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Am nächsten Morgen wachte Harry früh auf Er wußte zwar, daß es draußen schon hell war, doch er hielt die Augen fest geschlossen.
»Es war ein Traum«, sagte er sich entschlossen.»Ich habe von einem Riesen namens Hagrid geträumt, der mir erklärt hat, von nun an werde ich eine Schule für Zauberer besuchen. Wenn ich aufwache, bin ich zu Hause in meinem Schrank.«
Plötzlich hörte er ein lautes, tappendes Geräusch.
»Und das ist Tante Petunia, die an die Tür klopft«, dachte Harry und das Herz wurde ihm schwer. Doch die Augen hielt er weiter geschlossen. Ein schöner Traum war es gewesen.
Tapp. Tapp. Tapp.
»Schon gut«, murmelte Harry,»Ich steh ja schon auf«
Er richtete sich auf und Hagrids schwerer Umhang fiel von seinen Schultern. Sonnenlicht durchflutete die Hütte, der Sturm hatte sich gelegt. Hagrid selbst schlief auf dem zusammengebrochenen Sofa, und eine Eule, eine Zeitung in den Schnabel geklemmt, tappte mit ihrer Kralle gegen das Fenster.
Harry rappelte sich auf Er war so glücklich, daß es ihm vorkam, als würde in seinem Innern ein großer Ballon anschwellen. Schnurstracks lief er zum Fenster und riß es auf. Die Eule schwebte herein und ließ die Zeitung auf Hagrids Bauch fallen. Er schlief jedoch munter weiter. Die Eule flatterte auf den Boden und begann auf Hagrids Umhang herumzupicken.
»Laß das.«
Harry versuchte die Eule wegzuscheuchen, doch sie hackte wütend nach ihm und fuhr fort, den Umhang zu zerfetzen.
»Hagrid!«, sagte Harry laut.»Da ist eine Eule -«
»Bezahl sie«, grunzte Hagrid in das Sofa.
»Was?«
»Sie will ihren Lohn fürs Zeitungausfliegen. Schau in meinen Taschen nach.«
Hagrids Umhang schien aus nichts als Taschen zu bestehen: Schlüsselbunde, Musketenkugeln, Bindfadenröllchen, Pfefferminzbonbons, Teebeutel… Schließlich zog er eine Hand voll merkwürdig aussehender Münzen hervor.
»Gib ihr fünf Knuts«, sagte Hagrid schläfrig.
»Knuts?«
»Die kleinen aus Bronze.«
Harry zählte fünf kleine Bronzemünzen ab. Die Eule streckte ein Bein aus, und er steckte das Geld in ein Lederbeutelchen, das daran festgebunden war. Dann flatterte sie durch das offene Fenster davon.
Hagrid gähnte laut, richtete sich auf und reckte genüßlich die Glieder.
»Wir brechen am besten gleich auf, Harry, haben heute eine Menge zu erledigen. Müssen hoch nach London und dir alles für die Schule besorgen.«
Harry drehte die Münzen nachdenklich hin und her. Eben war ihm ein Gedanke gekommen, der dem Glücksballon in seinem Innern einen Pikser versetzt hatte.
»Ähm… Hagrid?«
»Mm?«Hagrid zog gerade seine riesigen Stiefel an.
»Ich hab kein Geld – und du hast ja gestern Nacht Onkel Vernon gehört – er wird nicht dafür bezahlen, daß ich fortgehe und Zaubern lerne.«
»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte Hagrid. Er stand auf und kratzte sich am Kopf»Glaubst du etwa, deine Eltern hätten dir nichts hinterlassen?«
»Aber wenn doch ihr Haus zerstört wurde -«
»Sie haben ihr Gold doch nicht im Haus aufbewahrt, mein Junge! Nee, wir machen als Erstes bei Gringotts Halt. Zaubererbank. Nimm dir ein Würstchen, kalt sind sie auch nicht schlecht – und zu 'nein Stück von deinem Geburtstagskuchen würd ich auch nicht nein sagen.«
»Zauberer haben Banken?«
»Nur die eine. Gringotts. Wird von Kobolden geführt.«
Harry ließ sein Würstchen fallen.
»Kobolde?«
»Jaow. Mußt also ganz schön bescheuert sein, wenn du versuchst, sie auszurauben. Leg dich nie mit den Kobolden an, Harry. Gringotts ist der sicherste Ort der Welt für alles, was du aufbewahren willst – mit Ausnahme vielleicht von Hogwarts. Muß übrigens sowieso bei Gringotts vorbeischauen. Auftrag von Dumbledore. Geschäftliches für Hogwarts.«Hagrid richtete sich stolz auf»Meist nimmt er mich, wenn es Wichtiges zu erledigen gibt. Dich abholen, etwas von Gringotts besorgen, weiß, daß er mir vertrauen kann, verstehst du. Alles klar? Na dann los.«
Harry folgte Hagrid hinaus auf den Felsen. Der Himmel war jetzt klar und das Meer schimmerte im Sonnenlicht. Das Boot, das Onkel Vernon gemietet hatte, lag noch da. Viel Wasser hatte sich auf dem Boden angesammelt.
»Wie bist du hergekommen?«, fragte Harry und sah sich nach einem zweiten Boot um.
»Geflogen«, sagte Hagrid.
»Geflogen?«
»Ja, aber zurück nehmen wir das Ding hier. Jetzt, wo du dabei bist, darf ich nicht mehr zaubern.«
Sie setzten sich ins Boot. Harry starrte Hagrid unverwandt an und versuchte sich vorzustellen, wie er flog.
»Schande allerdings, daß man rudern muß«, sagte Hagrid und sah Harry wieder mit einem seiner Blicke von der Seite her an.»Wenn ich… ähm… die Sache etwas beschleunigen würde, wärst du so freundlich und würdest in Hogwarts nichts davon sagen?«
»Klar«, sagte Harry, gespannt darauf, mehr von Hagrids Zauberkünsten zu sehen. Hagrid zog den rosa Schirm hervor, schlug ihn zweimal sachte gegen die Seitenwand des Bootes, und schon rauschten sie in Richtung Küste davon.
»Warum wäre es verrückt, wenn man Gringotts ausrauben wollte?«, fragte Harry.
»Magische Banne, Zauberflüche«, sagte Hagrid und öffnete seine Zeitung.»Es heißt, die Hochsicherheitsverliese werden von Drachen bewacht. Und dann mußt du erst einmal hinfinden – Gringotts liegt nämlich hunderte von Meilen unterhalb von London. Tief unter der Untergrundbahn. Du stirbst vor Hunger, bevor du wieder ans Tageslicht kommst, auch wenn du dir was unter den Nagel gerissen hast.«
Harry saß da und dachte darüber nach, während Hagrid seine Zeitung, den Tagespropheten, las. Harry wußte von Onkel Vernon, daß die Erwachsenen beim Zeitunglesen in Ruhe gelassen werden wollten, auch wenn es ihm jetzt schwer fiel, denn noch nie hatte er so viele Fragen auf dem 1-ferzen gehabt.
