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Harrys letzter Monat bei den Dursleys war nicht besonders lustig. Gewiß, Dudley hatte nun so viel Angst vor Harry, daß er nicht im selben Zimmer mit ihm bleiben wollte, und Tante Petunia und Onkel Vernon schlossen Harry nicht mehr in den Schrank ein, zwangen ihn zu nichts und schrien ihn nicht an – in Wahrheit sprachen sie kein Wort mit ihm. Halb entsetzt, halb wütend taten sie, als ob der Stuhl, auf dem Harry saß, leer wäre. So ging es ihm in mancher Hinsicht besser als zuvor, doch mit der Zeit wurde er ein wenig niedergeschlagen.
Harry blieb gerne in seinem Zimmer in Gesellschaft seiner Eule. Er hatte beschlossen, sie Hedwig zu nennen, ein Name, den er in der Geschichte der Zauberei gefunden hatte. Seine Schulbücher waren sehr interessant. Er lag auf dem Bett und las bis spät in die Nacht, während Hedwig durchs offene Fenster hinaus – oder hereinflatterte, wie es ihr gefiel. Ein Glück, daß Tante Petunia nicht mehr mit dem Staubsauger hereinkam, denn andauernd brachte Hedwig tote Mäuse mit. Harry hatte einen Monatskalender an die Wand geheftet, und jede Nacht, bevor er einschlief, hakte er einen weiteren Tag ab.
Am letzten Augusttag fiel ihm ein, daß er wohl mit Onkel und Tante darüber reden müsse, wie er am nächsten Tag zum Bahnhof King's Cross kommen sollte. Er ging hinunter ins Wohnzimmer, wo sie sich ein Fernsehquiz ansahen. Als er sich räusperte, um auf sich aufmerksam zu machen, schrie Dudley auf und rannte davon.
»Ahm – Onkel Vernon?«
Onkel Vernon grunzte zum Zeichen, daß er hörte.
»Ähm – ich muß morgen nach King's Cross, um… um nach Hogwarts zu fahren.«
Onkel Vernon grunzte erneut.
»Würde es dir etwas ausmachen, mich hinzufahren?«
Ein Brummen. Harry nahm an, daß es ja hieß.
»Danke.«
Er war schon auf dem Weg zur Treppe, als Onkel Vernon tatsächlich den Mund aufmachte.
»Komische Art, zu einer Zaubererschule zu kommen, mit dem Zug. Die fliegenden Teppiche haben wohl alle Löcher, was?«
Harry schwieg.
»Wo ist diese Schule überhaupt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Harry, selbst davon überrascht. Er zog die Fahrkarte, die Hagrid ihm gegeben hatte, aus der Tasche.
Ich nehme einfach den Zug um elf Uhr von Gleis neundreiviertel«, las er laut.
Tante und Onkel starrten ihn an.
»Gleis wie viel?«
»Neundreiviertel.«
»Red keinen Stuß«, sagte Onkel Vernon,»es gibt kein Gleis neundreiviertel.«
»Es steht auf meiner Fahrkarte.«
»Total verrückt«, sagte Onkel Vernon,»vollkommen übergeschnappt, das ganze Pack. Du wirst sehen. Wart's nur ab. Gut, wir fahren dich nach King's Cross. Wir müssen morgen ohnehin nach London, sonst würd ich mir die Mühe ja nicht machen.«
»Warum fahrt ihr nach London?«, fragte Harry, um das Gespräch ein wenig freundlich zu gestalten.
»Wir bringen Dudley ins Krankenhaus«, knurrte Onkel Vernon.»Bevor er nach Smeltings kommt, muß dieser vermaledeite Schwanz weg.«
Am nächsten Morgen wachte Harry um fünf Uhr auf viel zu aufgeregt und nervös, um wieder einschlafen zu können. Er stieg aus dem Bett und zog seine Jeans an, weil er nicht in seinem Zaubererumhang auf dem Bahnhof erscheinen wollte – er würde sich dann im Zug umziehen. Noch einmal ging er die Liste für Hogwarts durch, um sich zu vergewissern, daß er alles Nötige dabei hatte, und schloß Hedwig in ihren Käfig ein. Dann ging er im Zimmer auf und ab, darauf wartend, daß die Dursleys aufstanden. Zwei Stunden später war Harrys riesiger, schwerer Koffer im Wagen der Dursleys verstaut, Tante Petunia hatte Dudley überredet, sich neben Harry zu setzen, und los ging die Fahrt.
Sie erreichten King's Cross um halb elf. Onkel Vernon packte Harrys Koffer auf einen Gepäckwagen und schob ihn in den Bahnhof Harry fand dies ungewöhnlich freundlich von ihm, bis Onkel Vernon mit einem häßlichen Grinsen auf dem Gesicht vor den Bahnsteigen Halt machte.
»Nun, das war's, Junge. Gleis neun – Gleis zehn. Dein Gleis sollte irgendwo dazwischen liegen, aber sie haben es wohl noch nicht gebaut, oder?«
Natürlich hatte er vollkommen Recht. Über dem Bahnsteig hing auf der einen Seite die große Plastikziffer 9, über der anderen die große Plastikziffer 10, und dazwischen war nichts.
»Na dann, ein gutes Schuljahr«, sagte Onkel Vernon mit einem noch häßlicheren Grinsen. Er verschwand ohne ein weiteres Wort zu sagen. Harry wandte sich um und sah die Dursleys wegfahren. Alle drei lachten. Harrys Mund wurde ganz trocken. Was um Himmels willen sollte er tun? Schon richteten sich viele erstaunte Blicke auf ihn – wegen Hedwig. Er mußte Jemanden fragen.
Er sprach einen vorbeigehenden Wachmann an, wagte es aber nicht, Gleis neundreiviertel zu erwähnen. Der Wachmann hatte nie von Hogwarts gehört, und als Harry ihm nicht einmal sagen konnte, in welchem Teil des Landes die Schule lag, wurde er zusehends ärgerlich, als ob Harry sich absichtlich dumm anstellen würde. Schon ganz verzweifelt fragte Harry nach dem Zug, der um elf Uhr ging, doch der Wachmann meinte, es gebe keinen. Eine mürrische Bemerkung über Zeitverschwender auf den Lippen ging er schließlich davon. Harry versuchte mit aller Macht, ruhig Blut zu bewahren. Der großen Uhr über der Ankunfttafel nach hatte er noch zehn Minuten, um in den Zug nach Hogwarts zu steigen, und er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Da stand er nun, verloren mitten auf einem Bahnhof, mit einem Koffer, den er kaum vom – Boden heben konnte, einer Tasche voller Zauberergeld und einer großen Eule.
