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1.
Tiefe Verzweiflung hatte die Menschen der VANITY FAIR befallen. Schwach zeichnete sich auf einem Bildschirm die heimatliche Milchstraße ab. Ein weiterer Bildschirm zeigte den Planeten, von dem das Schiff gestartet war – die Staubwolken, die die zerfallenden Häuser hinterließen, hüllten die Kugel vollständig ein.
»Schluß jetzt!« sagte Aphros in die bedrückende Stille hinein. »Wir kommen keinen Schritt vorwärts, wenn wir nur hier herumsitzen und uns gegenseitig bescheinigen, wie schlecht es uns doch geht. Wir müssen zurück – nach Morcos, Mainares oder Terra.«
»Auch gut«, murrte Giri bel Tarman. Er setzte sich auf den freien Sitz des Piloten und betrachtete nachdenklich die Bildschirme.
»Verdammt!« knurrte Spooky DeLacy, der sich hinter Giri gestellt hatte. »Wie sollen wir Morcos finden?« Der hochgewachsene Terraner mit dem rostroten Haar drehte sich zu Aphros um; der Androide fütterte gerade den Mainaresbären Soleil mit konservierten Früchten.
»Weißt du, wie wir den Weg zurück finden können?« erkundigte er sich.
Aphros schüttelte den Kopf und erklärte bedauernd: »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wir sollten uns erst die Köpfe zerbrechen, wenn wir unsere Galaxis wieder erreicht haben! Von hier aus sind die vertrauten Sternenkonstellationen ohnehin nicht auszumachen.«
»Versuchen wir es«, sagte Giri leise.
Er schob den Beschleunigungshebel auf den äußersten Wert vor; die Menschen spürten nicht, wie die VANITY FAIR an Fahrt gewann. Nur ein sich langsam bewegender Zeiger deutete die Geschwindigkeitszunahme des Schiffes an. Als der Zeiger in den rot gefärbten Bereich übersprang, betätigte Giri den Sprungmechanismus.
»Der Spiralarm jedenfalls stimmt!« stellte Spooky nach einstündiger Arbeit fest. »Der Stern voraus müßte Rigel sein – der Radius ist fast zwanzigmal so groß wie der der Sonne, und die Temperatur liegt bei zirka 12.000 Grad Kelvin. Und den Begleiter, den das Handbuch verzeichnet, können wir auch erkennen.«
Giri bestätigte mit einem kurzen Nicken. Dann versuchten er und Spooky unter den Millionen von Sternen auf den Bildschirmen die Erde ausfindig zu machen. Zwei Stunden später zeigte Giri endlich ein zufriedenes Gesicht.
»Hier!« sagte er freudig und wies mit dem Finger auf einen leuchtenden Punkt. »Dies hier müßte die Erde sein – beziehungsweise die Sonne, um die Terra rotiert.«
Er verband einige Sterne mit Fingerbewegungen zu einer Figur. »Dieses Sternbild ist auch von Morcos aus zu sehen. Jetzt ist es nur schwer auszumachen, aber ich bin ziemlich sicher.«
Der Morcone hatte die Zieleinrichtung der VANITY FAIR auf Morcos ausgerichtet. Geduldig wartete er, bis der Geschwindigkeitsmesser in den roten Bereich der Skala hinüberwanderte, doch als er die Überlichttriebwerke einschalten wollte, mußte er eine beängstigende Feststellung machen – der Knopf ließ sich nicht niederdrücken. Giri stieß einen Fluch aus, der Sirghia das Blut ins Gesicht trieb.
»Was ist los?« fragte Spooky, nachdem er den Kraftausdruck annähernd übersetzt und sich sorgfältig eingeprägt hatte.
»Der Antrieb will nicht arbeiten!« stammelte Giri entsetzt.
»Ausgeschlossen!« protestierte der Androide. »Solange keine Maschine gewaltsam beschädigt wird, kann sie nicht ausfallen.«
»Der Antrieb scheint anderer Meinung zu sein!« sagte Giri finster.
Jedes Besatzungsmitglied besaß hinreichende astrophysikalische Kenntnisse, um die Gefahr dieser Lage abschätzen zu können. Wenn der überlichtschnelle Antrieb ausfiel, so bedeutete dies, daß Morcos oder die Erde, die von Rigel neunhundert Lichtjahre entfernt waren, nur noch im Dilatationsflug zu erreichen war.
