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Aber warum hatte jemand Ralph töten wollen? Wenn Professor Ranke mit ihm nicht zufrieden war, konnte er ihn aus seiner Laborgruppe hinauswerfen, wie er es ja auch getan hatte, und damit hatte er seinem Zorn gewiss genügend Ausdruck verliehen. Wenn Professor Foster mit ihm nicht zufrieden war, bedeutete eine Note C in den Papieren der Studenten ebenfalls Rache genug.
Und wenn sie wirklich ein Tatmotiv hatten, wie hatten sie dann bei dem Mord nach dieser speziellen Methode vorgehen können? Sie wussten doch nicht genau, wie Ralph seine Versuche durchführte. Aber er, Brade, wusste davon.
Und er hatte gleichsam schon den ersten Zipfel eines Tatmotivs.
Er konnte dem Gedanken nicht länger ausweichen. Er sah wieder Jean Makris' längliches Gesicht vor sich, spürte wieder die Wärme ihres Atems an seinem Kinn, als sie ihm das eben gesagt hatte.
Und sie hatte Ralph gehasst. Dieser Hass war ihr aus allen Poren gedrungen.
Aber warum sollte sie Ralph gehasst haben? Es gibt natürlich hundert Gründe, aus denen jemand einen anderen, vor allem ein Mädchen einen jungen Mann, hassen kann. Aber welcher Grund kam hier in Frage? Und warum sollte Ralph ihn, Brade, gehasst haben, verdammt noch mal? Er hatte dem Jungen geholfen; er hatte sich seiner angenommen, als andere ihn verstoßen hatten. Einen Augenblick lang verspürte Brade die nicht unangenehme Gefühlswallung des Selbstmitleids. »Die Leichtigkeit, mit der sich Aldehyde mit Sauerstoff verbinden, bedeutet natürlich, dass sie ausgezeichnete Reduktionsmittel sind. Diese Tatsache ist von Nutzen sowohl bei der Charakterisierung der Aldehyde wie auch ganz allgemein bei der organischen Synthese. Die ist auch von hervorragender Bedeutung bei der Zuckeranalyse. Früher wurde letztere zum Beispiel zur Entdeckung von Zucker im Urin angewandt, um festzustellen, ob Diabetes vorliegt. Heute benutzt man statt dessen eine enzymatische Methode.«
Aber was nun auch der Grund gewesen sein mochte, Ralphs Hass war gefährlich. Wenn die Polizei von diesem Hass erfuhr, würde sie forschen und bohren und brachte dabei vielleicht wirklich etwas zutage, aus dem sich ein Tatmotiv für ihn, Brade, konstruieren ließ. Der Gegenstand des Hasses mochte Grund gewesen sein, den Hasser zu töten. Und wenn sowohl Gelegenheit wie Motiv auf ihn, Brade, deutete, dann war er in einer schwierigen Lage.
Das Mädchen konnte gelogen haben. Aber warum? »Abgesehen vom Formalin, das ja, wie ich sagte, nur eine Lösung von Formaldehyd in Wasser ist, lässt sich Formaldehyd noch auf eine andere Art leicht handhaben, und zwar in der Form von Paraformaldehyd, einem Polymer, das entsteht durch die Einwirkung von -« Seine Stimme blieb ruhig bis zum Schluss.
Vielleicht konnte er sich um so leichter beherrschen, als er mit seinen Studenten eine Art Duell ausfocht. Sie beobachteten ihn; sie warteten nur darauf, dass seine Stimme versagte, dass seine Gedanken vom Thema fortwanderten, dass er durch irgendein Zeichen zu erkennen gab, wie tief ihn die Ereignisse des Vortags erschüttert hatten. Sie warteten nur darauf, und Brade fühlte sich verpflichtet, ihnen den Gefallen nicht zu tun.