Hagrid mußte vergessen haben, ihm zu sagen, daß er etwas Bestimmtes tun sollte, so wie man auf den dritten Backstein zur Linken klopfen mußte, um auf die Winkelgasse zu kommen. Sollte er vielleicht seinen Zauberstab herausholen und auf den Fahrkartenschalter zwischen Gleis neun und Gleis zehn klopfen?
In diesem Augenblick ging eine Gruppe von Menschen dicht hinter ihm vorbei und er schnappte ein paar Worte ihrer Unterhaltung auf.
»… voller Muggel, natürlich… «
Harry wandte sich rasch um. Gesprochen hatte eine kugelrunde Frau, um sie herum vier Jungen, allesamt mit flammend rotem Haar. Jeder der vier schob einen Koffer, so groß wie der Harrys, vor sich her – und sie hatten eine Eule dabei.
Mit klopfendem Herzen schob Harry seinen Gepäckwagen hinter ihnen her. Sie hielten an, und auch Harry blieb stehen, dicht genug hinter ihnen, um sie zu hören.
»So, welches Gleis war es noch mal?«, fragte die Mutter der Jungen.
»Neundreiviertel«, piepste ein kleines Mädchen an ihrer Hand, das ebenfalls rote Haare hatte.»Mammi, kann ich nicht mitgehen… «
»Du bist noch zu klein, Ginny, und jetzt sei still. Percy, du gehst zuerst.«
Der offenbar älteste Junge machte sich auf den Weg in Richtung Bahnsteig neun und zehn. Harry beobachtete ihn, angestrengt darauf achtend, nicht zu blinzeln, damit ihm nichts entginge – doch gerade als der Junge die Absperrung zwischen den beiden Gleisen erreichte, schwärmte eine große Truppe Touristen an ihm vorbei, und als der letzte Rucksack sich verzogen hatte, war der Junge verschwunden.
»Fred, du bist dran«, sagte die rundliche Frau.
»Ich bin nicht Fred, ich bin George«, sagte der Junge.»Ehrlich mal, gute Frau, du nennst dich unsere Mutter? Kannst du nicht sehen, daß ich George bin?«
»Tut mir Leid, George, mein Liebling.«
»War nur'n Witz, ich bin Fred«, sagte der Junge, und fort war er. Sein Zwillingsbruder rief ihm hinterher, er solle sich beeilen, und das mußte er getan haben, denn eine Sekunde später war er verschwunden – doch wie hatte er es geschafft?
Nun schritt der dritte Bruder zügig auf die Bahnsteigabsperrung zu – er war schon fast dort -, und dann, ganz plötzlich, war er nicht mehr zu sehen.
Er war spurlos verschwunden.
»Entschuldigen Sie«, sagte Harry zu der rundlichen Frau.
»Hallo, mein Junge«, sagte sie.»Das erste Mal nach Hogwarts? Ron ist auch neu.«
Sie deutete auf den letzten und jüngsten ihrer Söhne. Er war hoch gewachsen, dünn und schlaksig, hatte Sommersprossen, große Hände und Füße und eine kräftige Nase.
»Ja«, sagte Harry.»Die Sache ist die… ist nämlich die, ich weiß nicht, wie ich… «
»Wie du zum Gleis kommen sollst?«, sagte sie freundlich, und Harry nickte.
»Keine Sorge«, sagte sie.»Du läufst einfach schnurstracks auf die Absperrung vor dem Bahnsteig für die Gleise neun und zehn zu. Halt nicht an und hab keine Angst, du könntest dagegen knallen, das ist sehr wichtig. Wenn du nervös bist, dann renn lieber ein bißchen. Nun geh, noch vor Ron.«
»Ähm -ja«, sagte Harry.
Er drehte seinen Gepäckwagen herum und blickte auf die Absperrung. Sie machte einen sehr stabilen Eindruck.
Langsam ging er auf sie zu. Menschen auf dem Weg zu den Gleisen neun oder zehn rempelten ihn an. Harry beschleunigte seine Schritte. Er würde direkt in diesen Fahrkartenschalter knallen, und dann hätte er ein echtes Problem. Er lehnte sich, auf den Wagen gestützt, nach vorn und stürzte nun schwer atmend los – die Absperrung kam immer näher – anhalten konnte er nun nicht mehr – der Gepäckkarren war außer Kontrolle – noch ein halber Meter – er schloß die Augen, bereit zum Aufprall -
Nichts geschah… Harry rannte weiter… er öffnete die Augen.
Eine scharlachrote Dampflok stand an einem Bahnsteig bereit, die Waggons voller Menschen. Auf einem Schild über der Lok stand Hogwarts-Express, 11 Uhr. Harry warf einen Blick über die Schulter und sah an der Stelle, wo der Fahrkartenschalter gestanden hatte, ein schmiedeeisernes Tor und darauf die Worte Gleis neundreiviertel. Er hatte es geschafft.
Die Lok blies Dampf über die Köpfe der schnatternden Menge hinweg, während sich hie und da Katzen in allen Farben zwischen den Beinen der Leute hindurchschlängelten. Durch das Geschnatter der Wartenden und das Kratzen der schweren Koffer schrien sich Eulen gegenseitig etwas mürrisch an.
Die ersten Waggons waren schon dicht mit Schülern besetzt. Einige lehnten sich aus den Fenstern und sprachen mit ihren Eltern und Geschwistern, andere stritten sich um Sitzplätze. Auf der Suche nach einem freien Platz schob Harry seinen Gepäckwagen weiter den Bahnsteig hinunter. Er kam an einem Jungen mit rundem Gesicht vorbei und hörte ihn klagen:»Oma, ich hab schon wieder meine Kröte verloren.«
»Ach, Neville«, hörte er die alte Frau seufzen.
Ein kleiner Auflauf hatte sich um einen Jungen mit Rastalocken gebildet.
