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Foster, der gewöhnlich nicht viel trank, musste ein paar Cocktails gekippt haben, sonst hätte er das nicht so frech gesagt und nicht so albern grinsend dagestanden. Brade war zusammengezuckt und hatte Foster einen feindseligen Blick zugeworfen. Foster wollte den alten Mann ganz offensichtlich kränken.
Doch der alte Mann konnte es mit seinem Gegner aufnehmen. Einen halben Kopf kleiner als er, überragte er ihn durch seine innere Größe. Er sagte: »Foster, in zwei Fällen dürfte es kaum zu einer Eifersucht kommen. Ein Vater ist nicht eifersüchtig auf seinen Sohn, und ein Lehrer ist nicht eifersüchtig auf seinen Schüler. Wenn die Leute, die ich ausbilde, besser sind als ich, so haben sie vielleicht den besseren Lehrer gehabt. Alle ihre Leistungen strahlen auf mich zurück. Was ich als Chemiker tue, vermittelt der Menschheit die Leistungen eines einzelnen Menschen. Was ich als Lehrer vollbringe, vermittelt der Menschheit die Leistungen von vielen. Wenn ich etwas bedauere, so nicht, dass mich Kinsky übertroffen hat, sondern dass nicht jeder meiner Studenten mich übertroffen hat.«
Er hatte nicht lauter gesprochen als gewöhnlich, aber auf Fosters Bemerkung hin war es im Raum still geworden, so dass man Ansons Antwort deutlich hören konnte. Es wurde sogar ganz leise geklatscht, und zu Brades Befriedigung hatte Foster ein sehr belämmertes Gesicht gemacht.
Dachte Anson jetzt auch daran? Wahrscheinlich nicht. Anson sagte: »Glauben Sie, Kinsky hätte mich nicht gehasst? Es gab Zeiten, da hätte er mich umbringen können. Wir standen fast immer auf dem Kriegsfuß. Herrgott, Brade, ich wünschte, Sie hätten mich ein wenig mehr gehasst.«
»Ich habe Sie überhaupt nicht gehasst, Cap.«
»Ja, ich war inzwischen schon zu schlapp geworden, und deshalb sind wahrscheinlich auch neue Jungens so schlapp geworden. Ich hatte große Hoffnungen in Sie gesetzt.«
Das »hatte« traf Brade schmerzlich. Er hatte diese Hoffnungen jetzt also nicht mehr. Er würde nie von ihm, Brade, so sprechen, wie er von Kinsky sprach. Aber konnte ihn das überraschen? Was hatte er denn erwartet? Anson sagte ganz unvermittelt: »Kinsky wird uns übrigens besuchen. Hab ich Ihnen das schon gesagt?« »Nein.«
»Ich habe gestern einen Brief von ihm bekommen, aber gestern habe ich Sie ja wohl nicht gesehen, nein?« Anson zog den Brief aus der Tasche und funkelte Brade an.
Brade lächelte verlegen und griff nach dem Brief. Er war ganz kurz. Kinsky teilte nur mit, dass er geschäftlich in der Stadt zu tun hatte und hoffte, am nächsten Montag in der Universität sein zu können. Bei dieser Gelegenheit könne man dann auch über Ansons Buch sprechen, obwohl er, Kinsky, sicher sei, dass er Ansons Erfahrung und Wissen kaum noch etwas hinzufügen könne. Der Brief schloss mit den üblichen Grüßen und Wünschen. Brade sagte: »Das heißt also jetzt am Montag.« »Ganz recht. Und ich möchte, dass Sie ihn kennenlernen. Als Kommilitonen sozusagen.« Anson erhob sich ein wenig mühsam, steckte den Brief wieder ein und nahm seinen Stock in die Hand. »Ich sehe Sie dann morgen früh, Brade.«
»Ja, gut, Cap, aber vergessen Sie das nicht mit diesen Vorlesungen über die Sicherheitsbestimmungen.«
Als Anson gegangen war, machten Brade wieder die Gedanken zu schaffen. Cap Anson mochte vom Hass eines Studenten sprechen, als sei er ein Beweis für die Tüchtigkeit des Lehrers, aber das traf alles auf ihn nicht zu. Brade hatte Ralph nicht angetrieben; er hatte ihn eher vor den Folgen der Zurückhaltung durch Ranke gerettet. Er hatte Ralph geholfen; er hatte ihn behutsam behandelt, hatte seine Eigenheiten ignoriert und ihm freie Hand gelassen. Warum hätte Ralph ihn hassen sollen?