»Zaubereiministerium vermasselt mal wieder alles, wie Üblich«, brummte Hagrid und blätterte um.
»Es gibt ein Ministerium für Zauberei?«, platzte Harry los.
»Klar«, sagte Hagrid.»Wollten natürlich Dumbledore als Minister haben, aber der würde nie von Hogwarts weggehen. Deshalb hat Cornelius Fudge die Stelle bekommen. Gibt keinen größeren Stümper. Schickt also Dumbledore jeden Morgen ein Dutzend Eulen und fragt ihn um Rat.«
»Aber was tut ein Zaubereiministerium?«
»Nun, seine Hauptaufgabe ist, vor den Muggels geheim zu halten, daß es landauf, landab immer noch Hexen und Zauberer gibt.«
»Warum?«
»Warum? Mein Güte, Harry, die wären doch ganz scharf darauf, daß wir ihre Schwierigkeiten mit magischen Kräften lösen. Nö, die sollen uns mal in Ruhe lassen.«
In diesem Augenblick stupste das Boot sanft gegen die Hafenmauer. Hagrid faltete die Zeitung zusammen und sie stiegen die Steintreppe zur Straße empor.
Die Menschen auf den Straßen der kleinen Stadt starrten Hagrid mit großen Augen an. Harry konnte es ihnen nicht verübeln. Hagrid war nicht nur doppelt so groß wie alle anderen, er zeigte auch auf ganz gewöhnliche Dinge wie Parkuhren und rief dabei laut:»Schau dir das an, Harry. Solche Sachen lassen sich die Muggels einfallen, nicht zu fassen!«
»Hagrid«, sagte Harry ein wenig außer Atem, weil er rennen mußte, um Schritt zu halten.»Hast du gesagt, bei Gringotts gebe es Drachen?«
»Ja, so heißt es«, sagte Hagrid.»Mann, ich hätte gern einen Drachen.«
»Du hättest gerne einen?«
»Schon als kleiner Junge wollte ich einen – hier lang.«
Sie waren am Bahnhof angekommen. In fünf Minuten ging ein Zug nach London. Hagrid, der mit»Muggelgeld«, wie er es nannte, nicht zurechtkam, reichte Harry ein paar Scheine, mit denen er die Fahrkarten kaufte.
Im Zug glotzten die Leute noch mehr. Hagrid, der zwei Sitzplätze brauchte, strickte während der Fahrt an etwas, das aussah wie ein kanariengelbes Zirkuszelt.
»Hast deinen Brief noch, Harry?«, fragte er, während er die Maschen zählte.
Harry zog den Pergarnentumschlag aus der Tasche.
»Gut«, sagte Hagrid.»Da ist eine Liste drin mit allem, was du brauchst.«
Harry entfaltete einen zweiten Bogen Papier, den er in der Nacht zuvor nicht bemerkt hatte, und las:
HOGWARTS-SCHULE FÜR HEXEREI UND ZAUBEREI
Uniforin
Im ersten Jahr benötigen die Schüler:
1. Drei Garnituren einfache Arbeitskleidung (schwarz)
2. Einen einfachen Spitzhut (schwarz) für tagsüber
3. Ein Paar Schutzhandschuhe (Drachenhaut o. Ä.)
4. Einen Winterumhang (schwarz, mit silbernen Schnallen)
Bitte beachten Sie, daß alle Kleidungsstücke der Schüler mit Namensetiketten versehen sein müssen.
Lehrbücher
Alle Schüler sollten jeweils ein Exemplar der folgenden Werke besitzen:
– Miranda Habicht: Lehrbuch der Zaubersprüche, Band 1
– Bathilda Bagshot: Geschichte der Zauberei
– Adalbert Schwahfel: Theorie der Magie
– Emeric Wendel: Verwandlungen für Anfänger
– Phyllida Spore: Tausend Zauberkräuter und -pilze
– Arsenius Bunsen: Zaubertränke und Zauberbräue
– Lurch Scamander: Sagentiere und wo sie zu finden sind
– Quirin Sumo: Dunkle Kräfte. Ein Kurs zur Selbstverteidigung
Ferner werden benötigt:
– 1 Zauberstab
– 1 Kessel (Zinn, Normgröße 2)
– 1 Sortiment Glas- oder Kristallfläschchen
– 1 Teleskop
– 1 Waage aus Messing
Es ist den Schülern zudem freigestellt, eine Eule ODER eine Katze ODER eine Kröte mitzubringen.
DIE ELTERN SEIEN DARAN ERINNERT, DAß ERSTKLÄßLER KEINE EIGENEN BESEN BESITZEN DÜRFEN
»Und das alles können wir in London kaufen?«, fragte sich Harry laut.
»Ja. Wenn du weißt, wo«, sagte Hagrid.
Harry war noch nie in London gewesen. Hagrid schien zwar zu wissen, wo er hinwollte, doch offensichtlich war er es nicht gewohnt, auf normalem Weg dorthin zu gelangen. Er verhedderte sich im Drehkreuz zur Untergrundbahn und beschwerte sich laut, die Sitze seien zu klein und die Züge zu lahm.
»Keine Ahnung, wie die Muggels zurechtkommen ohne Zauberei«, meinte er, als sie eine kaputte Rolltreppe emporkletterten, die auf eine belebte, mit Läden gesäumte Straße führte.
Hagrid war ein solcher Riese, daß er ohne Mühe einen Keil in die Menschenmenge trieb, und Harry brauchte sich nur dicht hinter ihm zu halten. Sie gingen an Buchhandlungen und Musikläden vorbei, an Schnellimbissen und Kinos, doch nirgends sah es danach aus, als ob es Zauberstäbe zu kaufen gäbe. Dies war eine ganz gewöhnliche Straße voll ganz gewöhnlicher Menschen. Konnte es wirklich sein, daß viele Meilen unter ihnen haufenweise Zauberergold vergraben war? War all dies vielleicht nur ein gewaltiger Jux, den die Dursleys ausgeheckt hatten? Das hätte Harry vielleicht geglaubt, wenn er nicht gewußt hätte, daß die Dursleys keinerlei Sinn für Humor besaßen. Doch obwohl alles, was Hagrid ihm bisher erzählt hatte, schlicht unfaßbar war, konnte er einfach nicht anders, als ihm zu vertrauen.
