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»Ich weiß es, ja.« Ihre Stimme klang erstickt und undeutlich. Sie sah ihn nicht an. »Aber die Polizei glaubt nun, du warst es.« »Das glaubt die Polizei nicht, davor habe ich keine Angst.« Er wurde sich plötzlich bewusst, dass er sie nicht nur tröstete. Die Furcht, die ihn am Abend zuvor so fest umklammert hatte, war fast völlig verschwunden, obwohl die Situation selbst viel gefährlicher geworden war. Gerade weil die Gefahr zugenommen hatte, ging jetzt ein gleichsam perverses Gefühl mit ihr einher. Die fast hundertprozentige Gewissheit, dass er seine Stellung verlieren würde, hatte ihn innerlich freigemacht, indem sie ihm die chronische Angst vor diesem möglichen Ereignis nahm; und die Tatsache, dass er unter Mordverdacht stand, hatte ihn von der Angst befreit, in Mordverdacht zu geraten.
»Wir müssen das jetzt durchkämpfen, Doris«, sagte er, »und wir werden es auch schaffen.«
Er fasste ihr unters Kinn. »Mit Weinen hilfst du mir gar nicht.« Doris blinzelte mit den Augen und lächelte tapfer. »Der Beamte scheint ein netter Mensch zu sein.«
»Er ist jedenfalls nicht so, wie ich mir Kriminalbeamte immer vorgestellt habe. Das Komische ist, dass seine klugen Schlussfolgerungen mich immer wieder überraschen, weil er für meine Begriffe wie der unbeholfene Polizist in einem Kriminallustspiel aussieht.« »Soll ich uns einen Drink machen? Nur einen kleinen?« »ja, gut.« Sie kam mit den zwei Gläsern wieder zurück und sagte ruhig: »Ich habe darüber nachgedacht, was der Beamte über den Typ von Mensch gesagt hat, der Ralph getötet haben könnte; den Typ, der sich so viel auf sein Wissen einbildet.« »ja - und?«
»Passt das nicht genau auf Otto Ranke?«
Brade nickte düster. »Ja. Aber das ist in seinem Fall nicht wichtig. Ranke hatte von Ralphs Betrug keine Beeinträchtigung seines Rufs zu befürchten. Im Gegenteil. Er hatte ja schon immer gesagt, dass Ralph in eine Sackgasse geraten war. Er hätte gewiss kein Interesse daran gehabt, Ralphs Betrug zu verschleiern. Nein, Liebes, auf dem Spiel stand nur mein wissenschaftlicher Ruf.« »Aber wer kommt dann in Frage?« Sie hatte mit ganz leiser Stimme gesprochen. »ja, weißt du, ich denke die ganze Zeit über eine kleine Sache nach. Wenn das, was Doheny mir gesagt hat, Wort für Wort stimmt, dann habe ich vielleicht eine Idee. Er hat ein Wort gebraucht, das eine zweite Bedeutung haben könnte, und ich glaube nicht, dass Doheny das aufgefallen ist.«
17
»Und was für ein Wort ist das?« fragte Doris interessiert. Brade sah sie einen Augenblick lang an, ohne sie zu sehen, dann sagte er leise:
»Wahrscheinlich will es nichts heißen - ich muss noch darüber nachdenken. Und jetzt gehn wir am besten ins Bett und sehen, dass wir gut schlafen. Soll es kommen, wie es kommt.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie sanft an sich.
Sie nickte. »Du hast auch morgen Vorlesung.«
»Ich habe jeden Tag Vorlesung; mach dir deshalb keine Sorgen.«
»Na schön. Ich stelle nur das Geschirr in den Spülautomaten, und dann legen wir uns schlafen.«
»Gut. Und, wie gesagt, mach dir keine Sorgen. Überlass das alles mir.«
Sie lächelte ihn an.
Er dachte an dieses Lächeln. Er lag im Bett und starrte in die Schwärze der Nacht hinaus. Neben ihm bewegte sich Doris, aber ganz leise und behutsam, um ihn nicht zu stören, falls er schon schlief. Ihr Lächeln war so herzlich und tröstlich gewesen, und er fragte sich, was es ausgelöst hatte.