»Laß uns nur einmal gucken, Lee, komm schon«
Der Junge hob den Deckel einer Schachtel, die er in den Armen hielt, und die Umstehenden kreischten und schrien auf, als ein langes, haariges Bein zum Vorschein kam.
Harry schob sich weiter durch die Menge, bis er fast am
Ende des Zuges ein leeres Abteil fand. Dort stellte er erst einmal Hedwig ab, dann begann er seinen Koffer in Richtung Waggontür zu wuchten. Er versuchte ihn die Stufen hochzuhieven, doch er konnte den Koffer kaum auch nur an einer Seite anheben. Zweimal fiel er ihm auf die Füße und das tat weh.
»Brauchst du Hilfe?«Das war einer der rothaarigen Zwillinge, denen er durch den Fahrkartenschalter gefolgt war.
»Ja, bitte«, keuchte Harry«
»Hallo, Fred! Pack mal mit an!«
Mit Hilfe der Zwillinge verstaute er seinen Koffer schließlich in einer Ecke des Abteils.
»Danke«, sagte Harry und wischte sich die schweißnassen Haare aus der Stirn.
»Was ist denn das?«, rief einer der Zwillinge plötzlich und deutete auf Harrys Blitznarbe.
»Mensch!«, sagte der andere Zwilling.»Bist du -?«
»Er ist es«, sagte der erste Zwilling.»Oder etwa nicht?«, fügte er an Harry gewandt hinzu.
»Wer?«, sagte Harry.
»Harry Potter«, riefen die Zwillinge im Chor.
»oh, der«, sagte Harry.»Ja, allerdings, der bin ich.«
Die beiden Jungen starrten ihn mit offenen Mündern an, und Harry spürte, wie er rot wurde. Dann kam, zu seiner Erleichterung, eine Stimme durch die offene Waggontür hereingeschwebt.
»Fred? George? Seid ihr dadrin?«
»Wir kommen, Mum.«
Mit einem letzten Blick auf Harry sprangen die Zwillinge aus dem Zug.
Harry setzte sich ans Fenster, wo er, halb verdeckt, die rothaarige Familie auf dem Bahnsteig beobachten und ihrem Gespräch lauschen konnte. Die Mutter hatte soeben ein Taschentuch hervorgezogen.
»Ron, du hast was an der Nase.«
Der Jüngste versuchte sich loszureißen, doch sie packte ihn und fing an seine Nase zu Putzen.
»Mum – hör auf,«Er wand sich los.
»Aaah, hat Ronniespätzchen etwas an der Nase?«, sagte einer der Zwillinge.
»Halt den Mund«, sagte Ron.
»Wo ist Percy?«, fragte die Mutter.
»Da kommt er.«
Der älteste Junge kam angeschritten. Er hatte bereits seinen wogenden schwarzen Hogwarts-Umhang angezogen, und Harry bemerkte ein schimmerndes Silberabzeichen mit dem Buchstaben V auf seiner Brust.
»Kann nicht lange bleiben, Mutter«, sagte er.»Ich bin ganz vorn, die Vertrauensschüler haben zwei Abteile für sich.«
»Oh, du bist Vertrauensschüler, Percy?«, sagte einer der Zwillinge und tat ganz überrascht.»Hättest du doch etwas gesagt, wir wußten ja gar nichts davon.«
»Warte, mir ist, als hätte er mal was erwähnt«, sagte der andere Zwilling.»Einmal -«
»Oder auch zweimal -«
»So nebenbei -«
»Den ganzen Sommer über -«
»Ach, hört auf«, sagte Percy der Vertrauensschüler.
»Warum hat Percy eigentlich einen neuen Umhang?«, fragte einer der Zwillinge.
»Weil er ein Vertrauensschüler ist«, sagte die Mutter vergnügt.»Nun gut, mein Schatz, ich wünsch dir ein gutes Schuljahr – und schick mir eine Eule, wenn du angekommen bist.«
Sie küßte Percy auf die Wange und er verabschiedete sich. Dann wandte sie sich den Zwillingen zu.
»Und jetzt zu euch beiden. Dieses Jahr benehmt ihr euch. Wenn ich noch einmal eine Eule bekomme, die mir sagt, daß ihr – daß ihr ein Klo in die Luft gejagt habt oder -«
»Ein Klo in die Luft gejagt? Wir haben noch nie ein Klo in die Luft gejagt.«
»Ist aber eine klasse Idee, danke, Mum.«
»Das ist nicht lustig. Und paßt auf Ron auf.«
»Keine Sorge, Ronniespätzchen ist sicher mit uns.«
»Haltet den Mund«, sagte Ron erneut. Er war schon fast so groß wie die Zwillinge, und seine Nase war dort, wo die Mutter sie geputzt hatte, immer noch rosa.
»He, Mum, weißt du was? Rate mal, wen wir im Zug getroffen haben!«
Harry lehnte sich rasch zurück, damit sie nicht sehen konnten, daß er sie beobachtete.
»Weißt du noch, dieser schwarzhaarige Junge, der im Bahnhof neben uns stand? Weißt du, wer das ist?«
»Wer?«
»Harry Potter!«
Harry hörte die Stimme des kleinen Mädchens.
»Oh, Mum, kann ich in den Zug gehen und ihn sehen? Mum, bitte…«
»Du hast ihn schon gesehen, Ginny, und der arme Junge ist kein Tier, das man sich anguckt wie im Zoo. Ist er es wirklich, Fred? Woher weißt du das?«
»Hab ihn gefragt. Hab seine Narbe gesehen. Es gibt sie wirklich – sieht aus wie ein Blitz.«
»Der Arme – kein Wunder, daß er allein war. Er hat ja so höflich gefragt, wie er auf den Bahnsteig kommen soll.«
»Schon gut, aber glaubst du, er erinnert sich daran, wie Du-weißt-schon-wer aussieht?«
Ihre Mutter wurde plötzlich sehr ernst.
»Ich verbiete dir, ihn danach zu fragen, Fred. Wag es ja nicht. Das hat ihm gerade noch gefehlt, daß er an seinem ersten Schultag daran erinnert wird.«
»Schon gut, reg dich ab.«
Ein Pfiff gellte über den Bahnsteig.