Endlich kam das Klingelzeichen, und Brade legte die Kreide aus der Hand. »Über die einzelnen Zusatzprodukte der Karbonylverbindungen sprechen wir dann am Montag«, sagte er und ging zur Tür. Er wartete diesmal nicht auf die unvermeidlichen fünf, sechs Studenten, die immer noch Fragen hatten. Das war ein weiteres Thema für einen Soziologen. Es waren praktisch immer dieselben Studenten, die zu ihm kamen. Einige wollten sich zweifellos einfach beliebt machen. Einige mochten sich dabei wichtig vorkommen. Wieder andere wollten ihn vielleicht ärgern und mit Fragen aufs Glatteis führen. Und ein paar schließlich (und ihretwegen nahm Brade die andern geduldig mit in Kauf) wollten wirklich etwas näher erklärt haben oder ihren Wissensdurst befriedigen.
Diesmal aber ließ er sie alle stehen und ging sofort hinaus - sein einziges Zugeständnis an den besonderen Charakter des Tages. Cap Anson wartete schon in seinem Arbeitszimmer und blätterte in seinem neuen Buch über heterozyklische Chemie, das Brade vor drei Tagen erhalten hatte. Es war der erste Band eines auf zehn Bände bemessenen Werkes.
Anson blickte auf, als Brade eintrat (früher war dies einmal Ansons Arbeitszimmer gewesen), und sein altes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
»Ah, Brade! Fein!« Anson setzte sich an eine Schmalseite des Konferenztischs. (An dem Tisch hatten zehn Personen Platz, und er wurde gelegentlich benutzt, wenn Brade für seine älteren Studenten ein formloses Seminar abhielt.) Anson breitete ein Bündel Manuskriptseiten aus und sah ihn erwartungsvoll an. »Haben Sie die revidierte Form des 5. Kapitels gelesen?«
Brade hätte vor Erleichterung fast gelacht. Es war Erleichterung, was er verspürte. Es war, als hätte sich in ihm mit einem leisen Knacks eine Feder entspannt. Da mochten Studenten sterben und Polizeibeamte Fragen stellen und alle andern ihn, Brade, ansehen, als könnten sie es mit dem Tod persönlich zu tun haben - Anson, der gute alte, stur seinen Gewohnheiten treu bleibende Cap Anson dachte nur an sein Buch. Brade sagte: »Es tut mir leid, Cap. Ich bin noch nicht dazu gekommen.« Der Schatten der Enttäuschung lag plötzlich schwer auf dem kleinen Mann. (Er war natürlich nur körperlich klein und ging noch immer sehr sorgfältig gekleidet, das Jackett ordentlich zugeknöpft. Seit einigen Jahren trug er einen Spazierstock bei sich, aber mit ihm berührte er gewiss nur dann den Boden, wenn niemand hinsah.) Er sagte: »Ich dachte, gestern abend -« »Ich weiß, ich hatte das Problem Berzelius mit Ihnen besprochen und die revidierte Fassung lesen wollen. Es tut mir leid, dass ich unsere Verabredung nicht einhalten konnte.« Es lag ihm auf der Zunge, hinzuzufügen, dass dies das erstemal war, dass ihm dies passierte, aber er unterließ es.
»Nun, lassen wir das, aber abends zu Hause hatten Sie doch sicher Zeit, einen Blick hineinzuwerfen.« Seine noch immer sehr lebhaften blauen Augen flehten ihn gleichsam an, als müsse er, Brade, wenn er es nur versuchte, sich daran erinnern, dass er das Kapitel doch gelesen hatte.
»Ich war gestern abend etwas durcheinander, Cap, Sie müssen schon entschuldigen. Ich lese es jetzt schnell zusammen mit Ihnen durch, wenn Sie wollen.«
»Nein.« Mit leicht bebenden Händen raffte Cap Anson seine Papiere zusammen. »Ich möchte, dass Sie es sich in Ruhe ansehen. Es ist ein wichtiges Kapitel. Ich behandele die organische Chemie in diesem Kapitel als eine moderne, systematische Wissenschaft, und der Übergang ist nicht einfach. Ich komme morgen früh bei Ihnen zu Hause vorbei.«
»Tja, morgen ist Samstag, und ich habe Doris versprochen, dass ich mit meiner Tochter in den Zoo gehe, wenn schönes Wetter ist. « Das schien Anson an etwas zu erinnern. Er sagte in etwas scharfem Ton: »Ihre Tochter hat Ihnen doch das Manuskript gegeben, das sie von mir bekommen hat, ja?« »Ja, natürlich.«
»Na, gut, wir sehen uns dann morgen früh.«
Er stand auf. Er ging nicht auf Brades Bemerkung über den geplanten Zoobesuch ein. Das war nicht seine Art, und Brade hatte es auch nicht anders erwartet. Anson schrieb an einem Buch, und da interessierte ihn sonst gar nichts.