Oder log Jean Makris? Hatte sie sich vielleicht getäuscht? Wie ließ sich ihre Aussage nachprüfen? Wer kannte den eigenbrötlerischen, empfindlichen Ralph gut genug, um Jean Makris' Ansicht zu bestätigen oder zu widerlegen?
Brade wusste es nicht. Aber es gab doch Menschen, die schon durch die Arbeit mit ihm in Berührung gekommen waren. Seine Kommilitonen. Er sah auf die Uhr an der Wand. Noch nicht ganz elf. Er hatte vor dem Mittagessen nichts mehr zu erledigen. Jedenfalls nichts, was wichtiger gewesen wäre als dies jetzt.
Er ging den Flur entlang und warf einen Blick in Charles Emmetts Labor. Er war da, Roberta dagegen nicht. »Ach, Charlie, könnte ich Sie mal einen Augenblick sprechen?«
Emmett stellte seinen Scheidetrichter hin, und die beiden darin enthaltenen Flüssigkeiten trennten sich in einem Wirbel von Blasen. Er nahm den Glaspfropfen ab, um die Dämpfe abziehen zu lassen. Dann steckte er ihn wieder darauf. »Natürlich, Professor Brade«, sagte er.
Brade setzte sich auf den Drehsessel hinter seinem Schreibtisch, während sich Emmett einen gradlehnigen Stuhl vom Konferenztisch herbeizog.
Er sagte: »Schrecklich, was Ralph da passiert ist, Sir.« »Ja, allerdings. Auch für das Chemische Institut; für uns; für mich. Gerade deshalb wollte ich mit Ihnen sprechen.« Machte Emmett bei diesen Worten ein argwöhnisches Gesicht? Brade versuchte, ihn nicht zu scharf zu beobachten. Von seinen Studenten war Emmett am längsten bei ihm; er war in gewisser Hinsicht der am wenigsten begabte. Er war fleißig und gewissenhaft und hätte damit Ansons Beifall gefunden, aber ein brillanter Schüler war er gewiss nicht.
Er saß jetzt vor ihm auf seinem Stuhl, etwas untersetzt, mit rötlichem Haar und großen, breiten Händen an den sommersprossigen Armen. Er trug eine randlose Brille, die für sein Gesicht ein wenig zu klein war. Brade schätzte ihn wegen seines Gleichmuts. Manchmal sagte er sich, dass ein Student nicht unbedingt ein Genie sein musste, wenn er nur beim Scheitern eines Experiments nicht gleich von Verzweiflung gepackt wurde. Wenn Emmett ein Experiment nicht gelang, unternahm er ein anderes unter leicht veränderten Bedingungen. Den genialen Einfall hatte er vielleicht nicht, aber wahrscheinlich kam er letztlich auch ans Ziel. Und auf jeden Fall war Emmetts Ruhe im Vergleich zu der emotionellen Unausgeglichenheit des durchschnittlichen, unter innerer Spannung stehenden Studenten für Brade ein wahrer Trost. Brade sagte: »Ich fühle mich ein wenig schuldig, nach dieser Sache jetzt. Ich mache mir den Vorwurf- dass ich ihn nicht besser gekannt habe. Ich hätte ihm vielleicht noch mehr helfen können. Und das gilt natürlich auch für meine anderen Doktoranden. Für Sie. Ich müsste Sie besser kennenlernen.«
Emmett war etwas verlegen. »Ach, Professor Brade, ich kann mich nicht beklagen. Wir kommen gut miteinander aus.«
»Es freut mich, das zu hören. Aber ich mache mir dennoch Sorgen. Wir haben zum Beispiel seit fast einem Monat nicht mehr über Ihre Arbeiten gesprochen. Hat etwas nicht geklappt?« »Nein, Sir. Im nächsten Frühjahr bin ich soweit. Der historische Teil meiner Dissertation ist fertig, und die vorläufigen Versuchsergebnisse habe ich ermittelt. Ich brauche jetzt nur noch ein paar mehr Derivate.«
Brade nickte. Emmetts Thema hatte mit der Synthese gewisser Thiazolidone zu tun, die bis jetzt noch nicht nach den üblichen Methoden des Ringschlusses dargestellt worden waren. Eine solche Aufgabe hatte ihre Vor- und ihre Nachteile.