»Beeilt euch«, sagte die Mutter, und die drei Jungen stiegen in den Zug. Sie lehnten sich aus dem Fenster für einen Abschiedskuß, und ihre kleine Schwester begann zu weinen.
»Nicht doch, Ginny, wir senden dir kistenweise Eulen.«
»Wir schicken dir eine Klobrille aus Hogwarts.«
»George!«
»War nur 'n Witz, Mum.«
Mit einem Ruck fuhr der Zug an. Harry sah die Mutter der Jungen und die kleine Schwester halb lachend, halb weinend zum Abschied winken. Sie rannten mit, bis der Zug zu schnell wurde, dann blieben sie stehen und winkten.
Der Zug ging in eine Kurve und Harry verlor das Mädchen und seine Mutter aus den Augen. Vor dem Fenster zogen Häuser vorbei. Plötzlich war Harry ganz aufgeregt. Er wußte nicht, was ihn erwartete – doch besser als das, was er zurückließ, mußte es allemal sein.
Die Abteiltür glitt auf und der Jüngste der Rotschöpfe kam herein.
»Sitzt da jemand?«, fragte er und deutete auf den Sitz gegenüber von Harry.»Der ganze Zug ist nämlich voll.«
Harry schüttelte den Kopf und der Junge setzte sich. Er warf Harry einen schnellen Blick zu und sah dann schweigend aus dem Fenster. Harry sah, daß er immer noch einen schwarzen Fleck auf der Nase hatte.
»He, Ron.«
Da waren die Zwillinge wieder.
»Hör mal, wir gehen weiter in die Mitte. Lee Jordan hat eine riesige Tarantel.«
»Macht nur«, murmelte Ron.
»Harry«, sagte der andere Zwilling,»haben wir uns eigentlich schon vorgestellt? Fred und George Weasley. Und das hier ist Ron, unser Bruder. Bis später dann.«
»Tschau«, sagten Harry und Ron. Die Zwillinge schoben die Abteiltür hinter sich zu.
»Bist du wirklich Harry Potter?«, kam es aus Ron hervorgesprudelt.
Harry nickte.
»Aah, gut, ich dachte, es wäre vielleicht wieder so ein Scherz von Fred und George«, sagte Ron.»Und hast du wirklich… du weißt schon… «Er deutete auf Harrys Stirn.
Harry strich sich die Haare aus dem Gesicht und zeigte ihm die Blitznarbe. Ron machte große Augen.
»Also hier hat Du-weißt-schon-wer… «
»Ja«, sagte Harry,»aber ich kann mich nicht daran erinnern.«
»An nichts?«, fragte Ron neugierig.
»Naja, ich erinnere mich noch, daß überall grünes Licht war, aber an sonst nichts.«
»Mensch«, sagte Ron. Er saß da, starrte Harry einige Zeit lang an und dann, als sei ihm plötzlich klar geworden, was er da tat, wandte er seine Augen rasch wieder aus dem Fenster.
»Sind alle in eurer Familie Zauberer?«, fragte Harry, der Ron genauso interessant fand wie Ron ihn.
»Ähm – ja, ich denke schon«, sagte Ron.»Ich glaube, Mum hat noch einen zweiten Vetter, der Buchhalter ist, aber wir reden nie über ihn.«
»Dann mußt du schon viel vom Zaubern verstehen.«
Die Weasleys waren offensichtlich eine dieser alten Zaubererfamilien, von denen der blasse Junge in der Winkelgasse gesprochen hatte.
»Ich hab gehört, daß du bei den Muggeln gelebt hast«, sagte Ron.»Wie sind die?«
»Fürchterlich – naja, nicht alle. Meine Tante, mein Onkel und mein Vetter jedenfalls. Ich wünschte, ich hätte auch drei Zaubererbrüder.«
»Fünf«, sagte Ron. Aus irgendeinem Grund verdüsterte sich seine Miene.»Ich bin der sechste in unserer Familie, der nach Hogwarts geht. Und das heißt, in mich setzt man hohe Erwartungen. Bill und Charlie sind schon nicht mehr dort – Bill war Schulsprecher und Charlie war Kapitän der Quidditch-Mannschaft. Und Percy ist jetzt Vertrauensschüler. Fred und George machen zwar eine Menge Unsinn, aber sie haben trotzdem ganz gute Noten und sind beliebt. Alle erwarten von mir, daß ich so gut bin wie die andern, aber wenn ich es schaffe, ist es keine große Sache, weil sie es schon vorgemacht haben. Außerdem kriegst du nie etwas Neues, wenn du fünf Brüder hast. Ich habe den alten Umhang von Bill, den alten Zauberstab von Charlie und die alte Ratte von Percy.«
Ron schob die Hand in die Jacke und zog eine fette, graue, schlafende Ratte hervor.
»Ihr Name ist Krätze und sie ist nutzlos, sie pennt immer. Percy hat von meinem Dad eine Eule bekommen, weil er Vertrauensschüler wurde, aber sie konnten sich keine – ich meine, ich habe statt dessen Krätze bekommen.«
Rons Ohren färbten sich rosa. Offenbar glaubte er, er habe jetzt zu viel gesagt, denn er sah jetzt wieder aus dem Fenster.
Harry fand es überhaupt nicht schlimm, wenn jemand sich keine Eule leisten konnte. Schließlich hatte er bis vor einem Monat keinen Penny gehabt, und er erzählte Ron auch, daß er immer Dudleys alte Klamotten tragen mußte und nie ein richtiges Geburtstagsgeschenk bekommen hatte. Das schien Ron ein wenig aufzumuntern.
»… und bis Hagrid es mir gesagt hat, wußte ich überhaupt nicht, daß ich ein Zauberer bin, und auch nichts von meinen Eltern und Voldemort.«
Ron stockte der Atem.
»Was ist?«, fragte Harry.
»Du hast Du-weißt-schon-wer beim Namen genannt!«, sagte Ron, entsetzt und beeindruckt zugleich.»Ich hätte nicht gedacht, daß ausgerechnet du -«
»Ich möchte nicht so tun, als ob ich besonders mutig wäre, wenn ich den Namen sage«, antwortete Harry.»Ich habe einfach nie gewußt, daß man es nicht tun sollte. Verstehst du? Ich hab noch eine Menge zu lernen… Ich wette«, fuhr er fort und redete sich etwas von der Seele, das ihm seit kurzem viel Sorge bereitete,»ich wette, ich bin der Schlechteste in der Klasse.«
»Das glaube ich nicht. Es gibt eine Menge Leute aus Muggelfamilien und sie lernen trotzdem schnell.«
Während sie sich unterhielten, hatte der Zug London hinter sich gelassen. Wiesen mit Kühen und Schafen zogen nun schnell an ihnen vorbei. Eine Weile schwiegen sie und schauten hinaus auf Felder und Wege.
