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Brade war immer sehr besorgt bei solchen Demonstrationen. Die Möglichkeit eines Unfalls war stets gegeben, aber den Studenten musste das Experiment gezeigt werden.
Emmett war natürlich der richtige Mann dafür. Brade sah ihm nicht zum erstenmal beim Herstellen einer Bombenröhre zu. Ruhige Augen beobachteten die ruhige Flamme, und ruhige Hände drehten das Verschlussende der Röhre herum, das sich zur Weißglut erhitzte. Man brauchte ruhige Hände und ein eiskaltes Herz, um Glyzerol auf die Fäden eines Sauerstoffmessers zu schmieren.
Brade schämte sich dieses Gedankens. Charlie Emmett? Der farblose Charlie Emmett? Was für ein Motiv sollte er haben? Roberta Goodhue kam heran, warf ihm ein kurzes, zuckendes Lächeln zu, ging schnell zur zweiten Experimentierbank und überprüfte die am Morgen für die Experimente des Tages dort aufgebaute Anordnung von Geräten und Chemikalien.
Brade sah auf seine Uhr. Es war fünf Minuten vor eins. In genau fünf Minuten würden die Studenten hereingeströmt kommen. Er dachte traurig darüber nach, dass der Lehrer durch ein halbes Dutzend Termine von Vorlesungen,. Laborübungen, Seminaren und Fakultätszusammenkünften an die Uhr gebunden war. Der Minutenzeiger rückte auf die Zwölf, und ein Student kam herein, entfaltete seine Gummischürze und streifte sich die Schleife über den Kopf. Er sagte pflichtschuldig: »Hallo, Professor Brade«, legte seine Bücher auf eine der Bänke und schlug einen von Säure verbrannten Laborleitfaden auf.
Dabei fiel ihm eine Reihe zusammengefalteter Zettel aus dem Buch, und der Student machte zuerst ein erstauntes, dann ein bestürztes Gesicht. Er ging rasch auf Emmett zu.
»Ach, Mr. Emmett, ich muss Freitag vergessen haben, meine Übungsarbeit abzugeben. Kann ich sie jetzt noch abgeben?« Er machte ein beklommenes Gesicht.
In etwas barsch-autoritärem Ton - vielleicht weil er sich der Gegenwart Brades bewusst war- sagte Emmett: »Gut, ich sehe sie mir nachher an. Aber passen Sie auf, dass das nicht noch einmal vorkommt.« Abwesend verfolgte Brade, wie der Student die Zettel hochhielt und Emmett sie entgegennahm. Jetzt kamen schnell die anderen Studenten herein. Die Zeit hatte gesprochen, die Zeit, die den Alltag eines Lehrers in kleine Stücke hackt.
Die Zeit - und was gerade geschehen war...
Es war, als wären die Studenten verschwunden, das Labor dazu, und als wäre er allein mit einem Gedanken, einem unmöglichen, schrecklichen Gedanken.
Er verließ unvermittelt das Labor. Zwei, drei Augenpaare folgten ihm erstaunt, aber er kümmerte sich nicht darum.
Er stand wieder vor dem Telefon, und er musste die Nummer in einem Buch nachschlagen.
»Es ist aber sehr wichtig«, erklärte er der energischen Stimme, die sich gemeldet hatte, »und dauert nur ein, zwei Minuten. Nein, bis drei Uhr kann ich nicht warten.«
Und das konnte er auch nicht. Er musste es jetzt wissen. Sofort. Das Warten war unerträglich, und er duckte sich innerlich bei dem Gedanken an die Peinlichkeit und Angst, die das alles bedeuten würde. Und die helle, hohe Stimme an seinem Ohr war jetzt verängstigt und bat ihn atemlos, er möchte seinen Namen nennen. Brade sprach schnell und eindringlich.
»Bestimmt?« sagte er schließlich. »War es ganz bestimmt so? Hat es sich genauso abgespielt?«
Er führte andere theoretische Möglichkeiten des Hergangs an, bis er dann aufhörte, weil er keine Hysterie erzeugen wollte. Er fragte nur noch einmal: »So war es also ganz bestimmt?« und legte dann auf.
Jetzt wusste er es also. Er kannte das Motiv, kannte den Ablauf der Ereignisse, wusste alles.
Oder glaubte es zumindest zu wissen.
Nur dass er kein erfahrener Kriminalbeamter war. Wie beweist man eine Vermutung? Er mochte es ruhig anders formulieren. Wie beweist man eine Gewissheit?
Er saß still da und dachte nach, bis die Sonne so weit gesunken war, dass sie ihm in die Augen schien. Er stand auf und ließ die Blende herunter. In dem Augenblick klopfte es. Diesmal erkannte er die breite Gestalt durch die Milchglasscheibe der Tür hindurch und öffnete sofort. »Kommen Sie herein, Mr. Doheny.« Er schloss die Tür hinter dem Beamten wieder ab.