Eingebildet auf sein Wissen? (Seine Gedanken hatten einen jähen Sprung gemacht.) Ja, das war Otto Ranke. Er wachte gewissermaßen eifersüchtig über seinem Ansehen. Warum nur? Sein Ruf stand außer Zweifel. Jeder wusste, dass er ein hervorragender Wissenschaftler war. Weshalb pochte er dann so sehr darauf?
War er stolz auf sein Können - oder hegte er Zweifel? War es eine Art Unsicherheit, ein Zweifel an der eigenen Intelligenz, die ihn zwang, sie immer wieder zur Schau zu stellen, sich damit zu brüsten und jeden an die Wand zu drängen, der seine Position bedrohen mochte? Und Foster? Vorwärtsstrebend. Ehrgeizig. Verheiratet mit einer jungen hübschen Frau, die ihn so nahm, wie er war. Was trieb ihn dazu, sich jedem weiblichen Wesen gegenüber als Mann von sexuellem Format aufzuspielen? Und jedem Mann gegenüber als schlagfertiger Wortheld, auch wenn es nur im sehr einseitigen Wettstreit zwischen Lehrer und Student war?
Sogar der alte Cap! Er hatte seine abgeschlossene und erfolgreiche Karriere hinter sich und war doch sehr auf seinen Namen und sein Andenken im Hinblick auf die Nachwelt bedacht und bemühte sich, ein Buch zustande zu bringen, das beides bewahren sollte. Brade biss sich auf die Lippen. Sie litten alle an der universalen Krankheit. Unsicherheit!
Man wurde in die Welt hineingeboren, und der Schoß war fort. Es war kalt, und das Licht schmerzte. Atmen und Essen erforderten Anstrengung. Alle schützende, dunkle, kuschelige Wärme war fort. Und man war nie wieder geborgen, nie wieder sicher. Er drehte sich plötzlich herum. »Doris!« Er hatte das Wort nur gehaucht, um sie nicht zu wecken, falls sie schon schlief. Aber ihre Stimme antwortete sofort, wenn auch ein wenig benommen: »Ja, Lou?«
»Du warst gar nicht so - aufgeregt, wie ich gedacht hatte.« Er dachte an den Abend bei den Littlebys, konnte sich aber nicht dazu bringen, dies ausdrücklich zu erwähnen.
Sie sagte leise: »Du wirst es schon richtig machen, Lou.« Ihre Hand bewegte sich unter der Decke und schob sich in die seine. Er fragte sich: Hat sie endlich einen Menschen gefunden, dem sie ihre Ängste anvertrauen kann, und macht das den Unterschied aus? Aber warum erst jetzt? Er, Brade, war doch immer schon dagewesen.
Und er fragte sich weiter: War ich das wirklich?
Brade holte tief Atem und begann in den Schlaf hinüberzugleiten.
Er kam am nächsten Morgen sehr leise zum Frühstück herunter, entschlossen, das dünne Gewebe des Friedens nicht zu zerreißen, in dem er und Doris eingesponnen waren. Die Eier mit Speck waren gerade fertig, und Doris lächelte kurz und war auch sehr still.
Brade hörte Ginny oben in ihrem Zimmer umhergehen. Er aß schnell, weil er fort sein wollte, wenn sie mit ihrer kindlichen Vitalität ins Zimmer stürzte. Er trank seinen Kaffee aus, betupfte sich den Mund mit der Serviette und sagte: »Ich gehe am besten gleich.«
»Ja«, sagte Doris. »Und - Lou -« »ja?« »Du rufst an, wenn - wenn etwas ist, ja?«
»Natürlich. Und wenn ich nicht anrufe, weißt du, dass alles in Ordnung ist. Und - mach dir keine Sorgen.« Er dachte an ihr Gespräch am Vorabend. »Ich mache das schon.« Sie lächelte etwas unsicher. »ja, gut.«
Er küsste sie ungestüm und ließ sie los, als er Ginnys Schuhe die Treppe herunterklappern hörte. »Bis später.«
Die Studenten wirkten in dieser Vorlesung entspannter. Das Dozentenpult hatte an Anziehungskraft verloren, und die notorischen Hinterbänkler hatten schon fast wieder ihre alten Plätze an der Peripherie eingenommen.