Auf den ersten Blick erschien diese Tatsache nicht übermäßig bedrohlich. Die VANITY FAIR besaß genügend Treibstoff und Vorräte, um jahrelang mit 99 Prozent der Lichtgeschwindigkeit zu fliegen. Die Wahrscheinlichkeit, daß einer der Menschen den Dilatationsflug nicht überlebte, war verschwindend gering. Aber während an Bord des Schiffes je nach Geschwindigkeit nur Monate vergingen, würden auf Morcos oder Terra Jahrhunderte vergehen.
»Neunhundert Jahre!« murmelte Spooky niedergeschlagen.
Zehn Minuten lang versank das Cockpit der VANITY FAIR in ein beklemmendes Schweigen. Während die Menschen verzweifelt nach Auswegen aus der verfahrenen Lage suchten, raste das Schiff mit Höchstgeschwindigkeit durch den Raum. Danielle kämpfte mühsam ein Schluchzen nieder, Sirghia hielt die Augen geschlossen, während die vier Männer stumpf auf den Boden starrten.
Lediglich Soleil zeigte sich unbeeindruckt; das Tier brummte unzufrieden, da sich niemand um sein Wohlergehen kümmerte. Der Bär stieß Danielles Beine einige Male mit seiner schwarzen Nase an. Als das Mädchen nicht reagierte, machte er sich daran, das Raumschiff auf eigene Faust zu erkunden. Das Abbild der umliegenden Sterne auf den großen Bildschirmen erregte das besondere Interesse des Bären; Soleil brummte und richtete sich auf, um die funkelnden Dinger etwas näher zu betrachten. Nachdem er sich sattgesehen hatte, ließ sich Soleil wieder auf alle viere zurückgleiten. Dabei rutschte seine behaarte Pranke über den Knopf, den Giri vergeblich hatte betätigen wollen.
Knackend rastete er ein, und im Bruchteil einer Sekunde verschwand die VANITY FAIR aus dem Normalraum und tauchte in das Hyper-Kontinuum ein.
»Bär an Bord schafft Sorgen fort«, reimte Spooky verwundert, nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte. »Heilige Parallaxe, wie hat das Vieh das bewerkstelligt?«
Der Sprung war völlig korrekt ausgeführt worden – einige Lichtminuten vor ihnen bewegte sich Mainares auf seiner Umlaufbahn.
Soleil genoß es sichtlich, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen. Von zwölf Händen gestreichelt und gekrault, legte er sich auf den Rücken und gab ein zufriedenes Schnurren von sich.
»Welches Datum haben wir heute eigentlich?« murmelte Giri bel Tarman nachdenklich.
»Sieh auf das Bordchronometer«, empfahl Spooky.
Giri tat wie ihm geheißen und rechnete exakt drei Jahre vom Datum ab; dann sah er auf sein Chronometer, um die genaue Uhrzeit festzustellen. Sein Gesicht verzog sich zu einem triumphierenden Grinsen.
»Ich weiß alles!« erklärte er mit Nachdruck. »Wenn meine Uhr halbwegs richtig geht, dann sind wir zur Zeit nur einige Minuten von dem Augenblick entfernt, in dem die VANITY FAIR mit dem Schiff von Eugene Gerbault kollidiert.«
»Augenblick!« unterbrach Spooky hastig. »Dieses Ereignis ist drei Jahre her! Wie kann es da noch bevorstehen?«
»Falsch!« Giri deutete auf den Bildschirm, der das Geschehen vor dem Bug des Schiffes wiedergab. »In wenigen Augenblicken wirst du selbst sehen können, wie die VANITY FAIR mit Gerbaults Schiff zusammenstößt. Vergiß nicht, wir waren drei Jahre in die Vergangenheit versetzt worden. Also finden Ereignisse, die vor drei Jahren in unserer Vergangenheit waren, jetzt erst statt!«
»Aber was«, fragte Danielle, »hat dies damit zu tun, daß vorhin das Überlichttriebwerk nicht arbeiten wollte?«
Giri zuckte die Schultern. »Ich habe dafür nur eine Erklärung. Hätte der Sprung früher stattgefunden, dann hätten wir theoretisch in die Kollision eingreifen können. Und dadurch hätten wir die Voraussetzungen unserer Zeitverschiebung annullieren können. Da man aber die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung nicht einfach auf den Kopf stellen kann, mußte unsere Reise nach Morcos so lange verzögert werden, bis wir auf die Kollision keinen Einfluß mehr nehmen konnten.«
Gelassen deutete Giri auf den Bildschirm, auf dem sich jetzt die unverkennbare Silhouette der VANITY FAIR abzeichnete; Sekunden später erschien ein zweites Schiff auf dem Bildschirm. Atemlos sahen die Menschen zu, wie die beiden Schiffe sich rammten und in einer grelleuchtenden Wolke verschwanden.
