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Bei denen muss man Messer und Stricke und so weiter gut verstecken, sonst ist es schon passiert. Ja, und dann gibt's diese andere Sorte -aber ich hoffe, ich langweile Sie nicht mit dieser Fachsimpelei.« Doheny drückte seine Zigarre aus. »Manchmal finde ich kein Ende mehr. Vielleicht interessiert Sie das gar nicht.«
»Bitte, fahren Sie fort. Ich kann mir denken, dass die Sache auch mich betrifft.«
»Na schön. Also da ist diese andere Sorte, das sind die Menschen, die die ganze Welt hassen. Nicht sich selbst, wohlgemerkt, aber alle andern. Was denen auch passiert, immer sind die andern daran schuld. So jemand kann die blödsinnigsten Sachen anstellen, und da ist er noch überzeugt, das ist so gekommen, weil jemand eine Strasse weiter geniest hat. Der bringt es fertig und tritt Sie in den Hintern und geht dann noch zur Polizei und beschwert sich, Sie hätten ein Buch in der Gesäßtasche gehabt und da hätte er sich die Zehen verletzt. Und er glaubt, alle hätten es nur auf ihn abgesehen und dächten an nichts anderes, als ihm eins auszuwischen.« »Der paranoide Typ«, sagte Brade.
»Schön - wenn er so heißt. Der Tote gehörte doch in diese zweite Gruppe, nicht wahr?«
»Ich glaube schon«, sagte Brade langsam.
»Garantiert. Jetzt- diese Leute nehmen sich nie das Leben, weil ja nie etwas ihre Schuld ist. Sie könnten sich umbringen, wenn Sie die Angaben gefälscht hätten und dann Ihr schändliches Verhalten nicht ertragen würden. Ralph Neufeld nicht. Er würde sich nie einen Vorwurf machen. Er wäre überzeugt, dass ein anderer daran schuld sei; er ist dazu gezwungen worden, verstehen Sie? Er würde sich sagen, er hat es nur aus Notwehr getan, gewissermaßen; oder um die Menschheit zu retten. Worum's auch immer geht, diese Menschen bringen sich nicht selbst um; sie bringen andere um - oder werden umgebracht.« Brade schluckte heftig, denn Doheny brachte überzeugende Argumente vor, wenn ihm auch die Fachausdrücke fehlten. »Nun schalten Sie mal einen Selbstmord aus«, fuhr Doheny fort, »und überlegen Sie logisch weiter. Angenommen, der junge Mann hätte weitergelebt und diese Arbeit hier beendet. Was wäre passiert?«
»Professor Ranke hätte den Betrug vielleicht in der mündlichen Promotionsprüfung entdeckt.«
»Und wenn dieser Professor nichts gemerkt hätte?«
»Dieser Fall ist der wahrscheinlichere. Keiner käme zunächst auf den Gedanken, Untersuchungsdaten anzuzweifeln. Ja, dann hätte er seinen Doktortitel bekommen und seine Arbeit veröffentlicht. Aber wenn dann andere Forscher versucht hätten, seine Ergebnisse zu verwenden und nachzuprüfen, hätte sich herausgestellt, dass seine Angaben nicht stimmten.«
»Hätten diese andern feststellen können, dass er sie bewusst gefälscht hatte?«
»Seine Daten wären so falsch gewesen, dass man wahrscheinlich Verdacht geschöpft hätte.«
»Und was hätte das für Sie bedeutet, Professor?« »Nichts Gutes«, murmelte Brade.
»Es hätte Ihnen vielleicht sogar sehr viel schaden können, ja?« »Ja, natürlich.«
»Vielleicht hätte der eine oder andere gedacht, Sie hätten bei der Fälschung Vorschub geleistet. Wäre das möglich?« »Ich bezweifle, dass man jemals auf diesen Gedanken käme«, sagte Brade entrüstet, aber er musste an Rankes Spleen denken und daran, wozu er fähig war.