Brades Stimme war vielleicht ein wenig lauter als sonst; er wollte dokumentieren, dass alles seine Ordnung hatte. Seine Formeln fielen etwas großspuriger aus, wenn er sie an die Tafel schrieb, und er behandelte die Derivate der Karbonylgruppe mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit.
Er blieb noch nach der Vorlesung, um einige Fragen zu beantworten -ein weiterer Schritt zurück zum normalen Alltag. Aber dann war auch das erledigt, und er nahm aus dem Kasten neben der Tür zum Sekretariat seine Post heraus und stieg langsam zum vierten Stock hinauf, einer Welt entgegen, in der ein Mord geschehen war. Er sah seine Post im Hinaufgehen durch. Er hatte sie in der Aufregung des Freitagmorgens nicht abgeholt und auch am Sonntag nicht, und so war der Eingang von drei Tagen zusammengekommen. Es schien jedoch nichts Wichtiges darunter zu sein. Hersteller von Labormaterial und naturwissenschaftliche Verlage, die ihre Erzeugnisse anpriesen. Bei einem gelben Umschlag, wie er für den Postverkehr innerhalb des Instituts benutzt wurde, stutzte er. Sein Name stand darauf, mit der Maschine geschrieben, und als Absender war angegeben: Chemisches Institut. Was für eine offizielle Mitteilung ging ihm da zu? Das war aber schnell geschaltet nach der Szene vom Samstag abend. Er sah im Geist, wie Littleby an diesem Morgen ganz früh eintraf, um eine bestimmte Angelegenheit als erstes zu erledigen. Er schob die übrige Post in die Rocktasche und riss den gelben Umschlag auf. Er enthielt einen Mitteilungszettel mit nur zwei Zeilen darauf. »Die Vorlesungen über die Sicherheitsbestimmungen werden im Katalog als vom Institut ausgehend geführt werden.« Und unterzeichnet war er von Littleby.
Brade war überrascht. Dann hatte Littleby auf seine grob vorgebrachte Forderung hin also doch nachgegeben. Von einer »Aufwertung seiner Position innerhalb des Instituts« war natürlich nicht die Rede, aber Brade hatte nicht einmal mit dem jetzt gemachten Zugeständnis gerechnet.
Er erreichte den vierten Stock und begegnete Otto Ranke, der aus seinen eigenen Räumen im fünften Stock herunterkam. Brade spürte geradezu, wie ihm das Adrenalin ins Blut schoss. Seine Oberlippe ging tatsächlich zu einer Art Blecken in die Höhe.
Es war Ranke, der im Vorbeigehen das Wort ergriff. In verblüffend herzlichem Ton sagte er: »Na, Lou, alter Junge, wie geht's? Sehen ja prächtig aus heute.«
Er klopfte Brade zweimal auf die Schulter, entblößte die Zähne zu einem Lächeln und eilte weiter die Treppe hinunter.
Brade starrte ihm überrascht nach. So leicht war das? Brauchte man nur einmal zu beißen, um zu zeigen, dass man Zähne hatte, und genügte dann schon die Andeutung eines Knurrens? Schüchterte man Ranke so mühelos ein? Er blickte auf den Mitteilungszettel, den er noch in der Hand hielt. Und Littleby auch?
Er war noch halb benommen, als er vor seinem Arbeitszimmer stand und den Schlüssel herumdrehen wollte. Die Tür war schon aufgeschlossen.
O Gott, das hieß, dass Cap Anson da war, und irgendwie fühlte sich Brade nicht in der Stimmung, über Caps ewiges Buch zu diskutieren. Er riss mechanisch die Tür auf und blieb auf der Schwelle stehen. Cap Anson war da. Und außerdem noch ein Fremder. Cap Anson, den Stock über den linken Arm gehängt, machte sich gerade an Brades Aktenschrank zu schaffen. Er holte die Kartons heraus, die die Nachdrucke der unter Brade entstandenen Dissertationen enthielten, sowie die Originalmanuskripte und andere Unterlagen. Auf jedem Karton stand in Tusche der Titel der Arbeit, ein Schema, das Brade wie so viele kleine professionelle Gewohnheiten von Anson übernommen hatte. Auf dem Regal darunter lagen säuberlich gebunden und etikettiert die Duplikatblätter der Notizbücher von Brades Doktoranden.