»Hier ist es«, sagte Hagrid und blieb stehen.»Zum Tropfenden Kessel. Den Laden kennt jeder.«
Es war ein kleiner, schmuddelig wirkender Pub. Harry hätte ihn nicht einmal bemerkt, wenn Hagrid nichts gesagt hätte. Die vorbeieilenden Menschen beachteten ihn nicht. Ihre Blicke wanderten von der großen Buchhandlung auf der einen Seite zum Plattenladen auf der anderen Seite, als könnten sie den Tropfenden Kessel überhaupt nicht sehen. Tatsächlich hatte Harry das ganz eigentümliche Gefühl, daß nur er und Hagrid ihn sahen. Doch bevor er den Mund aufmachen konnte, schob ihn Hagrid zur Tür hinein.
Für einen berühmten Ort war es hier sehr dunkel und schäbig. In einer Ecke saßen ein paar alte Frauen und tranken Sherry aus kleinen Gläsern. Eine von ihnen rauchte eine lange Pfeife. Ein kleiner Mann mit Zylinder sprach mit dem alten Wirt, der vollkommen kahlköpfig war und aussah wie eine klebrige Walnuß. Als sie eintraten, verstummte das leise Summen der Gespräche. Hagrid schienen alle zu kennen; sie winkten und lächelten ihm zu, und der Wirt griff nach einem Glas:»Das Übliche, Hagrid?«
»Heute nicht, Tom, bin im Auftrag von Hogwarts unterwegs«, sagte Hagrid und versetzte Harry mit seiner großen Hand einen Klaps auf die Schulter, der ihn in die Knie gehen ließ.
»Meine Güte«, sagte der Wirt und spähte zu Harry hinüber,»ist das – kann das -?«
Im Tropfenden Kessel war es mit einem Schlag mucksmäuschenstill geworden.
»Grundgütiger«, flüsterte der alte Barmann.»Harry Potter… welch eine Ehre.«
Er eilte hinter der Bar hervor, trat raschen Schrittes auf Harry zu und ergriff mit Tränen in den Augen seine Hand.
»Willkommen zu Hause, Mr. Potter, willkommen zu Hause.«
Harry wußte nicht, was er sagen sollte. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Die alte Frau paffte ihre Pfeife ohne zu bemerken, daß sie ausgegangen war. Hagrid strahlte.
Nun ging im Tropfenden Kessel ein großes Stühlerücken los, und die Gäste schüttelten Harry einer nach dem andern die Hand.
»Doris Crockford, Mr. Potter, ich kann es einfach nicht fassen, Sie endlich zu sehen.«
»Ich bin so stolz, Sie zu treffen, Mr. Potter, so stolz.«
»Wollte Ihnen schon immer die Hand schütteln – mir ist ganz schwindelig.«
»Erfreut, Mr. Potter, mir fehlen die Worte. Diggel ist mein Name, Dädalus Diggel.«
»Sie hab ich schon mal gesehen!«, rief Harry, als Dädalus Diggel vor Aufregung seinen Zylinder verlor.»Sie haben sich einmal in einem Laden vor mir verneigt.«
»Er weiß es noch!«, rief Dädalus Diggel und blickte in die Runde.»Habt ihr das gehört? Er erinnert sich an mich!«
Harry schüttelte Hände hier und Hände dort – Doris Crockford konnte gar nicht genug kriegen.
Ein blasser junger Mann bahnte sich den Weg nach vorne. Er wirkte sehr fahrig; sein linkes Auge zuckte.
»Professor Quirrell!(x, sagte Hagrid.»Harry, Professor Quirrell ist einer deiner Lehrer in Hogwarts.«
»P-P-Potter«, stammelte Professor Quirrell und ergriff Harrys Hand,»ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich mich freue, Sie zu treffen.«
»Welche Art von Magie lehren Sie, Professor Quirrell?«
»V-Verteldigung gegen die dunklen Künste«, murmelte Professor Quirrell, als ob er lieber nicht daran denken wollte.»Nicht, daß Sie es nötig hätten, oder, P-Potter?«Er lachte nervös.»Sie besorgen sich Ihre Ausrüstung, nehme ich an? Ich muß auch noch ein neues Buch über Vampire abholen.«Schon bei dem bloßen Gedanken daran sah er furchtbar verängstigt drein.
Doch die anderen ließen nicht zu, daß Professor Quirrell Harry allein in Beschlag nahm. Es dauerte fast zehn Minuten, bis er von allen losgekommen war. Endlich konnte sich Hagrid in der allgemeinen Aufregung Gehör verschaffen.
»Wir müssen weiter – haben eine Menge einzukaufen. Komm, Harry.«
Doris Crockford schüttelte Harry ein letztes Mal die Hand. Hagrid führte ihn durch die Bar auf einen kleinen, von Mauern umgebenen Hof hinaus, wo es nichts als einen Mülleimer und ein paar Unkräuter gab.
Hagrid grinste Harry zu.
»Hab's dir doch gesagt, oder? Hab dir doch gesagt, daß du berühmt bist. Sogar Professor Quirrell hat gezittert, als er dich sah – nunja, er zittert fast ständig.«
»Ist er immer so nervös?«
»O ja. Armer Kerl. Genialer Kopf. Ging ihm gut, als er nur die Bücher studierte, doch dann hat er sich ein Jahr freigenommen, um ein wenig Erfahrung zu sammeln… Es heißt, er habe im Schwarzwald Vampire getroffen und er soll ein übles kleines Problem mit einer Hexe gehabt haben – ist seitdem jedenfalls nicht mehr der Alte. Hat Angst vor den Schülern, Angst vor dem eigenen Unterrichtsstoff – wo ist jetzt eigentlich mein Schirm abgebliebenN
Vampire? Hexen? Harry war leicht schwindelig. Unterdessen zählte Hagrid die Backsteine an der Mauer über dem Mülleimer ab.
»Drei nach oben… zwei zur Seite… «, murmelte er.»Gut, einen Schritt zurück, Harry«
Mit der Spitze des Schirms klopfte er dreimal gegen die Mauer.
Der Stein, auf den er geklopft hatte, erzitterte, wackelte und in der Mitte erschien ein kleiner Spalt. – Der wurde immer breiter und eine Sekunde später standen sie vor einem Torbogen, der selbst für Hagrid groß genug war. Er führte hinaus auf eine gepflasterte Gasse, die sich in einer engen Biegung verlor.
»Willkommen in der Winkelgasse«, sagte Hagrid.
Harrys verblüffter Blick ließ ihn verschmitzt lächeln.
Sie traten durch den Torbogen. Harry blickte rasch über die Schulter und konnte gerade noch sehen, wie sich die Steinmauer wieder schloß.
Die Sonne erleuchtete einen Stapel Kessel vor der Tür eines Ladens. Kessel – Alle Größen – Kupfer, Messing, Zinn, Silber – Selbst umrührend – Faltbar, hieß es auf einem Schild über ihren Köpfen.
