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»Oh, guten Tag, Professor. Sagen Sie nur nicht, heute morgen war ein Seminar, und ich habe es verschwitzt.«
»Nein, nichts dergleichen, Roberta. Ich wollte mich erkundigen, wie es Ihnen geht.«
»Oh.« Es trat eine Pause ein, und Brade malte sich aus, wie sie sich zusammennahm, damit man ihr nichts anmerkte. »Danke, es geht mir gut. Ich komme nachher zur Arbeit ins Labor.« »Fühlen Sie sich auch imstande dazu?« »Unbedingt.« »Na schön, Roberta, wenn es Ihnen nichts ausmacht, vielleicht -« Er hielt inne und sah auf die Uhr. Es war zwanzig vor zwölf, und er wollte sie nicht drängen, aber andererseits wohnte sie nur fünf Minuten von der Universität entfernt. »Vielleicht könnten Sie schon um zwölf hier sein?« Wieder eine Pause. >Ja, das geht.«
»Gut. Und wenn es Ihnen recht ist, lade ich Sie zum Lunch ein.« Wieder eine Pause, dann fragte sie ein wenig zögernd: »Möchten Sie etwas mit mir besprechen, Professor Brade?«
Brade hielt eine ausweichende Antwort für sinnlos. »Ja.« »Hat es mit meinem Thema zu tun?«
»Nein, es ist etwas Persönliches.« »Gut, ich komme, Professor.« »Fein.« Er legte auf.
Brade sah sich den Unterrichtsplan für den Nachmittag an. Die Laborübungen würden sich mit den Aldehyden und Ketonen beschäftigen. Ferner war die Präparation eines Silberspiegels vorgesehen - eines jener nutzlosen, aber spektakulären Experimente, die das Interesse der Studenten wachhielten - sowie die Darstellung eines Sulfitzusatzprodukts, was keine Mühe machte, abgesehen vom Ausspülen des Niederschlags. Dabei wurde Äther gebraucht, der natürlich höchst feuergefährlich war. Doch war bei allen Nachmittagsexperimenten keine offene Flamme erforderlich, und dass sie nicht rauchen durften, war den Studenten ja oft genug eingeschärft worden - sie wussten, dass sie bei Verstößen gegen die Sicherheitsregeln vom Kurs ausgeschlossen wurden. Trotzdem, es durfte heute zu keinem Zwischenfall kommen. Er nahm sich vor, Charlie Emmett noch einmal darauf hinzuweisen. Brade wünschte, er hätte dieses eine Mal nicht ins Labor zu gehen brauchen. Sein Erscheinen war nicht unbedingt erforderlich, aber er pflegte zumindest für eine gewisse Zeit anwesend zu sein. Zum einen mochten Fragen auftauchen, die die Laborassistenten nicht beantworten konnten, und zum andern förderte sein Erscheinen die studentische Moral. Ein Laborkurs wirkte immer etwas uninteressant und zweitrangig, wenn der vorlesende Professor ihm ostentativ fernblieb. Andererseits war Charlie Emmett durchaus in der Lage, die Experimente zu überwachen. Er arbeitete jetzt im zweiten Jahr hier, und wenn ihm Roberta am Chemikalientisch half, konnte eigentlich nichts passieren. Roberta Goodhue klopfte leise an die Tür, und Brade griff nach Hut und Mantel, als sie eintrat.
Er lächelte und sagte recht förmlich: »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir in die Riverside Inn gingen? Wir nehmen meinen Wagen, dann sind Sie um eins wieder hier.«
»Ja, gut.« Es schien ihr gleichgültig zu sein. Sie war klein, und ihre leichte Pummeligkeit wurde noch durch den Schnitt ihres lachsfarbenen Mantels unterstrichen. Sie war ein dunkler Typ und wahrscheinlich, so dachte Brade, über ihren starken Haarwuchs gar nicht glücklich. Sie hatte den Anflug eines Schnurrbarts, und eine Reihe dünner Haare zog sich an der Wange hinunter.