»Wie ihr seht«, sagte Giri, »läßt sich die Logik nicht ins Handwerk pfuschen – wir sind jetzt buchstäblich dort, wo wir vor drei Jahren stehengeblieben sind!«
Etwa eine Stunde später bekam Cerlo den ersten Funkkontakt mit der Bodenstation auf Morcos; er folgte den präzisen Landeanweisungen, und eine halbe Stunde später senkte sich die VANITY FAIR in einen Landeschacht. Und obwohl für Morcos jeder Start und jede Landung eines Raumschiffes nach zweitausendjähriger Raumfahrtabstinenz einer kleinen Sensation gleichkam, schien sich niemand sonderlich für das Schiff zu interessieren.
Als die Menschen die VANITY FAIR verließen, wurden sie bereits erwartet; derselbe namenlose Mann, der Giri und die anderen nach Mainares geschickt hatte, stand am Fuße des Schiffes.
»Hm!« sagte er, als er Aphros bemerkte. »Diesen Herrn habe ich noch nicht kennengelernt. Er gehört weder zur Crew, noch hatte er etwas auf Mainares zu suchen. Und das Schiff, mit dem Sie gestartet sind, sah auch etwas anders aus als jenes, mit dem Sie gerade landeten. Ich glaube, bel Tarman, Sie sind mir etliche Erklärungen schuldig.«
»Wenn ich richtig verstanden habe«, sagte der Mann, nachdem Giri seinen halbstündigen Vortrag beendet hatte, »haben Sie in etwa folgendes erlebt: Auf Mainares stießen Sie einmal auf jenes Zotteltier und auf Aphros. Durch die Kollision mit einem anderen Schiff wurde Ihr Fahrzeug, die VANITY FAIR, um drei Jahre in die Vergangenheit versetzt. Sie flogen danach ohne festes Ziel Andromeda an, und dort fanden Sie die Welt mit den acht Vorvätern. Diese lösten sich beim Versuch der Wiederbelebung auf.«
»Eine Kleinigkeit fehlt!« warf Danielle ein. »Um diese Welt kreiste ein Raumschiff, das weder mit morconischen oder irdischen noch mit den Modellen unserer Vorfahren Ähnlichkeit besitzt.«
Der Mann nickte und fuhr fort: »Bevor der letzte Schläfer sich auflöste, versuchte er noch, Sie zu warnen. Diese Warnung blieb jedoch unverständlich.«
»Genau!« bestätigte Sirghia. »Ich glaube, wir sollten alles daransetzen, unsere Vorfahren aufzustöbern – wahrscheinlich werden sie auch für das Problem der Bahnkorrektur von Morcos eine Lösung bereit haben.«
»Ausgezeichnet!« murmelte der Mann. »Aber was haben Sie nun vor?«
Spooky war während des Gesprächs etwas eingefallen. »Sie glauben also unserem Bericht?« erkundigte er sich behutsam.
»Selbstverständlich!« erklärte der Mann.
»Wunderbar!« kommentierte Abraham DeLacy händereibend. »Dann haben wir jetzt noch zu bekommen – das Gehalt für drei Dienstjahre, Urlaubsgeld, Weihnachtsgratifikation. Sobald wir ausgezahlt worden sind, werde ich erst einmal den ausstehenden Urlaub von drei Jahren nehmen!«
Der Namenlose sah sein Gegenüber ungläubig an und schüttelte den Kopf. »Ich muß Sie enttäuschen«, meinte er gelassen. »Für uns gelten nur die Erdjahre – was die Borduhr anzeigt, interessiert uns nicht. Das gleiche gilt für Ihren Urlaub. Allerdings werden Sie dennoch Zeit haben, sich auszuruhen – ich muß Sie einstweilen unter Arrest stellen.«
»Verstehe ich nicht«, bemerkte Danielle. »Warum das?«
Der Mann zuckte bedauernd mit den Schultern. »Sie wissen zuviel!« erklärte er ungerührt. »Natürlich werden wir die Suche weiter vorantreiben – aber bis zum Start dieser Expedition darf kein Unbefugter davon etwas erfahren. Ich vermute, daß die Isolation nicht allzulange dauern wird – etwa zwei bis drei Monate.«
Giri sank in seinem Sessel zusammen und sagte anklagend: »Habe ich es nicht schon immer gesagt – sobald ein Behördenmensch zuviel weiß, macht er sich strafbar. Aber«, fuhr er fort, »wie sieht es aus, wenn wir uns für diese Expedition zur Verfügung stellen?«
»Dann entfiele die Notwendigkeit einer Isolierung«, sagte der Mann. »Und ich hoffe, daß Sie diesen Entschluß nicht bereuen werden.«