Um halb zwölf drang vom Gang ein lautes Geklirre und Geklapper herein, und eine Frau mit Grübchen in den Wangen schob die Tür auf und sagte lächelnd:»Eine Kleinigkeit vom Wagen gefällig, ihr Süßen?«
Harry, der nicht gefrühstückt hatte, sprang auf, doch Rons Ohren liefen wieder rosa an. Er habe Stullen dabei, nuschelte er. Harry trat hinaus in den Gang.
Bei den Dursleys hatte er nie Geld für Süßigkeiten gehabt, und nun, mit den Taschen voll klimpernder Gold- und Silbermünzen, hatte er große Lust, so viele Schokoriegel zu kaufen, wie er nur tragen konnte, doch die Frau hatte keine Schokoriegel. Es gab Bertie Botts Bohnen in allen Geschmacksrichtungen, Bubbels Besten Blaskaugummi, Schokofrösche, Kürbispasteten, Kesselkuchen, Lakritz-Zauberstäbe und einige andere seltsame Dinge, die Harry noch nie gesehen hatte. Damit ihm auch nichts entginge, nahm er von allem etwas und zahlte der Frau elf Silbersickel und sieben Bronzeknuts.
Ron machte große Augen, als Harry mit all den Sachen ins Abteil zurückkam und sie auf einen leeren Sitz fallen ließ.
»Bist wohl ziemlich hungrig?«
»Ich verhungere gleich«, sagte Harry und nahm einen großen Bissen von einer Kürbispastete.
Ron hatte ein klobiges Papierbündel herausgeholt und es aufgewickelt. Drin waren vier belegte Brote. Er zog eins davon auseinander und sagte:»Sie vergißt immer, daß ich kein Corned Beef mag.«
»Ich tausch es für eine hiervon«, sagte Harry und hielt eine Pastete hoch.»Na los -«
»Das Brot magst du sicher nicht, es ist ganz trocken«, sagte Ron.»Sie hat nicht viel Zeit«, fügte er rasch hinzu,»mit gleich fünfen von uns, du weißt ja.«
»Ach, komm schon, nimm dir eine Pastete«, sagte Harry, der noch nie etwas zu teilen gehabt hatte oder auch nur jemanden, mit dem er etwas hätte teilen können. Es war ein gutes Gefühl, hier mit Ron zu sitzen und sich durch all seine Pasteten und Kuchen zu futtern (die Stullen hatten sie längst vergessen).
»Was ist das?«, fragte Harry und hielt eine Schachtel Schokofrösche hoch.»Das sind keine echten Frösche, oder?«Allmählich hatte er das Gefühl, daß ihn nichts mehr überraschen würde.
»Nein«, sagte Ron.»Aber schau nach, was auf der Karte ist, mir fehlt noch Agrippa.«
»Was?«
»Ach, das weißt du natürlich nicht! In den Schokofröschen sind Bildkarten von berühmten Hexen und Zauberern zum Sammeln. Ich habe über fünfhundert, aber mir fehlen noch Agrippa und Ptolemäus.«
Harry wickelte den Schokofrosch aus und entnahm die Karte. Sie zeigte das Gesicht eines Mannes. Er trug eine Lesebrille, hatte eine lange, krumme Nase, wehendes Silberhaar und einen mächtigen Vollbart. Unter dem Bild stand der Name Albus Dumbledore.
»Das ist also Dumbledore«, rief Harry.
»Sag bloß, du hast noch nie von Dumbledore gehört!«, rief Ron.»Kann ich einen Frosch haben? Vielleicht ist Agrippa drin. – Danke.«
Harry drehte seine Karte um und las:
Albus Dumbledore, gegenwärtig Schulleiter von Hogwarts.
Gilt bei vielen als der größte Zauberer der jüngeren Geschichte.
Dumbledores Ruhm beruht vor allem auf seinem Sieg über den schwarzen Magier Grindelwald im Jahre 1945, auf der Entdeckung der sechs Anwendungen für Drachenmilch und auf seinem Werk über Alchemie, verfaßt zusammen mit seinem Partner Nicolas Flamel. In seiner Freizeit hört Professor Dumbledore mit Vorliebe Kammermusik und spielt Bowling.
Harry drehte die Karte wieder um und stellte verblüfft fest, daß Dumbledores Gesicht verschwunden war.
»Er ist weg!«
»Tja, du kannst nicht erwarten, daß er den ganzen Tag hier rumhängt«, sagte Ron.»Er wird schon wieder kommen. Ach nein, ich hab schon wieder Morgana; von der
hab ich doch schon sechs Stück… willst du Sie? Du könntest anfangen zu sammeln.«
Rons Augen wanderten hinüber zu dem Haufen Schokofrösche, die nur darauf warteten, ausgewickelt zu werden.
»Bedien dich«, sagte Harry.»Aber in der… in der Muggelwelt bleiben die Leute einfach sichtbar.«
»Wirklich? Soll das heißen, sie bewegen sich überhaupt nicht?«Ron klang verblüfft.»Komisch!«
Harry machte große Augen, als Dumbledore wieder ins Bild auf seiner Karte huschte und ihn kaum merklich anlächelte. Ron war mehr daran interessiert, die Frösche zu verspeisen, als die Karten mit den berühmten Hexen und Zauberern zu betrachten, doch Harry konnte seine Augen nicht von ihnen abwenden. Bald besaß er nicht nur Dumbledore und Morgana, sondern auch Hengis von Woodcroft, Alberich Grunnion, Circe, Paracelsus und Merlin. Schließlich wandte er mit Mühe die Augen von der Druidin Cliodna ab, die sich gerade an der Nase kratzte, und öffnete eine Tüte Bertie Botts Bohnen aller Geschmacksrichtungen.