Sie war nicht eigentlich hässlich, aber auch gewiss nicht hübsch. Er sagte: »Warten Sie bitte am Haupteingang auf mich. Ich will nur noch schnell Charlie sagen, dass er heute wegen offener Flammen besonders vorsichtig sein soll.«
Die Riverside Inn war gut besucht, aber sie bekamen noch einen Tisch in einer Nische mit Blick auf den Fluss und die daran entlangführende Autostrasse. Die unverdorbene Natur wich jedes Jahr weiter zurück. »Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen der Unglücksfall gestern nahegegangen ist.«
Sie hatten ihre Bestellungen aufgegeben, und Roberta saß da, zerbröckelte ihr Brötchen und starrte zu den auf vier Fahrspuren dahineilenden Autos hinaus. Sie sagte flüsternd: »Ja.« »Ich - habe den Eindruck, dass Sie mit Ralph - befreundet waren.« Roberta sah zu ihm auf, plötzlich standen ihre Augen voll Tränen. »Wir wollten heiraten, sobald er seinen Doktor gemacht hatte.«
8
Die Kellnerin kam und brachte Brade ein Kalbskotelett, Roberta Eiersalat und Kaffee für beide. Dadurch trat eine willkommene Pause ein, und Brade hatte Zeit, sich zu fassen.
Er sagte: »Das tut mir schrecklich leid. Ich hatte keine Ahnung, dass die Sache so stand. Sie hätten zu Hause bleiben sollen, ich habe das ja nicht gewusst.«
»Ist schon gut. Wahrscheinlich ist es besser so.« Sie schien sich zusammenzunehmen, um ihn fest ansehen zu können. »Wollen Sie über Ralph mit mir sprechen?«
Brade suchte nach Worten. »Ich möchte nicht, dass das jetzt pietätlos klingt, aber da ist die Frage, was aus seiner Arbeit wird. Andererseits, unter diesen Umständen -«
Sie runzelte die Stirn. »Wollen Sie damit weitermachen?« »Nein, darüber brauchen wir jetzt nicht zu sprechen.«
Das war töricht gewesen, ein Mädchen hierherzuschleppen, um es über seinen Verlobten auszufragen, der noch keine vierundzwanzig Stunden tot war. Aber wie hätte er das wissen sollen! Roberta beobachtete ihn aufmerksam. »Sie haben ihn wohl nicht gemocht, nicht wahr?« Brade zuckte ein wenig zusammen. Hatte sie das seinem verstörten Gesicht angesehen? »Doch«, sagte er, »ich hatte eine recht hohe Meinung von ihm.«
»Ich danke Ihnen, dass Sie das sagen, aber ich glaube, Sie waren doch nicht sehr von ihm angetan. Ich weiß, dass nur ganz wenige Menschen ihn leiden konnten, und ich verstehe das durchaus.« Sie brockte wieder an ihrem Brötchen herum und hatte den Salat fast unberührt weggeschoben. »Er war ein merkwürdiger Mensch, fast immer in der Defensive. Man wurde nur langsam mit ihm warm, aber dann merkte man, dass er nett war. Empfindsam. Liebevoll.« Sie hielt inne. »Ich war gestern abend lange bei seiner Mutter. Arme Frau. Wie konnte das nur passieren? Ich kann es einfach nicht glauben, dass er so unachtsam gewesen sein soll.«
»Hatte er außer der Mutter noch Verwandte?« fragte Brade rasch. »Nein.« Sie sah ihn einen Augenblick lang an. »Sie wissen gar nichts von Ralph, Professor Brade, nicht wahr? Ich meine, über sein Privatleben.«
»Ich fürchte, nein, Roberta. Ich bin mir jetzt bewusst geworden, dass ich mich mehr und persönlicher um meine Studenten kümmern muss. Aber diese Unterhaltung muss Sie doch schmerzlich berühren.« »Von ihm zu sprechen, ist das einzige, was mir noch bleibt«, sagte Roberta. Sie blickte angestrengt vor sich auf ihren Teller, und ein paar Strähnen ihres widerspenstigen Haares, das etwas flüchtig zu einem Pferdeschwanz geschlungen war, fielen ihr in die Stirn. »Er war kein gebürtiger Amerikaner.« »Oh?«
Das hatte Brade immerhin gewusst.
»Seine Mutter und er waren die einzigen Überlebenden von - etwas sehr Unschönem. Er hat mir nie näher davon erzählt, aber das ist ja jetzt auch nicht wichtig. Sein Vater wurde erschossen, und er hatte noch eine ältere Schwester, die getötet wurde - irgendwie.