Doheny betrachtete sein Gegenüber aufmerksam. »Vielleicht hätte man sich auch gesagt, der junge Mann hätte sich den Betrug nur leisten können, weil er wusste, dass Sie ihm doch nicht auf die Spur kommen würden.«
Brade errötete und gab einen unartikulierten Laut von sich. Der Detektiv fuhr fort: »Wenn Sie also die Fälschung nicht heute, sondern, sagen wir, vor einem Monat entdeckt hätten -« »Ich habe sie heute entdeckt«, stellte Brade nachdrücklich fest. »Ich sage ja nicht, dass es so war. Wenn Sie die Sache also schon vor einem Monat entdeckt hätten, dann hätten Sie der Sache doch irgendwie ein Ende machen müssen, und Sie hätten Neufeld nicht einfach anzeigen oder melden können, denn dann hätten Sie noch immer ziemlich belämmert dagestanden. Vielleicht hätte es für Sie nur einen Ausweg gegeben - einen >Unfall< arrangieren, bei dem der junge Mann ums Leben kam, seine Notizbücher beiseite schaffen und die ganze Sache begraben.«
»Ich hatte bis heute die Absicht, seine Arbeit fortzusetzen«, entgegnete Brade. »Und dafür habe ich Zeugen.«
»Sie haben vielleicht Zeugen, die bestätigen können, dass Sie das gesagt haben. Aber führen Sie seine Arbeit wirklich fort?« »Jetzt kann ich es nicht mehr.«
»Und wenn ich heute nicht hereingekommen wäre, hätten Sie dann irgend jemandem den wahren Grund gesagt, weshalb Sie nicht weitermachen?«
Brades Lippen pressten sich zusammen.
»Sie sehen, was ich meinte, als ich vorhin von einem Tatmotiv sprach«, sagte Doheny. »Dass Sie die Fälschung erst heute entdeckt haben, dafür haben Sie keine Zeugen.«
»Wollen Sie mich verhaften?« fragte Brade zornig. »Nein.«
»Warum nicht? Wenn ich doch ein so gutes Motiv habe -« Doheny lächelte. »Ich bin noch nicht davon überzeugt, dass Sie es gewesen sind. Ich schnüffle noch immer herum. Aber Sie sind in einer schwierigen Lage, und ich rate Ihnen, unterstützen Sie mich, wenn Sie aus ihr herauskommen wollen. Gleich eine Frage: Wer war es?« »Ich weiß es nicht.«
»Keinen Verdacht? Keiner da mit einem Motiv?« »Ich-ich habe keinen wirklichen Grund, jemanden zu verdächtigen, und einfach Namen ins Spiel zu bringen, wäre unfair und - und feige.« Doheny räkelte sich auf seinem Stuhl. »Sie sind ein ganz ungewöhnlicher Bursche, Professor. Die meisten Menschen haben keine Skrupel, über andere Leute Hässliches zu sagen. Sie warten nur auf einen Vorwand, um gemein sein zu können, ohne sich gemein vorkommen zu müssen. Verstehen Sie, was ich meine? Wenn sie sich sagen können, dass sie ein schreckliches Verbrechen aufklären helfen, ist alles gut. Wie kommt es, dass Sie da anders sind?« »Wird es mir nützen, wenn ich versuche, Argwohn zu verbreiten? Oder schaden?«
Doheny lächelte noch breiter. »Wissen Sie, ich glaube, Sie haben kein Vertrauen zu mir. Na, schauen wir uns doch mal nach möglichen Verdächtigen um. Es war sorgfältig geplanter Mord, also können wir Notwehr oder Totschlag ausscheiden. Was veranlasst einen zu morden? Vielleicht Angst. Wenn Sie's gewesen wären, vielleicht. Sie hätten Angst davor gehabt, was aus Ihrem Ruf wird, wenn diese manipulierten Notizbücher ans Tageslicht kamen. Oder Habgier? Aber der junge Mann besaß keinen Cent, und an einem Toten verdient allenfalls der Totengräber. Es könnte auch Liebe oder Hass gewesen sein, die kommen bei Mord meistens auf eines heraus. Ja, da gibt es doch hier eine gewisse Jean Makris, die dieser Ralph verschmäht zu haben scheint -und die das offenbar übelgenommen hat.« Brade war überrascht. »Wer hat Ihnen denn das erzählt?« »Oh, so zwei, drei Leute, Professor. Ich sage Ihnen ja, reden Sie einem ein, er tut ein gutes Werk, und Sie werden erstaunt sein, wieviel Schmutz er von sich gibt, und das mit dem größten Vergnügen. Ja, diese Jean Makris, versteht die etwas von Chemie? Sie ist doch nur Sekretärin, oder?«
»Sie könnte ein wenig davon verstanden haben«, sagte Brade zögernd. »Eine Sekretärin an einer Universität schnappt so manches Faustregelwissen von den Dingen auf, mit denen sie zu tun hat. Über Zyanid dürfte sie Bescheid wissen, das nehme ich doch an.« »Na, das wollen wir uns jedenfalls mal merken. Und wegen eines Alibis brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, weil die Vertauschung der Chemikalien irgendwann im Verlauf mehrerer Tage vorgenommen worden sein kann.«