»Guten Tag, Professor«, sagte Doheny. »Bin etwas spät von Ihrem Anruf verständigt worden und dachte, ich komme gleich, ohne mich lange anzumelden. Ich halte Sie doch nicht von einer Vorlesung oder so ab?« »Nein.«
»Na schön. Was haben Sie denn auf dem Herzen? Ich stelle mir vor, es muss schon etwas passiert sein, wenn jemand wie Sie die Polizei anruft.«
»Ja, da können Sie recht haben.« Nachdem Doheny sich gesetzt hatte, fügte er schnell hinzu: »Man hat versucht, mich zu ermorden.« Doheny, der gerade eine Zigarre aus seiner Westentasche herausholen wollte, schien zu erstarren. Seine Augen blickten auf einmal sehr kalt. »Ach ja? Sind Sie verletzt worden?«
»Nein, ich hatte Glück - im nächsten Augenblick wär's um mich geschehen gewesen.«
»So eine Sache um Haaresbreite?« »Ja, ganz recht.« Brade sah Doheny an, dass er ihm nicht glaubte. Der Beamte starrte ihn nur argwöhnisch an, er erweckte zum erstenmal den Eindruck, als sähe er in Brade einen möglichen Mörder.
19
Brade beschrieb mit zögernden Worten, wie er entdeckt hatte, dass an seiner Sauerstoffflasche herummanipuliert worden war. Doheny hörte mit halbgeschlossenen Augenlidern zu. Nur einmal zeigte er größeres Interesse; das war, als Brade auf das Glyzerol zu sprechen kam, das, wie er hinzufügte, fälschlicherweise auch Glyzerin genannt wurde. »Glyzerin? Meinen Sie Nitroglyzerin?«
Brade unterdrückte eine leise Verärgerung. »Nein. Das richtige Glyzerin - Glyzerol, meine ich - ist ganz harmlos. Es wird zur Herstellung von Süßigkeiten und Kosmetika verwendet.« »Harmlos? Ja, dann frage ich mich -«
»Harmlos unter normalen Bedingungen. Aber bedenken Sie, wenn ich diese Flasche aufgedreht hätte, wäre reiner Sauerstoff in die kleine Kammer innerhalb des Druckmessers eingeströmt - mit einem Druck von etwa 500 Kilogramm pro Quadratzentimeter. Eine Vergleichszahl: Der Sauerstoffdruck in der uns umgebenden Luft ist etwa ein Kilogramm pro Quadratzentimeter auf Meereshöhe. Unter dem Einfluss des Hochdrucksauerstoffs würde das normalerweise harmlose Glyzerol schnell und heftig reagieren und eine Hitzemenge freisetzen -« »Sie meinen, es würde explodieren.«
»Ja. Das Hauptventil würde fortfliegen, so dass der übrige Sauerstoff herausgeschossen käme-und die Flasche selbst in eine Art Monstrum mit Düsenantrieb verwandelt würde. Das ganze Labor wäre zerstört worden, und ich wäre jetzt nicht mehr am Leben.« Doheny holte tief Luft und kratzte sich. »Könnte das Zeug zufällig drangekommen sein?« fragte er.
»Nein, keinesfalls. Die Gewinde an einer Sauerstoffflasche dürfen nie geschmiert werden, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es von selbst tun. Die Flasche war am Donnerstag in Ordnung, und jemand muss sich daran zu schaffen gemacht haben.« »Um Sie zu töten, ja?«
»Es kann kein anderer Grund vorgelegen haben. Außer mir benutzt niemand die Flasche. Es war nur eine Frage der Zeit, wann ich am Hauptventil drehen würde. Ich hätte es vorhin um ein Haar getan.« Doheny nickte. An der Kälte in seinem Gebaren hatte sich nichts geändert. »Und was schließen Sie aus der Sache? Dass derjenige, der Ihren Studenten vergiftet hat, auch an der Sauerstoffflasche war?« »Zwei verschiedene Mörder hier auf der Universität wäre doch wohl etwas zuviel verlangt, oder?«
»Ja, allerdings. Und da sagen Sie sich, Sie sind der Mörder jedenfalls nicht, da Sie ja eines seiner Opfer sind, ja?« »Nun -«
