer Anwesenheit hier im Labor zu. Er wusste genau, dass er beim letzten Mal abgeschlossen hatte. Sollte jemand nach ihm hier gewesen sein, jemand, der dann die Tür nicht abgeschlossen hatte? Doheny? Mit einem Nachschlüssel?
O Gott, jetzt sah er schon unter jedem Laborstuhl und hinter jedem Messglas einen Kriminalbeamten. Es konnte Greg Simpson gewesen sein, der das Labor gemeinsam mit Ralph benutzt und keinen besonderen Grund gehabt hatte, die Tür abzuschließen. Doch Roberta schien seine erste Frage gehört zu haben. »Ich habe einen eigenen Schlüssel«, sagte sie leise.
»Aha. Woher haben Sie den denn?« »Ralph hat ihn mir gegeben.« Brade schwieg einen Augenblick. Er schloss die Tür, setzte sich auf einen Hocker und sah Roberta ernst an. Die Sonne brach durch die Wolken, drang durch die nicht allzu sauberen Fensterscheiben und schien auf Robertas Arm, so dass die dünnen Härchen leicht rötlich aufschimmerten.
Sie sieht gar nicht so übel aus, wie man meinen könnte, dachte Brade etwas erstaunt. Gewiss, sie war weder groß noch schlank und hätte in Hollywood keine Chancen gehabt, aber sie hatte lange Wimpern und feingeformte Lippen, und die Haut am Oberarm war glatt und weich in der Tönung.
Warum sollte sich Ralph nicht einfach durch das zu ihr hingezogen gefühlt haben, was man Sex-Appeal nannte? Vielleicht hatten andere, sozusagen psychologische Gründe gar keine Rolle gespielt. »Ich wusste nicht, dass er jemanden einen Schlüssel für diese Tür gegeben hatte. Aber ich sehe natürlich ein, dass Sie eine logische Ausnahme sind.«
Sie machte ein unglückliches Gesicht.
»Hat er Ihnen den Schlüssel aus einem besonderen Grund gegeben?« Er hielt inne und fuhr dann in freundlicherem Ton fort: »Normalerweise würde mich das nichts angehen, aber unter diesen Umständen -« Sie strich sich mit einer raschen Handbewegung das Haar zurück und blickte zu ihm auf. »Ich weiß, was Sie denken, Professor Brade, und wir wollen uns nichts vormachen. Ich habe mich manchmal hier mit ihm getroffen - abends. Mit einem eigenen Schlüssel konnte ich allein kommen.«
»Sie meinen, es wäre auffällig gewesen, wenn Sie zusammen gekommen wären.«
»Ja.«
Brade fühlte, wie eine Welle peinlicher Verlegenheit über ihn hinwegspülte, aber er stellte die nächste Frage ganz unvermittelt in der Hoffnung, der Schock werde das Mädchen zwingen, die Wahrheit zu sagen. »Erwarten Sie ein Kind?«
Sie zuckte zusammen und schlug die Augen nieder. »Nein.« Sie empörte sich nicht und zierte sich nicht. »Sind Sie sicher?« »Ganz sicher.«