»Jaow, du brauchst einen«, sagte Hagrid,»aber erst müssen wir dein Geld holen.«
Harry wünschte sich mindestens vier Augenpaare mehr. Er drehte den Kopf in alle Himmelsrichtungen, während sie die Straße entlang gingen, und versuchte, alles auf einmal zu sehen: die Läden, die Auslagen vor den Türen, die Menschen, die hier einkauften. Vor einer Apotheke stand eine rundliche Frau, und als sie vorbeigingen, sagte sie kopfschüttelnd:»Drachenleber, siebzehn Sickel die Unze, die müssen verrückt sein… «
Gedämpftes Eulengeschrei drang aus einem dunklen Laden. Auf einem Schild über dem Eingang stand: Eeylops Eulenkaujhaus – Waldkäuze, Zwergohreulen, Steinkäuze, Schleiereulen, Schneeulen. Einige Jungen in Harrys Alter drückten ihre Nasen gegen ein Schaufenster mit Besen.»Schau mal«, hörte Harry einen von ihnen sagen,»der neue Nimbus Zweitausend, der schnellste überhaupt -«Manche Läden verkauften nur Umhänge, andere Teleskope und merkwürdige silberne Instrumente, die Harry noch nie gesehen hatte. Es gab Schaufenster, die voll gestopft waren mit Fässern voller Fledermausmilzen und Aalaugen, wacklig gestapelten Zauberspruchfibeln, Pergamentrollen, Zaubertrankflaschen, Mondgloben…
»Gringotts«, sagte Hagrid.
Sie waren vor einem schneeweißen Haus angelangt, das hoch über die kleinen Läden hinausragte. Neben dem blank polierten Bronzetor, in einer scharlachroten und goldbestickten Uniform stand ein -
»Tja, das ist ein Kobold«, sagte Hagrid leise, als sie die steinernen Stufen zu ihm hochstiegen. Der Kobold war etwa einen Kopf kleiner als Harry. Er hatte ein dunkelhäutiges, kluges Gesicht, einen Spitzbart und, wie Harry auffiel, sehr lange Finger und große Füße. Mit einer Verbeugung wies er sie hinein. Wieder standen sie vor einer Doppeltür, einer silbernen diesmal, in die folgende Worte eingraviert waren: Fremder, komm du nur herein, Hab Acht jedoch und bläu's dir ein, Wer der Sünde Gier will dienen, Und will nehmen, möcht verdienen, Der wird voller Pein verlieren. Wenn du suchst in diesen Hallen Einen Schatz, dem du verfallen, Dieb, sei gewarnt und sage dir, Mehr als Gold harrt deiner hier.
»Wie ich gesagt hab, du mußt verrückt sein, wenn du den Laden knacken willst«, sagte Hagrid.
Ein Paar Kobolde verbeugte sich, als sie durch die silberne Tür in eine riesige Marmorhalle schnitten. Um die hundert Kobolde saßen auf hohen Schemeln hinter einem langen Schalter, kritzelten Zahlen in große Folianten, wogen auf Messingwaagen Münzen ab und prüften Edelsteine mit unter die Brauen geklemmten Uhrmacherlupen. Unzählige Türen führten in anschließende Räume, und andere Kobolde geleiteten Leute herein und hinaus. Hagrid und Harry traten vor den Schalter.
»Moin«, sagte Hagrid.»Wir sind hier, um ein wenig Geld aus Mr. Harry Potters Safe zu entnehmen.«
»Sie haben seinen Schlüssel, Sir?«, fragte der Kobold.
»Hab ihn hier irgendwo«, sagte Hagrid und begann seine Taschen zu entleeren und ihren Inhalt auf dem Schalter auszubreiten, wobei er eine Hand voll krümeliger Hundekuchen über das Kassenbuch des Kobolds verstreute. Dieser rümpfte die Nase. Harry sah dem Kobold zu ihrer Rechten dabei zu, wie er einen Haufen Rubine wog, die so groß waren wie Eierkohlen.
»Hab ihn«, sagte Hagrid endlich und hielt dem Kobold einen kleinen goldenen Schlüssel vor die Nase.
Der Kobold nahm ihn genau in Augenschein.
»Das scheint in Ordnung zu sein.«
»Und ich habe außerdem einen Brief von Professor Dumbledore«, sagte Hagrid, sich mit gewichtiger Miene in die Brust werfend.»Es geht um den Du-weißt-schon-was in Verlies siebenhundertundneunzehn.«
Der Kobold las den Brief sorgfältig durch.
»Sehr gut«, sagte er und gab ihn Hagrid zurück.»Ich werde veranlassen, daß man Sie in beide Verliese führt. Griphook!«
Auch Griphook war ein Kobold. Sobald Hagrid alle seine Hundekuchen in die Taschen zurückgestopft hatte, folgten er und Harry Griphook zu einer der Türen, die aus der Halle hinausführten.
»Was ist der Du-weißt-schon-was in Verlies siebenhundertundneunzehn«, fragte Harry.
»Darf ich nicht sagen«, meinte Hagrid geheimnistuerisch.»Streng geheim. Hat mit Hogwarts zu tun. Dumbledore vertraut mir. Lohnt sich nicht, meinen Job zu riskieren und es dir zu sagen.«
Griphook hielt die Tür für sie auf Harry, der noch mehr Marmor erwartet hatte, war überrascht. Sie waren nun in einem engen, steinernen Gang, den lodernde Fackeln erleuchteten. In den Boden waren schmale Bahngeleise eingelassen, die steil in die Tiefe führten. Griphook pfiff, und ein kleiner Karren kam auf den Schienen zu ihnen hochgezockelt. Sie kletterten hinauf und setzten sich – Hagrid mit einigen Schwierigkeiten – und schon ging es los.
Zuerst fuhren sie durch ein Gewirr sich überkreuzender Gänge. Harry versuchte sich den Weg zu merken, links, rechts, rechts, links, durch die Mitte, rechts, links – doch es war unmöglich. Der ratternde Karren schien zu wissen, wo es langging, denn es war nicht Griphook, der ihn steuerte.
Harrys Augen schmerzten in der kalten Luft, durch die sie sausten, doch er hielt sie weit geöffnet. Einmal meinte er am Ende eines Durchgangs einen Feuerstoß zu erkennen und wandte sich rasch um, denn vielleicht war es ein Drache – aber zu spät. Sie drangen weiter in die Tiefe vor und passierten einen unterirdischen See, bei dem riesige Stalaktiten und Stalagmiten von der Decke und aus dem Boden wucherten.
»Ich kann mir nie merken«, rief Harry durch das lärmende Rattern des Karrens Hagrid zu,»was der Unterschied zwischen Stalaktiten und Stalagmiten ist.«
»Stalagmiten haben ein ›m‹ in der Mitte«, sagte Hagrid.»Und jetzt keine Fragen mehr, mir ist schlecht.«
Er war ganz grün im Gesicht, und als die Karre endlich neben einer kleinen Tür in der Wand des unterirdischen Ganges hielt, stieg Hagrid aus und mußte sich gegen die Wand lehnen, um seine zitternden Knie zu beruhigen.