Zu einer derartigen Synthese brauchte der Student keine ausgefallenen mathematischen Kenntnisse und keine atemberaubenden Quantifikationen. Er brauchte nur Geduld und ein bisschen Glück. Andererseits kam es auf dieses bisschen Glück auch an. Manchmal ließ sich eine Synthese mit keiner der Methoden durchführen, die Student oder Professor zufällig einfielen. Oder man führte sie erfolgreich durch, um zu entdecken, dass einem ein anderer um ein paar Tage zuvorgekommen war. Im einen wie im anderen Falle war diese Dissertation wertlos, und man musste ein neues Thema stellen. So beiläufig wie möglich sagte Brade: »Dann werden Sie ja das Hassstadium bald hinter sich haben.« Emmett sah ihn verständnislos an. »Das was?«
»Cap Anson sagte mir gerade, dass ein Doktorand seinen Professor unweigerlich hassen muss.« »Ach, da hat er einen Witz gemacht. So redet er manchmal. Gott, ein Student regt sich mal über seinen Professor auf, aber das will nichts heißen.«
Brade wurde sich des ungezwungenen Tons bewusst, den Emmett ihm gegenüber anschlug. Bei ähnlichen Gelegenheiten war ihm das bisher gar nicht aufgefallen. Rankes Studenten machten immer den Eindruck, als stünden sie stramm, wenn sie mit ihm, Ranke, sprachen. (Nur, dachte Brade, was will ich eigentlich? Sollen sie vielleicht vor mir salutieren? Die Hacken zusammenschlagen?) Er sagte: »Und Ralph?«
Ein Schleier fiel über Emmetts Augen. »Wie meinen Sie, bitte?« »Was war mit Ralph, Charlie? Wie war er zu mir eingestellt?« »Tja.« Emmett räusperte sich lange. »Ich habe ihn nicht besonders gut gekannt. Keiner hat ihn gut gekannt. Er hat nie viel geredet.« »Aber er konnte mich nicht leiden, wie?«
Emmett dachte einen Augenblick nach. »Er konnte niemanden leiden. Na ja, jedenfalls -« Er machte Anstalten, aufzustehen. Brade hob die Hand. »Moment noch. Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Es ist zwar jetzt etwas zu spät dafür, aber es interessiert mich nun mal. Ich möchte das wissen. Er hat mich nicht gemocht, nicht wahr?« Sehr widerwillig antwortete Emmett: >Ja, wenn Sie so fragen, Professor - nein, wahrscheinlich hat er Sie nicht gemocht.« »Und warum nicht? Haben Sie eine Ahnung?« (Dass er einen Studenten über einen anderen ausfragte, hatte etwas Peinliches. Aber er musste es jetzt wissen.)
»Ja, eigentlich- eigentlich, weil er ein Idiot war.« Emmett machte plötzlich ein betroffenes Gesicht. »Entschuldigen Sie, das habe ich nicht sagen wollen.«
Brade erwiderte ein wenig gereizt: »Oh, wir wollen doch nicht abergläubisch sein wegen abfälliger Bemerkungen über einen Toten. Wenn über jemanden etwas Gutes zusagen ist, so soll man's ihm sagen, solange erlebt und sich darüber freuen kann. Ein Toter hat nichts mehr davon. Ich halte es für Unsinn, wenn immer verlangt wird: Lobt ihn, wenn er tot ist, aber keine Sekunde früher.«
»Na ja, er kam einmal abends zu uns, als wir so in einer kleinen Clique beisammen waren. Wir sprachen über unsere Professoren und so, Sie wissen ja.«
>ja, ich kann's mir vorstellen«, sagte Brade, der sich plötzlich ganz deutlich an seine eigene Studienzeit erinnern konnte. »Und da sagte jemand, Foster entwickelte sich zu einer Art Sklaventreiber, Sie wissen schon, und da schaltete sich auf einmal Neufeld ein und sagte, die andere Sorte sei viel schlimmer; die Sorte, die einen Studenten untergehen oder schwimmen lasse und sich nicht im geringsten darum kümmere. So wie Sie, sagte er.« Brade nickte. »Ich verstehe.« Hatte er-genau im Gegensatz zu Cap Ansons AuffassungRalphs Hass deshalb auf sich gezogen, weil er ihm zuviel Freiheit gelassen hatte?