Er fürchtete sich vor der Welt. Das Leben war für ihn auch in Amerika nicht leicht. Ein fremdes Land, eine fremde Sprache. Und ich nehme an, er fürchtete sich zu sehr, um jemals einem anderen Menschen wirklich vertrauen, ihm ohne Argwohn begegnen zu können. Das entwickelte sich zu einer gewohnheitsmäßigen Reaktion. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich glaube, ja, Roberta.«
»Und damit geriet er in einen Teufelskreis. Weil er sich nicht gelöst geben und die anderen akzeptieren konnte, konnten sie ihn nicht leiden und verletzten ihn. Und dann war er gezwungen, mit einem törichten Verhalten darauf zu antworten. Es fiel ihm schwer, mit einem anderen Studenten zusammenzuarbeiten; er glaubte immer, ihm würde etwas fortgenommen; so wie ihm seine Familie, seine Kindheit genommen worden war. Wenn er den Eindruck hatte, dass ein anderer Student eines der Bechergläser nahm, die er selbst gespült hatte, wurde er wild. Das war keine Reaktion der Vernunft, aber er konnte einfach nicht richtig reagieren, wenn so etwas passierte. Aber Professor Ranke hat nicht einmal den Versuch gemacht, ihn zu verstehen. Er hat ihn einfach hinausgeworfen. Für Ralph war das einfach eine Zurückweisung mehr, eine von vielen. Er zog sich daraufhin noch mehr in sich selbst zurück.« »So, dass er dann auch mich hasste, nicht wahr, Roberta?« Sie blickte ihn an, und ihre Stimme klang schärfer. »Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Oh, das war nur eine Vermutung.« »Jean Makris hat Ihnen das gesagt, nicht?«
»Wie kommen Sie darauf?« fragte Brade zurück, der etwas verwirrt war.
Robertas Nasenflügel bebten, und ihr Mund war zusammengekniffen. Dann holte sie tief Luft. »Es spielt ja keine Rolle mehr, Sie können es ruhig wissen. Ralph ist ein-, zweimal mit ihr ausgegangen, bevor - bevor wir uns näher kennenlernten. Es war weiter nichts. Aber das hat diese dumme Person nicht gemerkt.
Sie ließ und ließ ihm keine Ruhe, als es schon längst vorbei war. Und sie war rachsüchtig. Sie rief mich gestern abend an, und sie hat sich richtig gefreut, mir sagen zu können, dass er tot ist.« Sie sprach in mühsam beherrschtem Ton.
»Dann glauben Sie also nicht, dass Ralph Grund hatte, mich zu hassen?« fragte er.
»Nein. Ich habe ihn nie sagen hören, dass er Sie hasste. Natürlich, ganz am Anfang -«
»Ja?«
»Er war sehr unsicher wegen seines Forschungsthemas. Professor Ranke hatte ihn hinausgeworfen, und er kam sich als Versager vor. Deshalb wäre es denkbar, dass er zu Jean Makris etwas davon gesagt hat, wie er damals zu Ihnen stand. Ich nehme an, dass er das getan hat, denn sie rief ihn einmal an, als es zwischen ihnen schon aus war, und da hat sie offenbar durchblicken lassen, dass sie ihm Schwierigkeiten machen könnte, wenn sie Ihnen sagt, wie er über Sie denkt. Nun hat sie gewartet, bis er tot ist - aber selbst jetzt kann sie ihn nicht in Ruhe lassen.«
Sie schluckte und begann leise zu weinen.
Brade schob seinen Teller beiseite, trank seinen Kaffee aus und winkte der Kellnerin.
»Trinken Sie lieber noch Ihren Kaffee und machen Sie sich über Ralphs Verhältnis zu mir keine Sorgen. Wir kamen gut miteinander aus, und wenn er mich am Anfang nicht leiden konnte - nun, das haben Sie ja recht plausibel erklärt, und ich habe volles Verständnis dafür.« Er verspürte den Drang, ihr die Hand zu tätscheln, hielt sich aber zurück. Sie nippte an ihrem Kaffee, und die Kellnerin kam mit der Rechnung. Auf der Rückfahrt zur Universität fragte Brade: »Hat Ralph Ihnen einen Verlobungsring geschenkt, Roberta?«
Sie starrte mit schmerzvoller Konzentration voraus auf die Straße, ihr Blick ging aber offensichtlich ins Leere. »Nein, er konnte sich die Ausgabe nicht leisten. Seine Mutter ist arbeiten gegangen, damit er studieren konnte. Sie hatte diese europäische Einstellung, wissen Sie. Kein Opfer war zu groß, wenn sie aus ihrem Sohn einen Gelehrten machen konnte. Und was hat sie jetzt?«
»Hatten Sie schon einen Zeitpunkt für die Hochzeit in Aussicht genommen?« »Das Datum stand noch nicht fest. Aber wir wollten gleich nach seiner Promotion heiraten.«
»Wusste seine Mutter von diesen Plänen?«
»Sie wusste, dass wir befreundet waren. Und sie konnte mich gut leiden, glaube ich. Aber dass wir heiraten wollten, davon hatte er ihr wohl nichts gesagt. Ich könnte mir denken, dass sie nicht einverstanden gewesen wäre. Dass sie geglaubt hatte, mit seinem Doktortitel hätte er eine bessere Partie machen können. Europäische Mütter haben ihre eigenen Vorstellungen von dem Verkaufswert eines Doktortitels auf dem Heiratsmarkt.«
Sie fuhren durch das Tor auf das Gelände der Universität. Brade ließ sich während der Laborübungen sehen, aber nur kurz. Es verlief alles ruhig. Sogar Gerald Gorwin, der »unfallträchtige« Student, schien es vermieden zu haben, ein Stück Glas zu finden, an dem er sich in den Finger schneiden konnte. Er blickte höchst konzentriert auf sein Teströhrchen und freute sich, dass es von dem silbrigen Aldehydniederschlag glitzerte, der einen zylindrischen Spiegel daraus machte.