Griphook schloß die Tür auf Ein Schwall grünen Rauchs drang heraus, und als er sich verzogen hatte, stockte Harry der Atem. Im Innern lagen hügelweise Goldmünzen. Stapelweise Silbermünzen. Haufenweise kleine bronzene Knuts.
»Alles dein«, sagte Hagrid lächelnd.
Alles gehörte Harry – das war unglaublich. Die Dursleys konnten davon nichts gewußt haben, oder sie hätten es ihm schneller abgenommen, als er blinzeln konnte. Wie oft hatten sie sich darüber beschwert, wie viel es sie kostete, für Harry zu sorgen? Und die ganze Zeit über war ein kleines Vermögen, das ihm gehörte, tief unter Londons Straßen vergraben gewesen.
Hagrid half Harry dabei, einen Teil der Schätze in eine Tüte zu packen.
»Die goldenen sind Galleonen«, erklärte er.»Siebzehn Silbersickel sind eine Galleone und neunundzwanzig Knuts sind eine Sickel. Nichts einfacher als das. Gut, das sollte für ein paar Schuljahre reichen, wir bewahren den Rest für dich auf,«Er wandte sich Griphook zu.»Verlies siebenhundertundneunzehn jetzt, bitte, und können wir etwas langsamer fahren?«
»Nur eine Geschwindigkeit«, sagte Griphook.
Sie fuhren nun noch tiefer hinunter und wurden allmählich schneller. Während sie durch scharfe Kurven rasten, wurde die Luft immer kälter. Sie ratterten über eine unterirdische Schlucht hinweg, und Harry lehnte sich über den Wagenrand, um zu sehen, was tief unten auf dem dunklen Grund war, doch Hagrid stöhnte und zog ihn am Kragen zurück.
Verlies siebenhundertundneunzehn hatte kein Schlüsselloch.
»Zurücktreten«, sagte Griphook mit achtungheischender Stimme. Mit einem seiner langen Finger streichelte er sanft die Tür – die einfach wegschmolz.
»Sollte jemand dies versuchen, der kein Kobold von Gringotts ist, dann wird er durch die Tür gesogen und sitzt dort drin in der Falle«, sagte Griphook.
»Wie oft schaust du nach, ob jemand dort ist?«, fragte Harry.
»Einmal in zehn Jahren vielleicht«, sagte Griphook mit einem ziemlich gemeinen Grinsen.
In diesem Hochsicherheitsverlies mußte etwas ganz Besonderes aufbewahrt sein, da war sich Harry sicher, und er steckte seine Nase begierig hinein, um zumindest ein paar sagenhafte Juwelen zu sehen – doch auf den ersten Blick schien alles leer. Dann bemerkte er auf dem Boden ein schmutziges, mit braunem Papier umwickeltes Päckchen. Hagrid hob es auf und verstaute es irgendwo in den Tiefen seines Umhangs. Harry hätte zu gern gewußt, was es war, aber ihm war klar, daß er besser nicht danach fragte.
»Los komm, zurück auf diese Höllenkarre, und red auf dem Rückweg nicht. Es ist besser, wenn ich den Mund geschlossen halte«, sagte Hagrid.
Nach einer weiteren haarsträubenden Fahrt auf dem Karren standen sie endlich wieder draußen vor Gringotts und blinzelten in das Sonnenlicht. Nun, da Harry einen Sack voll Geld besaß, wußte er nicht, wo er zuerst hinlaufen sollte. Er mußte nicht wissen, wie viel Galleonen ein englisches Pfund ausmachten, um sich bewußt zu sein, daß er noch nie im Leben so viel Geld besessen hatte – mehr Geld, als selbst Dudley jemals gehabt hatte.
»Könnten jetzt eigentlich mal deine Uniform kaufen«, sagte Hagrid und nickte zu Madam Malkins Anzüge für alle Gelegenheiten hinüber.»Hör mal, Harry, würd es dir was ausmachen, wenn ich mir einen kleinen Magenbitter im Tropfenden Kessel genehmige? Ich hasse die Fuhrwerke bei Gringotts.«Er sah immer noch etwas bleich aus. Und so betrat der ein wenig nervöse Harry allein Madam Malkins Laden.
Madam Malkin war eine stämmige, lächelnde Hexe, die von Kopf bis Fuß malvenfarben gekleidet war.
»Hogwarts, mein Leber?«, sagte sie, kaum hatte Harry den Mund aufgemacht.»Hab die Sachen hier – übrigens wird hier gerade noch ein junger Mann ausgestattet.«
Hinten im Laden stand auf einem Schemel ein Junge mit blassem, spitzem Gesicht, und eine zweite Hexe steckte seinen langen schwarzen Umhang mit Nadeln ab. Madam Malkin stellte Harry auf einen Stuhl daneben, ließ einen langen Umhang über seinen Kopf gleiten und steckte mit Nadeln die richtige Länge ab.
»Hallo«, sagte der Junge.»Auch Hogwarts?«
»Ja«, sagte Harry.
»Mein Vater ist nebenan und kauft die Bücher, und Mutter ist ein paar Läden weiter und sucht nach Zauberstäben«, sagte der Junge. Er sprach mit gelangweilter, schleppender Stimme.»Danach werd ich sie mitschleifen und mir einen Rennbesen aussuchen. Ich seh nicht ein, warum Erstkläßler keinen eigenen haben dürfen. Ich glaub, ich geh meinem Vater so lange auf die Nerven, bis er mir einen kauft, und schmuggel ihn dann irgendwie rein.«
Der Junge erinnerte Harry stark an Dudley.
»Hast du denn deinen eigenen Besen?«, fuhr er fort.
»Nein«, sagte Harry.
»Spielst du überhaupt Quidditch?«
»Nein«, sagte Harry erneut und fragte sich, was zum Teufel Quidditch denn sein könnte.
»Aber ich – Vater sagt, es wäre eine Schande, wenn ich nicht ausgewählt werde, um für mein Haus zu spielen, und ich muß sagen, er hat Recht. Weißt du schon, in welches Haus du kommst?«
»Nein«, sagte Harry und fühlte sich mit jeder Minute dümmer.
»Na ja, eigentlich weiß es keiner, bevor er hinkommt, aber ich weiß, daß ich im Slytherin sein werde, unsere ganze Familie war da. – Stell dir vor, du kommst nach Hufflepuff, ich glaub, ich würde abhauen, du nicht?«
»Mmm«, sagte Harry und wünschte, er könnte etwas Interessanteres sagen.