»Aber genaugenommen sind Sie gar nicht sein Opfer, nicht wahr? Sie sind so gesund und munter wie eh und je, weil Sie nicht an diesem Ventil gedreht haben. Sind Sie sicher, dass Sie das Zeug nicht selber draufgeschmiert haben, Professor?« »Nun hören Sie mal -« »Nein, hören Sie lieber mal. Die Sache gefällt mir gar nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich mich getäuscht haben könnte. Ich hatte Sie allen Indizien zum Trotz als nicht schuldig eingestuft. Jetzt haben Sie sich erst richtig in Verdacht gebracht, weil Sie sich nicht ruhig verhalten konnten.« Dohenys Worte bekamen einen lebhafteren Klang. »Jemand, der unter Verdacht steht, könnte sich, wenn er schuldig ist, einfach still verhalten und nichts tun und sich sagen, dass die Polizei schon keine stichhaltigen Beweise gegen ihn auftreiben wird. Sie, Professor, bringen das nicht fertig, weil Sie zuviel Phantasie haben. Sie sind der Typ, der sich alle möglichen Sachen ausdenkt, die ihn nervös machen. Das nächstbeste ist, sich aus dem Staub zu machen; aber das können Sie auch nicht, Sie haben eine Familie, eine Stellung. Also bleibt Ihnen nur die dritte Möglichkeit, die sich dem Schuldigen bietet. Er kann zum Gegenangriff übergehen. Er kann Beweise fabrizieren, die ihn entlasten. Um das tun zu können, muss er in der Lage sein, sich vorzustellen, dass er schlauer ist als die Polizei. Das dürfte einem Professor nicht schwer fallen. Das Schlausein ist ja sein Beruf.«
Brade unterbrach ihn sehr energisch. »Ich sage Ihnen, das trifft in meinem Fall alles nicht zu!«
»Ja, ja, schon gut. Aber spinnen wir den Faden mal weiter. Ein gefälschter Beweis ist gewöhnlich ein solcher, der den Verdächtigen als das Opfer eines anderen erscheinen lässt. Wenn zum Beispiel irgendwo in Häuser eingebrochen wird und wir einen ganz bestimmten Burschen dort in der Gegend in Verdacht haben, dann erleben wir es nicht selten, dass auch im Haus des Verdächtigen eingebrochen wird. Dann steht er selbst als eines der Opfer da und kann nicht der Einbrecher sein - denkt er, dass wir glauben.«
»Aha - dann hätte ich also selbst an der Sauerstoffflasche herummanipuliert und Sie anschließend angerufen.« »Professor, Sie sind mir sympathisch - aber ich fürchte, das haben Sie getan.«
Brade hob den Druckmesser auf und sagte ruhig: »Wollen Sie das denn nicht als Beweisstück konfiszieren?«
»Das Ding ist als Beweis überhaupt nichts wert.«
Brade nickte. Er wischte die Gewinde an Druckmesser und Sauerstoffflasche mit einem weichen Lappen ab, den er zuerst in Alkohol und dann in Äther tauchte. Er blies noch Pressluft darüber. »Ich muss das später noch etwas gründlicher besorgen.« Er befestigte den Messer mit einer heftigen Drehung des Schraubenschlüssels wieder an der Flasche.
Er legte den Schraubenschlüssel hin und wandte sich Doheny zu, der ihn aufmerksam beobachtet hatte.
Brade sagte: »Sie verwenden eine Psychologie, die ich durchschaue, Mr. Doheny. Sie wollen mich in einem Netz logischer Überlegungen fangen und glauben, dass ich aus Verzweiflung ein Geständnis ablege und Sie dann den Beweis haben, mit dem Sie vor Gericht gehen können. Diese Psychologie hat aber einen Haken.« »Und der wäre?«
»Sie funktioniert nur, wenn Sie es mit dem Täter zu tun haben, und der bin ich nicht. Genauer gesagt: Ich weiß, wer es gewesen ist.« Doheny verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln. »Wollen Sie jetzt mir mit Psychologie kommen, Professor?«
»Das wäre Unsinn - ich verstehe nichts davon.« »Na schön. Wer ist der Mörder?«
Das geduldig-gönnerhafte Gebaren Dohenys brachte Brade zur Verzweiflung. »Ich brauche auch Beweise, und ich werde sie Ihnen liefern.«
Er sah rasch auf seine Uhr, griff nach dem Telefonhörer und wählte seinen Hausanschluss. »Oh, Sie sind es. Gut, hier spricht Professor Brade. Die zweite Laborübung ist so ziemlich beendet, ja? Na schönwürden Sie bitte einmal in mein Arbeitszimmerkommen? ja.« Er legte auf. »Nur noch ein paar Sekunden, Mr. Doheny.« Roberta klopfte leise an die Tür, und Brade ließ sie herein. Sie trug einen grauen Laborkittel, der ihr viel zu groß war.
Sie brachte den schwachen Geruch eines Labors der organischen Chemie mit sich, den die Studenten zuerst nicht ausstehen können, an den sie sich dann aber gewöhnen.
Ihr Blick wirkte erloschen. Ihre Augen visierten eine imaginäre Ferne an.
Brade dachte unwillkürlich: armes Ding.
Er sagte: »Roberta, dieser Herr ist Mr. Doheny.«