»Ja.«
»Dann ist da noch ein Mädchen, das etwas mit Neufeld hatte. Eine Ihrer Studentinnen.«
»Das einzige Mädchen unter meinen Doktoranden. Ich habe das vorgestern erst erfahren.«
»Nicht früher? Haben die zwei ein Geheimnis daraus gemacht?« »Offenbar war nicht sicher, ob seine Mutter einer Ehe zustimmen würde.«
Doheny lachte leise. »Da sieht man wieder mal, dass junge Leute nicht immer gut informiert sind. Die Mutter wusste davon. Sie hat mir davon erzählt. Sie sagte, wenn ein Mädchen einen Jungen besucht, um sich mit ihm über Chemie zu unterhalten, dann unterhalten sie sich vielleicht auch über Chemie. Wenn sie aber zweimal in der Woche kommt, dann ist es mehr als Chemie.« Brade sagte zögernd: »Liebe ist gewöhnlich kein Mordmotiv, es sei denn - ein Partner will nichts mehr vom andern wissen.« »Daran dachte ich auch zuerst«, erwiderte Doheny. »Die Mutter sagt, das sei ausgeschlossen. Sie hätten sich einen Tag vor seinem Tod noch getroffen. Ich habe mich aber erkundigt. Sie waren zum Beispiel öfter in einem Drugstore und haben Eis gegessen oder ein Sodawasser getrunken. Der Mann dort kannte sie. Wie er sagt, waren sie etwa eine Woche vor dem Mord wieder einmal da und hatten eine Auseinandersetzung im Flüsterton.« »Ach«, sagte Brade überrascht.
»Hört sich interessant an, wie? Aber es ging nur darum, was sie bestellen wollten.« Der Kriminalbeamte lächelte. »Der Bursche hinter der Theke sagt, er hätte den Eindruck, Ralph hätte dem Mädchen von zu süßen Sachen abraten wollen.«
»Sie hat tatsächlich etwas Übergewicht, ja«, sagte Brade.
»Er musste aber nachgeben. Der Mann im Drugstore sagt, sie hätte ganz aufgeregt von einem Fudge gesprochen und hätte sich dann auch einen Fudge-Eisbecher bestellt. Er erinnert sich so genau daran, weil er nur wenig Sahne draufgehauen hat, damit sie am nächsten Morgen kein allzu schlechtes Gewissen hätte. Ist Ihnen die Schlussfolgerung klar?«
»Gibt es denn da überhaupt eine?«
»Na klar! Wenn ein Liebespaar Streit darüber bekommt, was für ein Eis bestellt werden soll, dann kann von Trennung keine Rede sein. Wenn er die Absicht hatte, sie sitzenzulassen, dann wäre es ihm gleichgültig gewesen, ob sie ein paar Kalorien mehr oder weniger zu sich nimmt. Ich nehme also an, dass seine Mutter recht hat und eine Trennung nicht beabsichtigt war.« »So sicher wäre ich da nicht«, entgegnete Brade. »Ralph könnte nur einen Vorwand zu einem Streit gesucht haben, um sie loszuwerden.« »Oh, vor die Geschworenen könnte ich damit nicht gehen«, gab Doheny sofort zu, »und ich habe das Mädchen auch nicht von meiner Liste gestrichen. Also, wen haben wir noch, Professor?« Brade hielt es nicht mehr aus. »Das führt zu nichts«, sagte er in heftigem Ton. »Was?«
»Ich weiß, weshalb Sie gekommen sind, und ich bin nicht ganz so töricht, wie Sie glauben. Sie haben mich in Verdacht, haben aber keine Beweise. Und jetzt reiten Sie die freundliche Tour, tun ganz offen und warten doch nur darauf, dass ich mich irgendwie verhaspele.« »Sie meinen so etwas wie Ihre Mitteilung, dass die Notizbücher gefälscht wurden?«
Brade errötete langsam. »Ja, so ungefähr. Nur dass das gestimmt hat und dass ich wirklich glaubte, es deute auf einen Selbstmord hin. Vielleicht habe ich mich da getäuscht. Aber Sie können aus mir nichts herausbekommen, was meine Schuld beweist, weil ich es nicht war. Ich kann Sie nicht daran hindern, mich für schuldig zu halten, das gehört zu Ihrem Beruf. Aber ich habe etwas dagegen, dass Sie mich auf diese hinterhältige Art bearbeiten.«
Das rundliche Gesicht des Kriminalbeamten blickte auf einmal sehr ernst. »Professor, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich könnte versuchen, Sie hereinzulegen, auch das gehört zu meinem Beruf. Aber das tue ich nicht. Ich bin auf Ihrer Seite, und ich will Ihnen auch sagen, warum.