»Ach herrje, schau dir mal diesen Mann an!«, sagte der Junge plötzlich und deutete auf das Schaufenster. Draußen stand Hagrid, grinste Harry zu und hielt zwei große Tüten mit Eiskrem hoch, um zu zeigen, daß er nicht hereinkommen konnte.
»Das ist Hagrid«, sagte Harry, froh, daß er etwas wußte, was der Junge nicht wußte.»Er arbeitet in Hogwarts.«
»Oh«, sagte der Junge,»ich hab von ihm gehört. Er ist ein Knecht oder so was, nicht wahr?«
»Er ist der Wildhüter«, sagte Harry. Er konnte den jungen mit jeder Sekunde weniger ausstehen.
»Ja, genau. Ich hab gehört, daß er eine Art Wilderer ist – lebt in einer Hütte auf dem Schulgelände, betrinkt sich des öfteren, versucht zu zaubern und steckt am Ende sein Bett in Brand.«
»Ich halte ihn für brillant«, sagte Harry kühl.
»Tatsächlich?«, sagte der Junge mit einer Spur Häme.»Warum ist er mit dir zusammen? Wo sind deine Eltern?«
»Sie sind tot«, sagte Harry knapp. Er hatte keine große Lust, mit diesem Jungen darüber zu sprechen.
»Oh, tut mir Leid«, sagte der andere, wobei es gar nicht danach klang.»Aber sie gehörten zu uns, oder?«
»Sie war eine Hexe und er ein Zauberer, falls du das meinst.«
»Ich halte überhaupt nichts davon, die andern aufzunehmen, du etwa? Die sind einfach anders erzogen worden als wir und gehören eben nicht dazu. Stell dir vor, manche von ihnen wissen nicht einmal von Hogwarts, bis sie ihren Brief bekommen. Ich meine, die alten Zaubererfamilien sollten unter sich bleiben. Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen?«
Doch bevor Harry antworten konnte, sagte Madam Malkin:»So, das wär's, mein Lieber«, und Harry, froh über die Gelegenheit, von dem Jungen loszukommen, sprang von seinem Schemel herunter.
»Gut, wir sehen uns in Hogwarts, nehme ich an«, sagte der Junge mit der schleppenden Stimme. Recht wortkarg schleckte Harry das Eis, das Hagrid ihm gekauft hatte (Schokolade und Himbeere mit Nußstückchen).
»Was ist los?«, sagte Hagrid.
»Nichts«, log Harry. Sie traten in einen Laden, um Pergament und Federkiele zu kaufen. Harrys Laune besserte sich etwas, als sie eine Flasche Tinte kauften, die beim Schreiben ihre Farbe veränderte. Als sie wieder draußen waren, sagte er:»Hagrid, was ist Quidditch?«
»Mein Gott, Harry, ich vergeß immer, wie wenig du weißt – kennst nicht mal Quidditch!«
»Mach's nicht noch schlimmer«, sagte Harry. Er erzählte Hagrid von dem blassen Jungen bei Madam Malkin.
»… und er sagte, Leute aus Muggelfamilien sollten gar nicht aufgenommen werden… «
»Du bist nicht aus einer Muggelfamilie. Wenn er wüßte, wer du bist – wenn seine Eltern Zauberer sind, dann hat er deinen Namen mit der Muttermilch eingesogen – du hast die beiden übrigens im Tropfenden Kessel gesehen. Und außerdem, was weiß er schon, manche von den Besten waren die Einzigen in einer langen Linie von Muggels, die das Zeug zum Zaubern hatten – denk an deine Mum! Denk mal daran, was sie für eine Schwester hatte!«
»Also was ist jetzt Quidditch?«
»Das ist unser Sport. Zauberersport. Es ist wie – wie Fußball in der Muggelwelt – alle fahren auf Quidditch ab – man spielt es in der Luft auf Besen und mit vier Bällen – nicht ganz einfach, die Regeln zu erklären.«
»Und was sind Slytherin und Hufflepuff?«
»Schulhäuser. Es gibt vier davon. Alle sagen, in Hufflepuff sind 'ne Menge Flaschen, aber -«
»ich wette, ich komme nach Hufflepuff«, sagte Harry bedrückt.
»Besser Hufflepuff als Slytherin«, sagte Hagrid mit düsterer Stimme.»Die Hexen und Zauberer, die böse wurden, waren allesamt in Slytherin. Du-weißt-schon-wer war einer davon.«
»Vol-, 'tschuldigung – Du-weißt-schon-wer war in Hogwarts?«
»Das ist ewig lange her«, sagte Hagrid.
Sie kauften die Schulbücher für Harry in einem Laden namens Flourish amp; Blotts, wo die Regale bis an die Decke voll gestopft waren mit in Leder gebundenen Büchern, so groß wie Gehwegplatten; andere waren klein wie Briefmarken und in Seide gebunden; viele Bücher enthielten merkwürdige Symbole, und es gab auch einige, in denen gar nichts stand. Selbst Dudley, der nie las, wäre ganz scharf auf manche davon gewesen. Hagrid mußte Harry beinahe wegziehen von Werken wie Flüche und Gegenflüche (Verzaubern Sie Ihre Freunde und verhexen Sie Ihre Feinde mit den neuesten Racheakten: Haarausfall, Gummibeine, Vertrocknete Zunge und vieles, vieles mehr) von Professor Vindictus Viridian.
»Ich möchte rausfinden, wie ich Dudley verhexen kann.«
»Keine schlechte Idee, würd ich meinen, aber du sollst in der Muggelwelt nicht zaubern, außer wenn's brenzlig wird«, sagte Hagrid.»Und du könntest mit diesen Flüchen ohnehin noch nicht umgehen, du mußt noch sehr viel lernen, bis du das kannst.«
Hagrid wollte Harry auch keinen Kessel aus purem Gold kaufen lassen (»auf der Liste steht Zinn«), aber sie fanden eine praktische kleine Waage, um die Zutaten für die Zaubertränke abzumessen, und ein zusammenschiebbares Messingteleskop. Danach schauten sie in der Apotheke vorbei. Hier stank es zwar fürchterlich nach einer Mischung aus faulen Eiern und verrottetem Kohl, doch es gab viele interessante Dinge zu sehen. Auf dem Boden standen Fässer, die mit einer Art Schleim gefüllt waren; die Regale an den Wänden waren voll gestellt mit Gläsern, die Kräuter, getrocknete Wurzeln und hellfarbene Pulver enthielten; von der Decke hingen Federbüschel, an Schnüren aufgezogene Reißzähne und Krallenbündel. Während Hagrid den Mann hinter der Theke um eine Auswahl wichtiger Zaubertrankzutaten für Harry bat, untersuchte Harry selbst die silbernen Einhorn-Hörner zu einundzwanzig Galleonen das Stück und die winzigen glänzend schwarzen Käferaugen (fünf Knuts der Schöpflöffel).
Draußen vor der Apotheke warf Hagrid noch einmal einen Blick auf Harrys Liste.