Das Buch! Es war, als hätte Brade aus seinen eigenen Sorgen heraus ein neues Mitleidsvermögen entdeckt. Anson hatte sein tiefstes Mitgefühl. Er war ein bekannter, großer, vielgeehrter Mann gewesen -und er hatte zu lange gelebt.
Seine wirklich große Zeit, als er in der organischen Chemie unumstritten herrschte, als eine gegenteilige Bemerkung von ihm eine neue hoffnungsvolle Hypothese im Keim ersticken konnte, als die Vorträge, die er auf Tagungen hielt, ein gespannt lauschendes Publikum fanden -diese Zeit lag zwei Jahrzehnte zurück.
Als Brade seinen Doktor machte, war Anson schon ein Veteran, und die organische Chemie begann sich seinem Zugriff zu entziehen. Eine neue Zeit war heraufgedämmert. Das Chemielabor war elektronisch geworden. Brade musste sich eingestehen, dass er dagegen ankämpfte, aber es war nun einmal so. Aus Chemie waren Instrumentierung und Mathematik, Reaktionsmechanismen und Kinetik geworden. Die altmodische Chemie, die eine Kunst und eine Sache des Gefühls gewesen war, gab es nicht mehr.
Anson war allein mit seiner Kunst zurückgeblieben, und die Chemiker sprachen von ihm wie von einem großen Mann, der nicht mehr lebte. Nur dass man seltsamerweise eine kleine Gestalt, die an Anson in seinen späteren Jahren erinnerte, gelegentlich bei Chemikertagungen noch immer Hotelflure entlanggehen sehen konnte. Und so wandte sich Anson als Emeritus seinem großen Ruhestandsprojekt zu - einer abschließenden Geschichte der organischen Chemie, einer Beschreibung jener Zeit, als Giganten aus Luft, Wasser und Kohle Substanzen gebildet hatte, die es in der Natur nicht gab. Aber war das denn, fragte sich Brade plötzlich, etwas anderes als Flucht vor der Wirklichkeit? Vor der Wirklichkeit dessen, was die physikalische Chemie mit Ansons geliebten Reaktionen machte, ein Rückzug in jene Zeit, als Anson eine maßgebliche Persönlichkeit gewesen war? Cap Anson war schon an der Tür, als Brade einfiel, dass er etwas vergessen hatte. »Ach, übrigens, Cap -« Anson wandte sich um. »Ja?«
»Ich werde ab nächste Woche eine Reihe von Vorlesungen über die Sicherheitsmaßregeln im Labor halten, und es wäre fein, wenn Sie Zeit hätten und mir ein oder zwei Vorlesungen abnehmen könnten. Schließlich haben Sie von uns allen hier die längste Laborerfahrung.« Anson runzelte die Stirn. »Sicherheitsregeln im Labor? Ach so, ja - Ihr Student, Neufeld. Er hatte diesen tödlichen Unfall.« Brade dachte: Dann weiß er es also doch.