»Sei bloß vorsichtig mit denen«, warnte ihn Ron.»Wenn sie sagen jede Geschmacksrichtung, dann meinen sie es auch. – Du kriegst zwar alle gewöhnlichen wie Schokolade und Pfefferminz und Erdbeere, aber auch Spinat und Leber und Kutteln. George meint, er habe mal eine mit Popelgeschmack gehabt.«
Ron nahm sich eine grüne Bohne, studierte sie sorgfältig und biß sich ein Stück ab.
»Ääähhh – siehst du? Sprößlinge.«
Die Bohnen jeder Geschmacksrichtung zu essen machte ihnen Spaß. Harry hatte Toast, Kokosnuß, gebackene Bohnen, Erdbeere, Curry, Gras, Kaffee und Sardine und war sogar kühn genug, um das Ende einer merkwürdigen grauen Bohne anzuknabbern, die Ron nicht einmal anfassen wollte. Sie schmeckte nach Pfeffer.
Die Landschaft, die nun am Fenster vorbeiflog, wurde zunehmend wilder. Die ordentlich bestellten Felder waren verschwunden. Jetzt sahen sie Wälder, verschlungene Flüsse und dunkelgrüne Hügel.
An der Abteiltür klopfte es, und der Junge mit dem runden Gesicht, an dem Harry auf dem Bahnsteig vorbeigegangen war, kam herein. Er sah ganz verweint aus.
»Tut mir Leid«, sagte er,»aber habt ihr vielleicht eine Kröte gesehen?«
Als sie die Köpfe schüttelten, fing er an zu klagen:»Ich hab sie verloren. Immer haut sie ab!«
»Sie wird schon wieder auftauchen«, sagte Harry.
»Ja«, sagte der Junge verzweifelt.»Gut, falls ihr sie seht…
Er verschwand wieder.
»Weiß nicht, warum er sich so aufregt«, sagte Ron.»Wenn ich eine Kröte mitgebracht hätte, dann wär ich sie so schnell wie möglich losgeworden. Doch was soll's, hab ja Krätze mitgebracht, ich sollte also lieber den Mund halten.«
Die Ratte döste immer noch auf Rons Schoß.
»Sie könnte inzwischen gestorben sein, ohne daß ich es gemerkt hätte«, sagte Ron voller Abscheu.»Gestern hab ich versucht, sie gelb zu färben, damit sie interessanter aussieht, aber der Spruch hat nicht gewirkt. Ich zeig's dir, schau mal… «
Er stöberte in seinem Koffer herum und zog einen arg in Mitleidenschaft genommenen Zauberstab hervor. An manchen Stellen war er angeschnitten und etwas Weißes glitzerte an der Spitze.
»Das Einhornhaar kommt schon fast raus. Egal -«
Gerade hatte er seinen Zauberstab erhoben, als die Abteiltür erneut aufgeschoben wurde. Wieder war es der krötenlose Junge, doch diesmal war ein Mädchen bei ihm. Sie trug schon jetzt ihren neuen Hogwarts-Umhang.
»Hat jemand eine Kröte gesehen? Neville hat seine verloren«, sagte sie mit gebieterischer Stimme. Sie hatte einen üppigen braunen Haarschopf und recht lange Vorderzähne.
»Wir haben ihm schon gesagt, daß wir sie nicht gesehen haben«, erklärte Ron. Doch das Mädchen hörte nicht zu, sondern betrachtete den Zauberstab in seiner Hand.
»Aha, du bist gerade am Zaubern? Dann laß mal sehen.«
Sie setzte sich. Ron sah verlegen aus.
»Ähm – na gut.«
Er räusperte sich.
»Eidotter, Gänsekraut und Sonnenschein,
Gelb soll diese fette Ratte sein.«
Er wedelte mit dem Zauberstab durch die Luft, doch nichts passierte. Krätze blieb bei seiner grauen Farbe und schlief munter weiter.
»Bist du sicher, daß das ein richtiger Zauberspruch ist?«, sagte das Mädchen.»Jedenfalls ist er nicht besonders gut. Ich hab selbst ein paar einfache Sprüche probiert, nur zum Üben, und bei mir hat's immer geklappt. Keiner in meiner Familie ist magisch, es war ja so eine Überraschung, als ich meinen Brief bekommen hab, aber ich hab mich unglaublich darüber gefreut, es ist nun einmal die beste Schule für Zauberei, die es gibt, wie ich gehört hab – ich hab natürlich alle unsere Schulbücher auswendig gelernt, ich hoffe nur, das reicht. Übrigens, ich bin Hermine Granger, und wer seid ihr?«
Das alles sprudelte in atemberaubender Geschwindigkeit aus ihr heraus.
Harry sah Ron an und war erleichtert, in seinem verblüfften Gesicht ablesen zu können, daß auch er nicht alle Schulbücher auswendig gelernt hatte.
»Ich bin Ron Weasley«, murmelte Ron.
»Harry Potter«, sagte Harry.
»Ach tatsächlich?«, sagte Hermine.»Natürlich weiß ich alles über dich, ich hab noch ein paar andere Bücher, als Hintergrundlektüre, und du stehst in der Geschichte der modernen Magie, im Aufstieg und Niedergang der dunklen Künste und in der Großen Chronik der Zauberei des zwanzigsten Jahrhunderts.«
»Nicht zu fassen«, sagte Harry, etwas schwurbelig im Kopf
»Meine Güte, hast du das nicht gewußt, ich jedenfalls hätte alles über mich rausgefunden, wenn ich du gewesen wäre«, sagte Hermine.»Wißt ihr eigentlich schon, in welches Haus ihr kommt? Ich hab herumgefragt und hoffentlich komme ich nach Gryffindor, da hört man das Beste, es heißt, Dumbledore selber war dort, aber ich denke, Ravenclaw wär auch nicht schlecht… Gut denn, wir suchen jetzt besser weiter nach Nevilles Kröte. Übrigens, ihr beide solltet euch lieber umziehen, ich glaube, wir sind bald da.«
Den krötenlosen Jungen im Schlepptau zog sie von dannen.
»Egal, in welches Haus ich komme, Hauptsache, die ist woanders«, sagte Ron. Er warf seinen Zauberstab in den Koffer zurück.»Blöder Spruch, ich hab ihn von George. Wette, er hat gewußt, daß es ein Blindgänger ist.«
»In welchem Haus sind deine Brüder?«, fragte Harry.