»Nur dein Zauberstab fehlt noch – ach ja, und ich hab immer noch kein Geburtstagsgeschenk für dich.«
Harry spürte, wie er rot wurde.
»Du mußt mir kein -«
»Ich weiß, ich muß nicht. Weißt du was, ich kauf dir das Tier. Keine Kröte, Kröten sind schon seit Jahren nicht mehr angesagt, man würde dich auslachen – und ich mag keine Katzen, von denen muß ich niesen. Ich kauf dir eine Eule. Alle Kinder wollen Eulen, die sind unglaublich nützlich, besorgen deine Post und so weiter.«
Zwanzig Minuten später verließen sie Eeylops Eulenkaufhaus. Dunkel war es dort gewesen, aus der einen oder andern Ecke hatten sie ein Flattern gehört, und gelegentlich waren diamanthelle Augenpaare aufgeblitzt. Harry trug jetzt einen großen Käfig, in dem eine wunderschöne Schneeule saß, tief schlafend mit dem Kopf unter einem Flügel. Unablässig stammelte er seinen Dank und klang dabei genau wie Professor Quirrell.
»Nicht der Rede wert«, sagte Hagrid schroff.»Kann mir denken, daß du von diesen Dursleys nicht allzu viele Geschenke bekommen hast. Müssen jetzt nur noch zu Ollivander, einem Laden für Zauberstäbe, und du brauchst den besten.«
Ein Zauberstab… darauf war Harry am meisten gespannt.
Der Laden war eng und schäbig. Über der Tür hieß es in abblätternden Goldbuchstaben: Ollivander – Gute Zauberstäbe seit 382 v. Chr. Auf einem verblaßten purpurroten Kissen im staubigen Fenster lag ein einziger Zauberstab.
Sie traten ein und von irgendwo ganz hinten im Laden kam das helle Läuten einer Glocke. Der Raum war klein und leer mit Ausnahme eines einzigen storchbeinigen Stuhls, auf den sich Hagrid niederließ, um zu warten. Harry fühlte sich so fremd hier, als ob er eine Bibliothek mit sehr strenger Aufsicht betreten hätte. Er schluckte eine Menge neuer Fragen hinunter, die ihm gerade eingefallen waren, und betrachtete statt dessen tausende von länglichen Schachteln, die fein säuberlich bis an die Decke gestapelt waren. Aus irgendeinem Grund kribbelte es ihm im Nacken. Allein der Staub und die Stille hier schienen ihn mit einem geheimen Zauber zu kitzeln.
»Guten Tag«, sagte eine sanfte Stimme. Harry schreckte auf. Auch Hagrid mußte erschrocken sein, denn ein lautes Knacken war zu hören, und rasch erhob er sich von den Storchenbeinen.
Ein alter Mann stand vor ihnen, seine weit geöffneten, blassen Augen leuchteten wie Monde durch die Düsternis des Ladens.
»Hallo«, sagte Harry verlegen.
»Ah ja«, sagte der Mann.»Ja, ja. Hab mir gedacht, daß Sie bald vorbeikommen. Harry Potter.«Das war keine Frage.»Sie haben die Augen Ihrer Mutter. Mir kommt es vor, als wäre sie erst gestern selbst hier gewesen und hätte ihren ersten Zauberstab gekauft. Zehneinviertel Zoll lang, geschmeidig, aus Weidenholz gefertigt. Hübscher Stab für bezaubernde Arbeit.«
Mr. Ollivander trat näher. Harry wünschte, er würde einmal blinzeln. Diese silbernen Augen waren etwas gruslig.
»Ihr Vater hingegen wollte lieber einen Zauberstab aus Mahagoni. Elf Zoll. Elastisch. Ein wenig mehr Kraft und hervorragend geeignet für Verwandlungen. Nun ja, ich sage, Ihr Vater wollte ihn – im Grunde ist es natürlich der Zauberstab, der sich den Zauberer aussucht.«
Mr. Ollivander war Harry so nahe gekommen, daß sich beider Nasenspitzen fast berührten. Harry konnte in diesen nebligen Augen sein Spiegelbild sehen.
»Und hier hat… «
Mr. Ollivander berührte die blitzförmige Narbe auf Harrys Stirn mit einem langen, weißen Finger.
»Leider muß ich sagen, daß ich selbst den Zauberstab verkauft habe, der das angerichtet hat«, sagte er sanft.»Dreizehneinhalb Zoll. Tja. Mächtiger Zauberstab, sehr mächtig, und in den falschen Händen… Nun, wenn ich gewußt hätte, was dieser Zauberstab draußen in der Welt anstellen würde… «
Er schüttelte den Kopf und bemerkte dann zu Harrys Erleichterung Hagrid.
»Rubeus! Rubeus Hagrid! Wie schön, Sie wieder zu sehen… Eiche, sechzehn Zoll, recht biegsam, nicht wahr?«
»Ja, Sir, das war er«, sagte Hagrid.
»Guter Stab, muß ich sagen. Aber ich fürchte, man hat ihn zerbrochen, als Sie ausgestoßen wurden?«, sagte Mr. Ollivander plötzlich mit ernster Stimme.
»Ähm – ja, das haben sie, ja«, sagte Hagrid und scharrte mit den Füßen.»Hab aber immer noch die Stücke«, fügte er strahlend hinzu.
»Aber Sie benutzen sie nicht, oder?«, sagte Mr. Ollivander scharf.
»O nein, Sir«, sagte Hagrid rasch. Harry bemerkte, daß er seinen rosa Schirm fest umklammerte, während er sprach.
»Hmmm«, sagte Mr. Ollivander und sah Hagrid mit durchdringendem Blick an.»Nun zu Ihnen, Mr. Potter. Schauen wir mal.«Er zog ein langes Bandmaß mit silbernen Strichen aus der Tasche.»Welche Hand ist Ihre Zauberhand?«
»Ähm – ich bin Rechtshänder«, sagte Harry.
»Strecken Sie Ihren Arm aus. Genau so.«Er maß Harry von der Schulter bis zu den Fingerspitzen, dann vom Handgelenk zum Ellenbogen, von der Schulter bis zu den Füßen, vom Knie zur Armbeuge und schließlich von Ohr zu Ohr. Während er mit dem Maßband arbeitete, sagte er:»Jeder Zauberstab von Ollivander hat einen Kern aus einem mächtigen Zauberstoff, Mr. Potter. Wir benutzen Einhornhaare, Schwanzfedern von Phönixen und die Herzfasern von Drachen. Keine zwei Ollivander-Stäbe sind gleich, ebenso wie kein Einhorn, Drache oder Phönix dem andern aufs Haar gleicht. Und natürlich werden Sie mit dem Stab eines anderen Zauberers niemals so hervorragende Resultate erzielen.«
Harry fiel plötzlich auf, daß das Maßband, welches gerade den Abstand zwischen seinen Nasenlöchern maß, dies von selbst tat. Mr. Ollivander huschte zwischen den Regalen herum und nahm Schachteln herunter.