Laut sagte er: »Das ist einer der Gründe, weshalb wir uns zu diesem Kurs entschlossen haben, ja.«
Aber Ansons Gesicht hatte sich in jähem Zorn verzerrt, und er hob seinen Stock und ließ ihn dann auf die Tischplatte knallen, dass es krachte wie ein Pistolenschuss. »Ihr Student ist ums Leben gekommen, und Sie sind schuld daran, Brade! Sie sind schuld!«
6
Der Knall, aber noch mehr die mit aller Schärfe vorgebrachten Worte Ansons hatten Brade erstarren lassen. Er griff hinter sich nach seinem Stuhl, bekam ihn aber nicht zu fassen. Anson sagte etwas ruhiger: »Sie können die Verantwortung nicht leugnen, Brade.« Brade sagte: »Cap, ich - ich -«
»Sie waren sein Doktorvater. Was er auch im Labor tat, fiel in Ihren Verantwortungsbereich. Sie hätten wissen müssen, was für ein Mensch er war. Sie hätten genau wissen müssen, was er tat, was er dachte. Sie hätten ihn entweder zur Vernunft bringen oder hinauswerfen müssen, wie Ranke das getan hat.«
»Sie sprechen von moralischer Verantwortung.« Brade fühlte sich schwach und erleichtert, als wäre die moralische Verantwortung für den Tod des jungen Mannes gar nichts. Seine Hand fand endlich den Stuhl, und er setzte sich. »Aber Cap, ein Professor kann und muss sich um seine Studenten kümmern, aber das geht doch nur bis zu einer gewissen Grenze.«
»Und die haben Sie noch nicht erreicht. Aber ich mache nicht nur Ihnen einen Vorwurf. Es ist die ganze allgemeine Einstellung heute. Das Forschungsexperiment ist zu einem Spiel geworden. Der Doktortitel ist ein Trostpreis, den man dafür bekommt, dass man sich zwei Jahre lang in einem Labor herumgedrückt hat, während der Professor seine Zeit im Büro mit dem Ausfüllen von Anträgen für Forschungsgelder verbringt. Zu meiner Zeit musste man sich den Doktortitel verdienen. Der Student wurde nicht dafür bezahlt. Nichts mindert eine echte Leistung so herab, als wenn man sie für Geld vollbringt. Meine Studenten haben sich für ihren Doktor abgeschuftet; sie haben dafür gehungert, und ein paar haben ihn trotzdem nicht bekommen. Aber die es geschafft haben, die besitzen auch etwas, von dem sie wissen, dass sie es sich nicht hätten kaufen oder erschwindeln können. Man musste dafür bluten. Und das war es ihnen wert. Lesen Sie nur unsere Arbeiten von damals, lesen Sie sie nur.«
Brade sagte mit aufrichtigem Respekt: »Sie wissen, dass ich sie gelesen habe, Cap. Die meisten sind heute Klassiker.«
»Hm.« Anson ließ sich ein wenig besänftigen. »Und was glauben Sie, weshalb? Weil ich die Leute angetrieben habe. Ich war sonntags im Labor, wenn es sein musste - und sie waren auch da, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe die Nacht durchgearbeitet, wenn es sein musste, und sie haben es auch getan. Ich habe sie ständig im Auge behalten. Ich kannte jeden einzelnen ihrer Gedanken. Jeder Student hat mir einmal in der Woche ein Duplikat seiner Aufzeichnungen gebracht, und das sind wir dann Seite für Seite und Wort für Wort zusammen durchgegangen. Und jetzt sagen Sie mir, was Sie von Neufelds Duplikataufzeichnungen wissen.«
»Nicht genug«, murmelte Brade. Ihm war unbehaglich, Cap Anson vertrat zwar extreme Ansichten, aber manches von dem, was er gesagt hatte, war nur zu wahr. Schmerzhaft wahr. Anson hatte seinerzeit das Duplikat-Notizbuch an der Universität eingeführt, das aus weißen und gelben Doppelblättern bestand. Alle Messdaten, alle Einzelzeiten eines Experiments (im Idealfall alle Gedanken des experimentierenden Studenten) wurden eingetragen, und die gelben Duplikatseiten wurden mit dem Kohlepapier herausgetrennt und in regelmäßigen Abständen dem zuständigen Professor ausgehändigt.
Brade behielt, wie die meisten Lehrkräfte des chemischen Instituts, den Brauch bei, aber nicht mehr mit Ansons Strenge. Anson war schließlich ein Mann der Legende. Man erzählte sich Geschichten von ihm. Zum Teil waren es die gleichen Geschichten, die man sich von jedem exzentrischen Professor erzählte, aber einige mochten schon der Wahrheit entsprechen und illustrierten seine Leidenschaft für das Detail. Da war zum Beispiel die Geschichte von Weihnachten. Anson war einmal am Weihnachtstag heimlich durch die Labors gegangen und hatte die Arbeitsplätze seiner Studenten inspiziert. Nach den Weihnachtsferien präsentierte er den erstaunten und zerknirschten jungen Leuten eine Liste mit allen Chemikalien, die nicht alphabetisch eingeordnet waren, mit allen Flaschen, die Lösungen enthielten und nicht ordentlich verschlossen gewesen waren - gleichsam eine Aufzählung von Abweichungen von den strengen Maßstäben, die Anson für die Sicherheit und Sauberkeit im Labor aufstellte. Ausgeschmückt war das Ganze noch mit sarkastischen und höchst persönlichen Bemerkungen.