Wenn Sie es getan hätten, hätten Sie einen jungen Menschen getötet, um Ihren wissenschaftlichen Ruf zu retten. Das tut aber nur jemand, der sich sehr klug vorkommt. Jemand, der glaubt, alle müssten wissen, wie schlau er ist, und wenn er's ihnen selbst sagen muss; wenn er ihnen ihre Ignoranz unter die Nase reiben muss.
Nun habe ich mich Donnerstag abend mit Ihnen unterhalten, Professor. Mit Ihnen, einem Chemiker, wo ich von Chemie keine Ahnung hatte. Sie mussten mir ziemlich viel erklären, und das haben Sie getan, ohne mir das Gefühl zu geben; dass ich ein Idiot bin, weil ich nicht weiß, was Sie sich in zwanzig Jahren an Wissen angeeignet haben. Wer sich mit einem Burschen wie mir so unterhalten kann, ohne dass ich mir dabei wie ein Dummkopf vorkomme, der gehört nicht zu denen, die jemanden umbringen, nur damit die Leute nicht erfahren, dass er nicht ganz so schlau ist, wie er gern erscheinen möchte.« »Ich danke Ihnen«, sagte Brade.
»Und Sie haben deshalb bei mir einen Stein im Brett. Das Dumme ist nur« - er erhob sich und ging etwas schwerfällig auf die Tür zu -, »ich und die Menschen, das ist wie Sie und die Chemikalien. Ich tippe meistens richtig, aber ab und zu irre ich mich auch mal. Na ja, im Augenblick will ich Sie nicht länger belästigen.« Er hob grüßend die Hand und ging hinaus. Brade sah ihm gedankenverloren nach.
Diese Gedankenverlorenheit hielt bis über das Abendessen hinaus an, das die Brades fast schweigend einnahmen. Sogar Ginny wirkte gehemmt und wurde dann fast im Flüsterton zu Bett geschickt. Erst später, als sehr leise gestellt das sonntagabendliche Fernsehspiel lief, Brade auf den Bildschirm starrte, ohne die Handlung wirklich zu verfolgen, nahm Doris ihm gegenüber Platz und fragte: »War heute etwas, wovon du mir erzählen wolltest?« Brade wandte ihr langsam das Gesicht zu. Sie war ein wenig blasser als gewöhnlich, wirkte aber ruhig. Er wunderte sich schon seit dem Abend zuvor darüber, dass sie die Szene bei Littleby noch mit keinem Wort erwähnt hatte. Er hatte erwartet, sie werde ihm wegen seines unüberlegten Ausbruchs heftige Vorwürfe machen.
Aber das hatte sie nicht, und sie tat es auch jetzt nicht.
So schilderte er ihr denn ohne Umschweife die Ereignisse des Tages – Robertas Enthüllungen, seine Entdeckungen bei der Durchsicht der Notizbücher Ralph Neufelds, sein Gespräch mit Doheny.
Sie unterbrach ihn mit keinem Wort, und als er fertig war, fragte sie nur:
»Und was willst du jetzt machen?«
»Irgendwie herausfinden, wer es war.« »Glaubst du, dass du das kannst?« »Ich muss es einfach können.«
»Du hast das alles am Donnerstag abend vorausgesagt, und ich habe es dir durch meine Verärgerung nur schwerer gemacht. Und jetzt habe ich große Angst, Lou.«