»Aber ich muss Ihnen etwas sagen, Sir«, fuhr Emmett fort. »Ich glaube nicht, dass es eigentlich Hass war. Ich habe ihn manchmal im Seminar beobachtet, während Sie sprachen; da hat er Sie so merkwürdig angesehen, besonders in den letzten Monaten. Das war ganz komisch.« Er verstummte.
»Ja«, sagte Brade scharf, »ja?«
»Ich bin kein Psychologe, Professor Brade. Aber trotzdem - ich glaube nicht, dass er Sie hasste, so wie er sich benommen hat. Er sah ganz so aus, als hätte er Angst vor Ihnen. Richtige Angst!«
7
»Angst vor mir?« fragte Brade in heftigem Ton. »Aber warum denn, Charlie?«
»Ja, das weiß ich auch nicht, Professor.« Sie sahen sich an. Dann sagte Brade: »Sind Sie sicher, Charlie? Diese Sache lässt mir keine Ruhe, und ich muss es wissen. Gibt es einen Grund, weshalb er vor mir hätte Angst haben sollen?«
Brade verspürte ein Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber Ralphs Tod und allem, was damit zusammenhing. Die Sache schien nur einen Sinn zu ergeben, wenn er selbst der Mörder gewesen wäre? Aber was für ein Motiv hätte er gehabt haben sollen?
Emmett wurde plötzlich ganz rot. »Ich sage das jetzt nicht gern - aber wenn Sie es wissen müssen, wenn Sie niemandem sagen, wer es Ihnen gesagt hat -« »Erzählen Sie schon.«
»Ich selbst weiß eigentlich nichts. Aber ich weiß, wer Ihnen weiterhelfen kann, wenn es überhaupt jemanden gibt.« »Wer?« »Roberta, Sir.«
»Roberta Goodhue?« fragte Brade verwirrt, obwohl er gar keine andere Roberta kannte als diese Studentin, die ebenfalls zum Kreis seiner Doktoranden zählte.
»Ja. Ich habe mich gar nicht dafür interessiert - ich meine, eigentlich weiß es niemand, aber da ich das Labor mit Roberta teile, merke ich ab und zu einmal was oder höre was, ohne es zu wollen.« Seine Verlegenheit hatte ein geradezu schmerzhaftes Stadium erreicht. »Sie -sie kannte ihn wohl ganz gut.« »Wie meinen Sie das?« Brade war ein wenig erschüttert. Wusste er denn gar nichts von seinen Studenten?
»Verstehen Sie mich nicht falsch, Professor Brade. Ich will damit nur sagen, dass sie zusammen ausgegangen sind; so zwei-, dreimal. Ob mehr dahinter war, weiß ich nicht. Aber auch zwei, drei Verabredungen sind schon etwas. Ich meine, einem Mädchen, das man zum Essen einlädt, erzählt man sicher mehr als einer Gruppe von Kommilitonen in der Mensa, wenn Sie wissen, was ich meine.« »Ja, natürlich.« Brade nickte nachdenklich. »Ist Roberta heute da?« »Ich habe sie noch nicht gesehen, Professor.« »Ich nehme an, sie weiß, was passiert ist.«
»Ich denke schon. Ich habe gehört, dass Jean Makris sie angerufen hat.« Eine merkwürdige Andeutung eines Lächelns war über seine Lippen gehuscht, ehe Brade noch sicher sein konnte, dass er sich nicht getäuscht hatte.
»Na ja, ich danke Ihnen, Charlie. Das war nett, dass Sie mir in der Sache geholfen haben.«
»Oh, bitte sehr. Aber Sie sagen Roberta nichts, Sir, nicht wahr? Dass Sie das von mir haben, meine ich.« »Nein. Seien Sie unbesorgt.«
Er stand auf, um Emmett die Tür aufzumachen; da sah er einen Studenten, der draußen auf dem Gang herumschlich. Er musste noch einmal hinsehen, und dann erkannte er ihn: es war Gregory Simpson, sein neuester Student, der junge Mann, der mit Ralph Neufeld das Labor geteilt hatte.
»Wollten Sie mich sprechen, Greg?«
»Wenn Sie ein paar Minuten Zeit für mich haben, Professor Brade.« Simpson hatte eine Tenorstimme und helle Augenbrauen, die fast unsichtbar waren, so dass seine blassen Augen irgendwie nackt wirkten. Die runde Nase verlieh seinem Gesicht einen komischen, gutmütigen Ausdruck.
»ja, kommen Sie nur herein.«