122730.fb2
3.
»Erzählen Sie!«
Giri schluckte und starrte in die Höhe; zwölf hünenhafte Tanaer saßen dem hageren Morconen gegenüber und sahen ihn frostig an. Die Richter saßen hinter einem hohen Pult aus dunklem Holz; davor standen die Besatzungsmitglieder der PERONAIOS, die fast die Köpfe in den Nacken legen mußten, um die Gesichter der Tanaer überhaupt sehen zu können. Sitzgelegenheiten gab es für sie nicht. Die zwanzig Wachsoldaten, die an den Wänden des halbdunklen Saales standen und ihre entsicherten Waffen auf die Menschen gerichtet hatten, verstärkten noch den finsteren Eindruck eines Standgerichts, bei dem nur noch zur Diskussion zu stehen schien, auf welche Art und Weise die Angeklagten hingerichtet werden sollten.
»Erzählen Sie!« forderte der Sprecher den Morconen erneut auf.
Giri holte tief Luft, dann wiederholte er noch einmal all das, was er vor zwei Wochen auch schon Urzad berichtet hatte. Die Gesichtszüge der Richter wirkten maskenhaft starr und bedrohlich.
Als Giri geendet hatte, sahen sich die Richter schweigend an; ein Wink genügte, um die Wachsoldaten in Bewegung zu setzen. Unsanft wurden die Menschen aus dem düsteren Raum geführt. Als man sie eine halbe nervenzerreibende Stunde später wieder einließ, hatte sich etwas geändert. In der Mitte des Raumes stand nun ein Sessel mit einem metallenen Helm am Sitz des Gerätes, von dem aus farbige Leitungen zu einem dicken Kabel zusammenliefen, das in den Teil unter dem Sitz mündete.
»Treten Sie näher!« ordnete ein Tanaer an; die Menschen gehorchten. Teilnahmslos starrten die Fremden auf sie herab.
Langsam sagte der Sprecher des Richterkollegiums: »Ihre Geschichte ist so unglaubhaft, daß sie als Deckgeschichte eines Agenten völlig sinnlos und albern ist. Wir neigen daher zu der Annahme, daß Sie die Wahrheit sprechen.«
DeLacy fuhr mit dem rechten Unterarm über die Stirn, um sich den Schweiß abzuwischen; Giri stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Aber«, setzte der Tanaer seine Rede fort, »wir befinden uns in einer Ausnahmesituation und können unter diesen Umständen nicht von dem Prinzip ausgehen, daß ein Angeklagter freigesprochen ist, wenn die Anklage nicht zweifelsfrei bewiesen ist. Sie müssen demnach Ihre Unschuld beweisen. Dies ist Ihnen bisher nicht gelungen!«
Spooky ballte wütend die Fäuste.
»Ich kann Ihre Erregung durchaus verstehen«, meinte der Tanaer; seine Stimme klang überraschend mild und nachsichtig. »Allerdings gibt es noch eine letzte Möglichkeit. Mit Hilfe dieses Instruments vor Ihnen ist es uns möglich, Ihre Erinnerungen zu überprüfen. Wenn Ihre Geschichte der Wahrheit entspricht, so werden wir es zweifelsfrei feststellen können.«
»Und wo ist der Haken?« fragte Spooky kalt; der Tanaer lächelte anerkennend.
»Noch wissen wir nicht mit absoluter Sicherheit, wie dieses Gerät eigentlich arbeitet – es besteht die Möglichkeit, daß bei einem Untersuchen irreparable geistige Schäden entstehen. Es hat sogar schon Todesfälle gegeben.«
Für einige Minuten herrschte eine beklemmende Stille in dem Raum; die Menschen sahen sich mit unverhohlener Verzweiflung und Ratlosigkeit an, und es schien, als seien selbst die Tanaer bedrückt.
Plötzlich stand Aphros auf; der Androide lächelte schwach. Leise, fast flüsternd sagte er: »Ich stelle mich zur Verfügung – schließlich bin ich nur ein Kunstprodukt, kein richtiger Mensch.«
»Halt!« rief Spooky scharf. »Ich will mich mit dir jetzt nicht über deine Worte streiten – aber du weißt hoffentlich, daß du ziemlichen Unfug zusammengeredet hast. Wenn überhaupt einer von uns dieses Risiko wagt, dann ich!«
»Sieh an«, spottete der Androide. »Unser Heroe!«
Spooky lächelte verzerrt. »Das hat mit Heroismus überhaupt nichts zu tun – ich bin dazu regelrecht verpflichtet. Schließlich bin ich Berufssoldat – mein Gehalt empfange ich dafür, daß ich im Ernstfall mein Leben für andere einsetze. Jetzt haben wir einen solchen Ernstfall! Außerdem können wir auf dich nicht verzichten, Aphros – ohne dich können wir uns mit den Tanaern nicht verständigen.« Sanft schob er den Androiden zur Seite und nahm in dem Sessel Platz. »Ich bin bereit!« sagte er mit überkippender Stimme. »Fangt an!«
Der Tanaer sah ihn sekundenlang verwundert an, dann gab er ein Handzeichen. Ein Arzt trat heran und schnallte die Hand- und Fußgelenke mit elastischen Gurten an dem Sessel fest. Dann brachte er eine Injektionspistole zum Vorschein und setzte sie in der Nähe der Halsschlagader auf der Haut des Terraners an.