Scheint alles die Handschrift einer sehr ordnungsliebenden und sehr phantasielosen Hausfrau zu tragen, dachte Brade. Anson sagte: »Ich gebe ein bisschen mit Ihren Forschungsarbeiten an, Brade.« Aber Brade blickte den anderen Mann an. Er sah das sonnengebräunte Gesicht eines Sechzigers; eisengraues Haar, einen breiten, lächelnden Mund - und jetzt erkannte er die leicht gebeugte Gestalt natürlich. Er hatte diesem Mann auf Tagungen der American Chemical Society zugehört, und er hatte oft genug sein Bild gesehen, einmal auf dem Titelblatt der Chemical and Engineering News.
Er wartete die förmliche Vorstellung nicht ab, sondern streckte die Hand aus und sagte: »Dr. Kinsky.«
»Ja. Hallo, guten Tag. Dr. Brade, nehme ich an. Ich habe von Ihrer Arbeit gehört.« Straffe Fältchen zeigten sich um Mund und Augen, und er nickte bei jedem Satz ruckartig mit dem Kopf. »Habe sie mit Interesse verfolgt. Wir sind ja beide Schüler des guten alten Cap, wie?« Brade nickte ebenfalls und fragte sich, ob sich Joseph Kinsky wirklich die Zeit nahm, die unbedeutende Arbeit eines unbedeutenden Chemikers zu verfolgen. »Vielen Dank«, sagte er, und er wollte noch hinzufügen, dass auch er über die viel bedeutenderen Arbeiten Kinskys im Bilde sei, aber der andere sprach gleich weiter. »Es hat sich aber seit meiner Zeit einiges verändert. Hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich mich in Ihrem Labor umgesehen habe. Cap hat mich mitgeschleppt. Er schleicht noch immer überall herum. Wie zu meiner Zeit. Kein Student war vor ihm sicher.« Er blickte sich mit sichtbarer Wehmut um. »Ich habe die alte Universität gelegentlich besucht, aber jetzt war ich fünfzehn Jahre nicht hier.« »Aber setzen wir uns doch«, sagte Brade. »Sind Sie zum Mittagessen schon verabredet, Dr. Kinsky?«
»Wie? Nein, aber ich kann leider nicht so lange bleiben; ich wollte nur nicht wieder abreisen, ohne hier hereingeschaut zu haben. Waren glückliche Jahre damals. Kommen einem wenigstens jetzt so vor, nicht?«
Brade nickte. »Ich weiß, was Sie meinen. Schade, dass wir Sie nicht wenigstens einen Tag hier haben. Sind Sie schon lange in der Stadt?« »Seit über einer Woche. Hätte schon früher kommen sollen. Persönliche Angelegenheiten. Familie. Muss mir aber die beiden letzten Tage für den alten Cap reservieren.«
Der alte Cap! Brade ärgerte sich jetzt über den Ausdruck. Cap war alt, ja; über siebzig. Aber Kinsky ging auch schon stark auf die Sechzig zu. Doch da stand Cap und war offensichtlich gar nicht verärgert, sondern blickte Kinsky liebevoll an.
Cap sah Kinsky an, den begabten Schüler, die Leuchte der Chemie, den Mann, der seinem Lehrer Ehre machte.
Und Brade musste sich eingestehen, dass er eifersüchtig war; er war der gering eingeschätzte, wenig bemerkenswerte Student, der nun im Schatten des heimgekehrten erfolgreichen Studenten stand. Er zwang sich zu einem ruhigen Ton, als er sagte: »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu versichern, wie sehr ich Ihre Arbeiten über die Tetrazyklin-Synthese bewundere.«
»Ach, Unsinn.« Kinsky machte eine burschikos-wegwerfende Geste. »Nicht der Rede wert. Moran-Winter in Cambridge ist mir weit voraus.« »Er geht aber von einer anderen Seite heran. Ich glaube, das Aldosteron packen Sie vor ihm.«
»Meinen Sie? Wirklich? Das ist eigenartig, dass Sie das sagen. Sehr eigenartig, wenn man bedenkt -«
Cap Anson unterbrach ihn. »Joe war so liebenswürdig, sich gestern freizunehmen und einen Abend bei mir zu Hause zu verbringen. Er findet mein Buch sehr interessant.« Der alte Mann lachte leise und höchst befriedigt.