Einer der Studenten stahl die Liste, und als dann die darauf erwähnten Sünder schließlich nacheinander promovierten, wurde bei dem Festessen (unweigerlich organisiert von Anson) dem Betreffenden vorgelesen, was damals an seinem Verhalten auszusetzen gewesen war. Sogar Anson lächelte grimmig und setzte noch ein paar bissige Bemerkungen hinzu.
Und seine Studenten vergötterten ihn, und Brade war damals einer von ihnen gewesen.
Jetzt war wenig von dem alten Anson übrig; er war nach so vielen Jahren ein alter Mann, den alle mit Rücksicht auf seine Legende behutsam behandelten. Brade sagte: »Haben Sie Ralph gekannt?«
»Wie? Nein. Ich bin ihm auf dem Flur ein paar Mal begegnet. Für mich war er nichts weiter als einer dieser Physikochemiker, die in einem organischen Labor herumwursteln.«
»Wussten Sie, woran er arbeitete?«
»Ich weiß nur, dass es mit Kinetik zu tun hatte.«
Brade war enttäuscht. Er hatte plötzlich daran denken müssen, dass Anson sich noch immer mit den Studenten unterhielt, sich nach ihrer Arbeit erkundigte, Ratschläge gab. Er mochte auch mit Ralph gesprochen haben, mochte mehr über ihn wissen als er, Brade. Aber offensichtlich war es auch Cap Anson nicht gelungen, den Panzer der Unfreundlichkeit zu durchdringen, den Ralph um sich gelegt hatte. Doch das ganze Gespräch hatte ein wenig die Atmosphäre jener vergangenen Zeit heraufbeschworen, als man schließlich mit allen seinen Sorgen und Nöten zu Cap ging. Brade sagte: »Mir ist etwas Merkwürdiges zu Ohren gekommen, Cap. Das beunruhigt mich schon den ganzen Morgen. Man hat mir gesagt, Ralph Neufeld habe mich gehasst.«
Cap Anson setzte sich wieder, streckte sein etwas arthritisches Bein unter dem Tisch aus und legte seinen Stock behutsam auf die Tischplatte. Er sagte ganz ruhig: »Durchaus möglich.« »Dass er mich hasste? Aber warum?«
»Seinen Doktorvater zu hassen fällt nicht schwer. Er hat seinen Titel, man selbst hat ihn noch nicht. Er teilt einem die Forschungsaufgaben zu. Man selbst arbeitet daran. Man macht seine Experimente. Er zuckt die Achseln und schlägt neue vor. Man hat seine Theorien. Er durchlöchert sie. Ein Doktorvater - wenn er etwas taugt - ist der Alpdruck seiner Studenten. Wenn in einem Studenten auch nur ein bisschen Mumm steckt, hasst er seinen Professor, bis er später erkennt, was er dem Alpdruck alles verdankt.« Anson seufzte wehmütig. »Glauben Sie denn, meine Studenten hätten mich geliebt?«
»Das würde ich doch annehmen.«
»Irrtum. Im Rückblick bilden sie sich das vielleicht ein, aber damals haben sie mich nicht geliebt. Ich habe auch nicht Liebe verlangt. Sondern Arbeit. Und sie haben gearbeitet. Sie können sich nicht an Kinsky erinnern, das war vor Ihrer Zeit.«
»Ich weiß von Kinsky«, sagte Brade in behutsamem Ton. »Ich habe ihn sprechen hören.«
Oh, er kannte Kinsky. Von allen Studenten Ansons hatte es Kinsky am weitesten gebracht. Er gehörte jetzt zur Wisconsin Gruppe und war bekannt geworden durch seine Tetrazyklin Synthese. Anson verzerrte das Gesicht zu einem Lächeln. »Er war der beste, der absolut beste meiner Schüler.«