»Ein Psychotonikum«, erklärte der Tanaer ihm halblaut. »Es wirkt beruhigend und stabilisiert die Hirnfunktionen. Spüren Sie schon eine Wirkung?«
DeLacy nickte schwach; eine wohltuende Müdigkeit breitete sich in ihm aus. Er fühlte sich, als habe er einen langen heißen Sommertag hinter sich gebracht und liege jetzt in einer mit halbkühlem Wasser gefüllten Badewanne. Unmerklich verfiel er in einen angenehmen Halbschlaf.
Der Arzt befestigte zahlreiche Sensoren an der Schädelhaut des Menschen und sah fragend zur Empore hinauf; der Richter nickte kurz. Sekunden später lief im Fußteil des Sessels eine Maschine an. Die Befragung begann.
Für den angeschnallten Terraner versank die Umwelt in einem Wirbel von Gedanken; Erinnerungen blitzten auf und wurden von anderen Bildern abgelöst. In Tausenden von unzusammenhängenden Bruchstücken wurden Spooky Ausschnitte aus seinem bisherigen Leben vorgeführt. Gesichter tauchten für Sekundenbruchteile auf, verwandelten sich in Szenen aus der Vergangenheit, an die sich der Terraner bewußt nicht mehr erinnern konnte.
Immer rascher und dichter wurde die Abfolge der Bilder und Bruchstücke; die Wortfetzen, die die Bilder begleitet hatten, endeten in einem schrillen Fiepen, dann verlor Spooky das Bewußtsein.
Das erste, was Abraham DeLacy wieder wahrnehmen konnte, war Danielles strahlendes Gesicht. Undeutlich klangen ihre Worte an Spookys Ohren: »Wir haben gewonnen – sie glauben uns!«
Der Terraner nickte schwach; er hatte große Mühe, seine Gedanken zu koordinieren. Immer wieder wurde der gedankliche Prozeß bei der Formulierung eines Satzes von unwillkürlichen Assoziationen gestört. Eine riesige Hand tauchte in Spookys Gesichtskreis auf.
Urzad sagte leise: »Bitte verzeihe unser Mißtrauen – wir hatten keine andere Wahl!«
»Ich verstehe«, murmelte Spooky undeutlich. Er versuchte sich aufzurichten und hätte dabei fast das Bewußtsein verloren. Mühelos hielt Urzad den Terraner aufrecht, während er fragte: »Wie geht es dir? Alles in Ordnung?«
Spooky nickte und bat um eine Zigarette. Langsam klangen die Nachwirkungen des Verhörs ab. Als er den Glutkegel einige Minuten später ausdrückte, war er wieder handlungsfähig. Eine Tasse Kaffee aus ihren Bordbeständen ließ ihn die Strapaze endgültig vergessen.
Während seiner Ohnmacht hatte man Spooky in die Unterkünfte der Menschen zurückgeschafft. Die Gruppe machte es sich in den Sesseln bequem, während sich Urzad auf dem Boden niederließ.
»Allmählich«, stellte Giri fest, »wäre es an der Zeit, daß auch Urzad etwas aus den Geschichtsbüchern plaudert. Stammt ihr ebenfalls von den unbekannten Vorvätern ab?«
Urzad schüttelte den Kopf: »Nach unseren Feststellungen sind wir Tanaer eine eigenständige Entwicklung; wir können unsere Geschichte lückenlos bis in fernste Urzeiten belegen. Allerdings – das konntet ihr Terraner auch einmal, nicht wahr?«
Spooky nickte finster. Er dachte an den hartnäckigen Widerstand, als Paläontologen und Anthropologen erstmals behauptet hatten, Mensch und Affe hätten gemeinsame Vorfahren. Und die Vorväter hatten alle Mitbürger, die verstandesmäßig den Anforderungen ihrer Gesellschaft nicht gewachsen waren, auf der Erde abgesetzt – aus dieser Ansiedlung hatten sich die frühen irdischen Hochkulturen entwickelt.
»Und wer sind nun die Makarer, mit denen wir verwechselt wurden?« wollte Danielle wissen; zärtlich kraulte sie den Bären Soleil, dem man den Zutritt wieder erlaubt hatte. »Sind sie mit den Vorvätern identisch, die wir suchen?«
Urzad verneinte entschieden. »Nach unseren Beobachtungen sind die Makarer ebenfalls ein abgesplitterter Teil des Urvolks. Aber wenn überhaupt Hinweise auf die jetzige Zentralwelt der Vorväter zu finden sind, dann bei den Makarern. Allerdings wird ihre Beschaffung alles andere als einfach sein. Tanaer und Makarer leben seit Jahrhunderten in einem latenten Kriegszustand.