»Gryffindor«, sagte Ron. Wieder schienen ihn düstere Gedanken gefangen zu nehmen.»Mum und Dad waren auch dort. Ich weiß nicht, was sie sagen werden, wenn ich woanders hinkomme. Ravenclaw wäre sicher nicht allzu schlecht, aber stell dir vor, sie stecken mich nach Slytherin.«
»Das ist das Haus, in dem Vol-, ich meine, Du-weißt-schon-wer war?«
»Ja«, sagte Ron. Er ließ sich mit trübseliger Miene in seinen Sitz zurückfallen.
»Weißt du was, mir kommen die Spitzen von Krätzes Schnurrhaaren doch etwas heller vor«, sagte Harry, um Ron abzulenken.»Und was machen jetzt eigentlich deine älteren Brüder, wo sie aus der Schule sind?«
Harry war neugierig, was ein Zauberer wohl nach der Schule anstellen mochte.
»Charlie ist in Rumänien und erforscht Drachen und Bill ist in Afrika und erledigt etwas für Gringotts«, sagte Ron.»Hast du von Gringotts gehört? Es kam ganz groß im Tagespropheten, aber den kriegst du wohl nicht bei den Muggeln: Jemand hat versucht ein Hochsicherheitsverlies auszurauben.«
Harry starrte ihn an.»Wirklich? Und weiter?«
»Nichts, darum hat die Sache ja Schlagzeilen gemacht. Man hat sie nicht erwischt. Mein Dad sagt, es muß ein mächtiger schwarzer Magier gewesen sein, wenn er bei Gringotts eindringen konnte, aber sie glauben nicht, daß sie etwas mitgenommen haben, und das ist das Merkwürdige daran. Natürlich kriegen es alle mit der Angst zu tun, wenn so etwas passiert, es könnte ja Du-weißt-schon-wer dahinter stecken.«
Harry dachte über diese Neuigkeit nach. Inzwischen spürte er immer ein wenig Angst in sich hochkribbeln, wenn der Name von Du-weißt-schon-wer fiel. Das gehörte wohl dazu, wenn man in die Welt der Zauberer eintrat, doch es war viel einfacher gewesen,»Voldemort«zu sagen, ohne sich deswegen zu beunruhigen.
»Für welche Quidditch-Mannschaft bist du eigentlich?«, fragte Ron.
»Ähm – ich kenne gar keine«, gestand Harry.
»Was?«Ron sah ihn verdutzt an.»Ach, wart's nur ab, das ist das beste Spiel der Welt -«Und dann legte er los und erklärte alles über die vier Bälle und die Positionen der sieben Spieler, beschrieb berühmte Spiele, die er mit seinen Brüdern besucht hatte, und den Besen, den er gerne kaufen würde, wenn er das Geld dazu hätte. Gerade war er dabei, Harry in die raffinierteren Züge des Spiels einzuführen, als die Abteiltür wieder aufging. Doch diesmal waren es weder Neville, der krötenlose Junge, noch Hermine Granger.
Drei Jungen traten ein und Harry erkannte sofort den mittleren von ihnen: Es war der blasse Junge aus Madam Malkins Laden. Er musterte Harry nun viel interessierter als in der Winkelgasse.
»Stimmt es?«, sagte er.»Im ganzen Zug sagen sie, daß Harry Potter in diesem Abteil ist. Also du bist es?«
»Ja«, sagte Harry. Er sah die anderen Jungen an. Beide waren stämmig und wirkten ziemlich fies. Wie sie da zur Rechten und zur Linken des blassen Jungen standen, sahen sie aus wie seine Leibwächter.
»Oh, das ist Crabbe und das ist Goyle«, bemerkte der blasse Junge lässig, als er Harrys Blick folgte.»Und mein Name ist Malfoy. Draco Malfoy.«
Von Ron kam ein leichtes Husten, das sich anhörte wie ein verdruckstes Kichern.
Draco Malfoy sah ihn an.
»Meinst wohl, mein Name ist komisch, was? Wer du bist, muß man ja nicht erst fragen. Mein Vater hat mir gesagt, alle Weasleys haben rotes Haar, Sommersprossen und mehr Kinder, als sie sich leisten können.«
Er wandte sich wieder Harry zu.
»Du wirst bald feststellen, daß einige Zaubererfamilien viel besser sind als andere, Potter. Und du wirst dich doch nicht etwa mit der falschen Sorte abgeben. Ich könnte dir behilflich sein.«
Er streckte die Hand aus, doch Harry machte keine Anstalten, ihm die seine zu reichen.
»Ich denke, ich kann sehr gut selber entscheiden, wer zur falschen Sorte gehört«, sagte er kühl.
Draco Malfoy wurde nicht rot, doch ein Hauch Rosa erschien auf seinen blassen Wangen.
»Ich an deiner Stelle würde mich vorsehen, Potter«, sagte er langsam.»Wenn du nicht ein wenig höflicher bist, wird es dir genauso ergehen wie deinen Eltern. Die wußten auch nicht, was gut für sie war. Wenn du dich mit Gesindel wie den Weasleys und diesem Hagrid abgibst, wird das auf dich abfärben.«
Harry und Ron erhoben sich. Rons Gesicht war nun so rot wie sein Haar.
»Sag das noch mal«, sagte er.
»Oh, ihr wollt euch mit uns schlagen?«, höhnte Malfoy.
»Außer ihr verschwindet sofort«, sagte Harry, was mutiger klang, als er sich fühlte, denn Crabbe und Goyle waren viel kräftiger als er und Ron.
»Aber uns ist überhaupt nicht nach Gehen zumute, oder, Jungs? Wir haben alles aufgefuttert, was wir hatten, und bei euch gibt's offenbar noch was.«
Goyle griff nach den Schokofröschen neben Ron. Ron machte einen Sprung nach vorn, doch bevor er Goyle auch nur berührt hatte, entfuhr diesem ein fürchterlicher Schrei.