»Das wird reichen«, sagte er, und das Bandmaß schnurrte zu einem Haufen auf dem Boden zusammen.»Nun gut, Mr. Potter. Probieren Sie mal diesen. Buchenholz und Drachenherzfasern. Neun Zoll. Handlich und biegsam. Nehmen Sie ihn einfach mal und schwingen Sie ihn durch die Luft.«
Harry nahm den Zauberstab in die Hand und schwang ihn ein wenig hin und her (wobei er sich albern vorkam), doch Mr. Ollivander riß ihm den Stab gleich wieder weg.
»Ahorn und Phönixfeder. Sieben Zoll. Peitscht so richtig. Versuchen Sie's!«
Harry versuchte es, doch kaum hatte er den Zauberstab erhoben, entriß ihm Mr. Ollivander auch diesen.
»Nein, nein – hier, Elfenbein und Einhornhaare, achteinhalb Zoll, federnd. Nur zu, nur zu, probieren Sie ihn aus.«
Harry probierte. Und probierte. Er hatte keine Ahnung, worauf Mr. Ollivander eigentlich wartete. Der Stapel mit den abgelegten Zauberstäben auf dem storchbeinigen Stuhl wuchs immer höher, doch je mehr Zauberstäbe Mr. Ollivander von den Regalen zog, desto glücklicher schien er zu werden.
»Schwieriger Kunde, was? Keine Sorge, wir werden hier irgendwo genau das Richtige finden. Ich frage mich jetzt – Ja, warum eigentlich nicht – ungewöhnliche Verbindung – Stechpalme und Phönixfeder, elf Zoll, handlich und geschmeidig.«
Harry ergriff den Zauberstab. Plötzlich spürte er Wärme in den Fingern. Er hob den Stab über den Kopf und ließ ihn durch die staubige Luft herabsausen. Ein Strom roter und goldener Funken schoß aus der Spitze hervor wie ein Feuerwerk, das tanzende Lichtflecken auf die Wände warf Hagrid johlte und klatschte, und Mr. Ollivander rief.»Aah, bravo. Ja, in der Tat, oh, sehr gut. Gut, gut, gut… Wie seltsam… Ganz seltsam… «
»Verzeihung«, sagte Harry,»aber was ist seltsam?«
Mr. Ollivander sah Harry mit blassen Augen fest an.
»Ich erinnere mich an jeden Zauberstab, den ich je verkauft habe, Mr. Potter. An jeden einzelnen. Es trifft sich nun, daß der Phönix, dessen Schwanzfeder in Ihrem Zauberstab steckt, noch eine andere Feder besaß – nur eine noch. Es ist schon sehr Seltsam, daß Sie für diesen Zauberstab bestimmt sind, während sein Bruder – nun ja, sein Bruder Ihnen diese Narbe beigebracht hat.«
Harry schluckte.
»Ja, dreizehneinhalb Zoll. Tja. Wirklich merkwürdig, wie die Dinge zusammentreffen. Der Zauberstab sucht sich den Zauberer, erinnern Sie sich… Ich denke, wir haben Großartiges von Ihnen zu erwarten, Mr. Potter… Schließlich hat auch Er-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf Großartiges getan – Schreckliches ja, aber Großartiges.«
Harry schauderte. Er war sich nicht sicher, ob er Mr. Ollivander besonders gut leiden mochte. Er zahlte sieben goldene Galleonen für seinen Zauberstab und Mr. Ollivander geleitete sie mit einer Verbeugung aus der Tür.
Die späte Nachmittagssonne stand tief am Himmel, als sich Harry und Hagrid auf den Rückweg durch die Winkelgasse machten, zurück durch die Mauer, zurück durch den Tropfenden Kessel, der nun menschenleer war. Harry schwieg, während sie die Straße entlanggingen; er bemerkte nicht einmal, wie viele Menschen in der U-Bahn sie mit offenem Munde anstarrten, beladen wie sie waren mit ihren merkwürdigen Päckchen und mit der schlafenden Schneeule auf Harrys Schoß. Wieder fuhren sie eine Rolltreppe hoch, und hinaus ging es auf den Bahnhof Paddington. Harry erkannte erst, wo sie waren, als Hagrid ihm auf die Schulter klopfte.
»Haben noch Zeit für einen Imbiß, bevor dein Zug geht«, sagte er.
Er kaufte für sich und Harry zwei Hamburger und sie setzten sich auf die Plastiksitze, um sie zu verspeisen. Harry sah sich unablässig um. Alles kam ihm irgendwie fremd vor.
»Alles in Ordnung mit dir, Harry? Du bist ja ganz still«, sagte Hagrid.
Harry wußte nicht recht, wie er es erklären konnte. Gerade hatte er den schönsten Geburtstag seines Lebens verbracht. Und doch, er kaute an seinem Hamburger und versuchte die richtigen Worte zu finden.
»Alle denken, ich sei etwas Besonderes«, sagte er endlich.»All diese Leute im Tropfenden Kessel, Professor Quirrel, Mr. Ollivander… Aber ich weiß überhaupt nichts von Zauberei. Wie können sie großartige Dinge von mir erwarten? Ich bin berühmt und ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wofür ich berühmt bin. Ich weiß nicht, was passiert ist, als Vol-, tut mir Leid – ich meine, in der Nacht, als meine Eltern starben.«
Hagrid beugte sich über den Tisch. Hinter dem wilden Bart und den buschigen Augenbrauen entdeckte Harry ein liebevolles Lächeln.
»Mach dir keine Sorgen, Harry. Du wirst alles noch schnell genug lernen. In Hogwarts fangen sie alle ganz von vorne an, es wird dir sicher gut gehen. Sei einfach du selbst. Ich weiß, es ist schwer. Du bist auserwählt worden und das ist immer schwer. Aber du wirst eine tolle Zeit in Hogwarts verbringen – wie ich damals – und heute noch, um genau zu sein.«
Hagrid half Harry in den Zug, der ihn zu den Dursleys zurückbringen würde, und reichte ihm dann einen Umschlag.
»Deine Fahrkarte nach Hogwarts«, sagte er.»Am 1. September Bahnhof King's Cross – steht alles drauf. Wenn du itrgendwelche Schwierigkeiten mit den Dursleys hast, schick mir deine Eule, sie weiß, wo sie mich findet… Bis bald, Harry.«
Der Zug fuhr aus dem Bahnhof hinaus. Harry wollte Hagrid beobachten, bis er außer Sicht war; er setzte sich auf und drückte die Nase gegen das Fenster. Doch er blinzelte und schon war Hagrid verschwunden.