Kurz nach unserer Entdeckung der überlichtschnellen Raumfahrt stießen wir auf die Makarer. In den folgenden Gemetzeln gingen aber alle Informationen über die Ursache verloren – wer den Krieg begonnen hat und warum, bleibt bis heute ungeklärt. Nach einigen grauenvollen Jahrzehnten kamen beide Seiten zu der Einsicht, daß selbst die völlige Vernichtung des Gegners keinen direkten Vorteil bringen konnte – lediglich die eigenen Verluste wurden geringer. Und deshalb haben wir den Krieg einschlafen lassen.«
»Und die Gegenpartei?« erkundigte sich Spooky mit leichtem Mißtrauen.
»Die stellte ähnliche Überlegungen an und tat das gleiche.«
»Unter diesen Umständen hätte man ihn gar nicht erst anfangen sollen!« bemerkte Sirghia.
»Manche Einsichten setzen sich eben erst sehr spät durch!« brummte Urzad grimmig. »Immerhin leben wir jetzt annähernd friedlich miteinander – abgesehen davon, daß die Makarer immer wieder versuchen, unsere militärische Entwicklung zu erforschen und zu sabotieren. Aus diesem Grund waren wir auch so mißtrauisch, als eure PERONAIOS hierherkam.«
»Was haben die Tanaer eigentlich hier zu suchen?« forschte DeLacy. »Als wir vor drei Jahren die Welt der Schläfer erstmals anflogen, entdeckten wir ein tanaisches Wrack in einem Orbit um diese Welt. Was hat das zu bedeuten?«
»Du irrst, mein Freund«, erklärte Urzad grinsend. »Es handelte sich mitnichten um ein Wrack.«
»Um was sonst?« wollte Spooky wissen. »Das Ding sah aus, als sei es stundenlang beschossen worden.«
»So sollte das Schiff auch aussehen!« meinte Urzad freundlich. »Es war ein Beobachtungsschiff, das uns jede Veränderung auf dem Planeten melden sollte. Als wir vor langer Zeit auf dem Planeten landeten, mußten wir feststellen, daß uns die Pforten verschlossen blieben. Wir vermuteten, daß beim Zutritt Unbefugter sich die ganzen Anlagen selbst zerstören würden, und mußten daher warten, bis jemand diese Welt besuchte, der das Recht dazu hatte. Und das wart ihr. Als dann bei eurem Abflug alle Gebäude zu Staub zerfielen, setzten wir sofort eine Expeditionsflotte in Marsch – ihr habt sie beim Anflug gesehen. Auf der Welt der Schläfer sind einige tausend Wissenschaftler unseres Volkes damit beschäftigt, unter dem Staub nach verwertbaren Spuren zu suchen – bisher vergeblich.«
Spooky nickte wortlos.
»Gut«, sagte Giri leise. »Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Die Frage lautet jetzt: Was unternehmen wir, um das Geheimnis unserer Abstammung aufzuklären? Könnt ihr uns helfen?«
Urzad wiegte bedächtig den Kopf. »Vielleicht«, überlegte er laut. »Wir wissen aus unseren Archiven, daß sich auf Marka, der makarischen Zentralwelt, ein großes Museum befinden soll, zu dem nur wenige Auserwählte Zutritt haben! Wenn es überhaupt noch eine Spur zu den Vorvätern gibt, dann nur dort!«
»Worauf warten wir noch?« fragte Spooky heiter und sah seine Gefährten an.
Die nächsten Wochen erwiesen sich als besondere Strapaze; die Terraner mußten lernen, sich in jeder Lebenslage wie echte Makarer zu benehmen. Schon das Erlernen der Sprache erwies sich als überaus schwierig. Die Anwendung des morconischen Hypnoseverfahrens erwies sich als unmöglich – die Bänder der Tanaer paßten nicht zu den morconischen Geräten, und die tanaischen Maschinen waren den Menschen zu gefährlich. Also waren Spooky und Danielle dazu gezwungen, makarische Vokabeln zu büffeln, sich durch umfängliche Grammatiken zu fressen und Ausspracheübungen zu machen. Als besondere Hilfe erwies sich die Fähigkeit des Androiden, Worte in Gedanken umzuformen und zu senden.
Die beiden Morconen ergötzten sich sichtlich an den Anstrengungen ihrer irdischen Gefährten; da sie viel zu schlank und zu groß waren, um als Makarer gelten zu können, hatten sie es nicht nötig, deren Sprache zu erlernen. Sie beschäftigten sich vielmehr damit, die technischen Errungenschaften der Tanaer zu durchforschen. Währenddessen erforschten die Tanaer die PERONAIOS; wo es ihnen erforderlich schien, ersetzten sie vollständige Aggregate durch Maschinen eigener Fabrikation. Nur den Antrieb ließen sie unangetastet – sämtliche Anlagen waren öffnungssicher verkapselt, und es stand zu befürchten, daß die Maschinen bei unerlaubten Eingriffen detonierten.
Dann endlich konnte die Expedition starten.