Dann verbrachte er einige Zeit im Sekretariat des Instituts mit der Durchsicht der Fakultätsberichte über Ralph Neufeld. Da er sich von Jean Makris beobachtet wusste, überflog er die Aufzeichnungen nur. Er fand aber ohnehin nichts von Bedeutung. Bedrückt ging er in sein Arbeitszimmer und begann, sich Aufzeichnungen für die geplanten Vorlesungen über die Sicherheitsbestimmungen zu machen. Es gab Theman, die ins Auge sprangen. Die ordnungsmäßige Benutzung des Abzugs, Methoden der Verdampfung feuergefährlicher Lösungsmittel, der richtige Umgang mit Gasflaschen, Wasserbäder, Drahtgeflechtuntersätze, das Biegen von Röhren.
Und wie stand es mit der Handhabung von Pipetten? Man befand sich da in einer Übergangsperiode. Zu Brades Zeit war eine Pipette etwas, das man in den Mund steckte, um damit eine Lösung bis zu einem bestimmten Strich anzusaugen. Es war eine unappetitliche und außerdem nicht ungefährliche Beschäftigung, da durch unvorsichtiges Saugen ein wenig von der Lösung in den Mund gelangen konnte, und die Lösung war meistens ätzend oder giftig. Es verging kein Semester, ohne dass nicht wenigstens ein Student seinen Mundvoll Natriumhydroxydlösung abbekam.
Heutzutage verwandte man in den Labors der älteren Studenten fast durchweg Gummiballons. Sie ersetzten bei den Pipetten das Ansaugen durch den Mund und hatten besondere Ventile, mit deren Hilfe sich der Saugprozess willkürlich abbrechen ließ. Das Dumme war nur, dass das Institut zögerte, die etwa hundert noch für die Labors der Anfänger benötigten Gummiballons anzuschaffen. Vielleicht ließen sich jetzt, wo es allgemein um die Sicherheit ging, die finanziellen Bedenken überwinden. Brade machte sich eine Notiz dazu. Und während er noch weiter überlegte, wanderten seine Gedanken davon, und er starrte auf einmal geradeaus vor sich hin, den Kugelschreiber in der Schwebe haltend.
Der so bemerkenswert abweisende Ralph hatte offenbar die Zuneigung zweier junger Damen errungen, zumindest in einem Masse, das heftige eifersüchtige Gefühle ausgelöst hatte. Eigenartig! Das wies der Suche nach dem Tatmotiv ganz neue Wege. Es genügte nicht mehr, nur den Ärger von Kommilitonen und Fakultätsmitgliedern auf einen jungen Mann mit scharfer Zunge und streitsüchtiger Veranlagung in Betracht zu ziehen und sich zu fragen, wie dieses Gefühl zu einem kaltblütigen Mord hatte führen können. Es galt jetzt auch enttäuschte Liebe als Motiv zu untersuchen, und aus enttäuschter Liebe hatte sich schon manche Gewalttat entwickelt. Wiederum eigenartig! Weder Jean Makris noch Roberta Goodhue konnte man als hübsch bezeichnen.
Das war töricht! Frauen jeden Aussehens heirateten, und Männer auch. Wenn nur Schönheitsideale ä la Hollywood zu Leidenschaft führten, würde die Menschheit bald aussterben.
Es spielte eben nicht nur das Aussehen eine Rolle. Freundliche, mitfühlende Art mochte einem jungen Mann mehr bedeuten als ein System von Kurven. Ein Gesicht, aus dessen Augen Wärme und Zuneigung sprach, mochte die Tatsache vergessen lassen, dass auf den Wangen Haare wuchsen. Warum nicht?