Krätze, die Ratte, baumelte von Goyles Zeigefinger herab, ihre scharfen kleinen Zähne tief in seine Knöchel versenkt – Crabbe und Malfoy wichen zur Seite, als der jaulende Goyle Krätze weit im Kreis herumschwang. Als Krätze schließlich wegflog und gegen das Fenster klatschte, verschwanden alle drei auf der Stelle. Vielleicht dachten sie, noch mehr Ratten würden zwischen den Süßigkeiten lauern, oder vielleicht hatten sie Schritte gehört, denn einen Augenblick später trat Hermine Granger ein.
»Was war hier los?«, sagte sie und blickte auf die Naschereien, die auf dem Boden verstreut lagen. Ron packte Krätze am Schwanz und hob ihn hoch.
»Ich denke, er ist k. o. gegangen«, sagte Ron zu Harry gewandt. Er besah sich Krätze näher.»Nein – doch nicht. Ist wohl wieder eingeschlafen.«
Und so war es.
»Hast du Malfoy schon einmal getroffen?«
Harry erzählte von ihrer Begegnung in der Winkelgasse.
»Ich hab von seiner Familie gehört«, sagte Ron in düsterem Ton.»Sie gehörten zu den Ersten, die auf unsere Seite zurückkehrten, nachdem Du-weißt-schon-wer verschwunden war. Sagten, sie seien verhext worden. Mein Dad glaubt nicht daran. Er sagt, Malfoys Vater brauchte keine Ausrede, um auf die dunkle Seite zu gehen.«Er wandte sich Hermine zu.»Können wir dir behilflich sein?«
»Ich schlage vor, ihr beeilt euch ein wenig und zieht eure Umhänge an. Ich war gerade vorn beim Lokführer, und er sagt, wir sind gleich da. Ihr habt euch nicht geschlagen, oder? Ihr kriegt noch Schwierigkeiten, bevor wir überhaupt da sind!«
»Krätze hat gekämpft, nicht wir«, sagte Ron und blickte sie finster an.»Würdest du bitte gehen, damit wir uns umziehen können?«
»Schon gut. Ich bin nur reingekommen, weil sich die Leute draußen einfach kindisch aufführen und ständig die Gänge auf und ab rennen«, sagte Hermine hochnäsig.»Und übrigens, du hast Dreck an der Nase, weißt du das?«
Unter dem zornfunkelnden Blick von Ron ging sie schließlich hinaus.
Harry sah aus dem Fenster. Es wurde langsam dunkel. Unter einem tief purpurrot gefärbten Himmel konnte er noch Berge und Wälder erkennen. Der Zug schien langsamer zu werden.
Die beiden legten die Jacken ab und zogen ihre langen schwarzen Umhänge an. Rons Umhang war ein wenig zu kurz für ihn, man konnte seine Trainingshosen darunter sehen.
Eine Stimme hallte durch den Zug:»In fünf Minuten kommen wir in Hogwarts an. Bitte lassen Sie Ihr Gepäck im Zug, es wird für Sie zur Schule gebracht.«
Harry spürte ein Ziehen im Magen und Ron sah unter seinen Sommersprossen ganz blaß aus. Sie stopften sich den letzten Rest Süßigkeiten in die Taschen und traten hinaus auf den Gang, der schon voller Schüler war.
Der Zug bremste und kam zum Stillstand. Alles drängelte sich durch die Tür und hinaus auf einen kleinen, dunklen Bahnsteig. Harry zitterte in der kalten Abendluft. Plötzlich erhob sich über ihren Köpfen der Schein einer Lampe und Harry hörte eine vertraute Stimme:»Erstkläßler! Erstkläßler hier rüber! Alles klar, Harry?«
Hagrids großes, haariges Gesicht strahlte ihm über das Meer von Köpfen hinweg entgegen.
»Nu mal los, mir nach – noch mehr Erstkläßler da? Paßt auf, wo ihr hintretet! Erstkläßler mir nach!«
Rutschend und stolpernd folgten sie Hagrid einen steilen, schmalen Pfad hinunter. Um sie her war es so dunkel, daß Harry vermutete, zu beiden Seiten müßten dichte Bäume stehen. Kaum jemand sprach ein Wort. Neville, der Junge, der immer seine Kröte verlor, schniefte hin und wieder.
»Augenblick noch, und ihr seht zum ersten Mal in eurem Leben Hogwarts«, rief Hagrid über die Schulter,»nur noch um diese Biegung hier.«
Es gab ein lautes»Oooooh!«.
Der enge Pfad war plötzlich zu Ende und sie standen am Ufer eines großen schwarzen Sees. Drüben auf der anderen Seite, auf der Spitze eines hohen Berges, die Fenster funkelnd im rabenschwarzen Himmel, thronte ein gewaltiges Schloß mit vielen Zinnen und Türmen.
»Nicht mehr als vier in einem Boot!«, rief Hagrid und deutete auf eine Flotte kleiner Boote, die am Ufer tümpelten. Harry und Ron sprangen in eines der Boote und ihnen hinterher Neville und Hermine.
»Alle drin?«, rief Hagrid, der ein Boot für sich allein hatte.»Nun denn – VORWÄRTS!«
Die kleinen Boote setzten sich gleichzeitig in Bewegung und glitten über den spiegelglatten See. Alle schwiegen und starrten hinauf zu dem großen Schloß. Es thronte dort oben, während sie sich dem Felsen näherten, auf dem es gebaut war.
»Köpfe runter«, rief Hagrid, als die ersten Boote den Felsen erreichten; sie duckten sich, und die kleinen Boote schienen durch einen Vorhang aus Efeu zu schweben, der sich direkt vor dem Felsen auftat. Sie glitten durch einen dunklen Tunnel, der sie anscheinend in die Tiefe unterhalb des Schlosses führte, bis sie eine Art unterirdischen Hafen erreichten und aus den Booten kletterten.
»He, du da! Ist das deine Kröte?«, rief Hagrid, der die Boote musterte, während die Kinder ausstiegen.
»Trevor!«, schrie Neville selig vor Glück und streckte die Hände aus. Dann stiefelten sie hinter Hagrids Lampe einen Felsgang empor und kamen schließlich auf einer weichen, feuchten Wiese im Schatten des Schlosses heraus.
Sie gingen eine lange Steintreppe hoch und versammelten sich vor dem riesigen Eichentor des Schlosses.
»Alle da? Du da, hast noch deine Kröte?«
Hagrid hob seine gewaltige Faust und klopfte dreimal an das Schloßtor.