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Harry war am Sonntagmorgen beim Anziehen so zerstreut, daß es eine Weile dauerte, bis ihm auffiel, daß er seinen Zauberhut statt einer Socke über den Fuß ziehen wollte. Endlich waren alle Kleidungsstücke am richtigen Platz, und er eilte los, um Hermine zu suchen. Er fand sie in der Großen Halle am Gryffindor-Tisch, wo sie mit Ginny frühstückte. Harry, dem gar nicht nach Essen zumute war, wartete, bis Hermine ihren letzten Löffel Haferschleim geschluckt hatte, dann schleppte er sie sofort hinaus auf die Ländereien. Bei einem langen Spaziergang um den See erzählte er ihr alles über die Drachen und sein Gespräch mit Sirius.
Hermine beunruhigten zwar Sirius' Warnungen vor Karkaroff, doch fand sie, die Drachen seien das drängendere Problem.
»Wir müssen unbedingt alles daransetzen, daß du den Dienstag überlebst«, sagte sie verzweifelt,»und dann können wir uns über Karkaroff Gedanken machen.«
Dreimal umrundeten sie den See und überlegten angestrengt, wie es möglich sein sollte, mit Hilfe eines einfachen Zaubers einen Drachen zu bändigen. Doch es fiel ihnen nichts ein, und schließlich suchten sie die Lösung in der Bibliothek. Harry zog jedes Buch über Drachen aus den Regalen, das er finden konnte, dann nahmen sie sich gemeinsam den großen Bücherstapel vor.
»Krallenschneiden mit Zauberkraft… Behandlung von Schuppenflechte… bringt nichts, das ist eher was für Spinner wie Hagrid, die diese Viecher auch noch aufpäppeln wollen…«
»›Drachen sind äußerst schwer zu erlegen aufgrund der uralten magischen Kräfte, mit denen ihre dicken Häute durchdrungen sind, und nur die mächtigsten Zauberer können sie brechen… ‹ Aber Sirius hat gesagt, ein ganz simpler Zauber würde genügen…«
»Versuchen wir es eben mit einfachen Zauberbüchern«, sagte Harry und pfefferte Männer, die Drachen zu sehr lieben beiseite.
Er kam mit einem Stapel Zauberbücher zum Tisch zurück, legte sie ab und begann eins nach dem anderen durchzublättern. Hermine saß an seinen Ellbogen gedrängt und flüsterte ihm unablässig zu.»Gut, es gibt Verwandlungszauber… aber wozu sind die nütze? Außer du verwandelst seine Fangzähne in Weingummis oder so was, das würde ihn ein wenig kuscheliger machen… das Problem ist nur, wie es in dem anderen Buch stand, es gibt nicht viel, was durch diese Drachenhaut dringt… ich würde sagen, verwandle ihn, aber bei etwas so Großem hast du eigentlich keine Chance, ich glaube, nicht mal Professor McGonagall… oder wie war's, wenn du einen Zauber auf dich selbst anwendest? Um dir zusätzliche Kräfte zu verschaffen? Aber das sind jedenfalls keine einfachen Zauber, und außerdem haben wir sie noch nicht im Unterricht gehabt, ich weiß das zufällig, weil ich schon mal ein paar ZAG-Übungsblätter durchgearbeitet hab…«
»Hermine«, sagte Harry zähneknirschend,»-würdest du bitte für einen Moment den Mund halten? Ich versuch mich zu konzentrieren.«
Doch alles, was passierte, als Hermine verstummte, war, daß in Harrys Kopf ein monotones Summen anhob, das ihm einfach keine Chance ließ, genau nachzudenken. Hoffnungslos starrte er auf das Stichwortverzeichnis von Zaubern für Dummies: da war zum Beispiel Sofortskalpieren… aber Drachen hatten keine Haare… Pfefferatem… das würde die Feuerkraft eines Drachen wahrscheinlich noch steigern… Hornzunge… genau, was er brauchte – dem Biest noch eine Waffe geben…
»O nein, da ist er schon wieder! Warum kann er nicht auf seinem blöden Schiff lesen?«, sagte Hermine gereizt, denn Viktor Krum schlurfte herein, warf ihnen einen verdrießlichen Blick zu und ließ sich mit einem Stapel Bücher hinten in einer Ecke nieder.»Komm, Harry, wir gehen nach oben in den Gemeinschaftsraum… sein Fanclub wird gleich hier sein und sich begeiern…«
Und tatsächlich, als sie die Bibliothek verließen, kam ihnen eine Horde Mädchen auf Zehenspitzen entgegen, von denen eines einen Bulgarien-Schal um die Hüfte geschlungen hatte.
Harry tat in dieser Nacht kaum ein Auge zu. Als er am Montagmorgen erwachte, dachte er zum ersten Mal und ernsthaft daran, einfach abzuhauen. Doch als er beim Frühstück den Blick durch die Große Halle wandern ließ und sich ausmalte, was dies bedeuten würde, wurde ihm klar, daß er das Schloß nicht verlassen konnte. Hogwarts war der einzige Ort, an dem er jemals glücklich gewesen war… natürlich, er mußte wohl auch bei seinen Eltern glücklich gewesen sein, doch daran konnte er sich nicht mehr erinnern.
Trotz allem war es gut, das sichere Gefühl zu haben, viel lieber hier zu sein und sich einem Drachen entgegenzustellen als sich im Ligusterweg mit Dudley herumzuschlagen; dieser Gedanke beruhigte ihn ein wenig. Er aß mit Mühe seinen Schinken auf (mit dem Schlucken hatte er Schwierigkeiten), und als er dann mit Hermine aufstand, sah er Cedric Diggory den Hufflepuff-Tisch verlassen.
Cedric wußte noch nichts von den Drachen… er war der einzige Champion, der keine Ahnung hatte, denn sicher hatten Madame Maxime und Karkaroff es ihren Schützlingen Fleur und Krum gesagt…
»Hermine, wir sehen uns dann im Gewächshaus«, sagte Harry, der Cedric mit den Augen gefolgt war und dann seinen Entschluß gefaßt hatte.»Geh schon mal vor, ich komm dann nach.«
»Harry, du kommst zu spät, es läutet gleich -«
»Ich komm dann nach, okay?«
Harry hatte eben den Fuß der Marmortreppe erreicht, als Cedric schon oben angekommen war. Er war mit seinen Freunden aus der sechsten Klasse unterwegs, vor denen Harry nicht mit ihm reden wollte. Sie gehörten zu den Leuten, die ihm jedes Mal, wenn er in ihre Nähe gekommen war, Rita Kimmkorns Artikel um die Ohren gehauen hatten. Er folgte ihnen in einigem Abstand, bis er feststellte, daß sie zu dem Klassenzimmer gingen, in dem sie Zauberkunst hatten. Das brachte ihn auf eine Idee. Er blieb in einiger Entfernung von ihnen stehen, zog den Zauberstab und zielte sorgfältig.
»Diffindo!«
Cedrics Tasche riß auf, Pergamentblätter, Federn und Bücher fielen zu Boden und ein paar Tintenfässer zerbrachen.
»Ich mach das schon, danke«, sagte Cedric genervt, als seine Freunde sich bückten, um ihm zu helfen.»Geht schon mal vor und sagt Flitwick, daß ich nachkomme…«
Genau darauf hatte Harry gewartet. Er steckte den Zauberstab wieder ein, wartete, bis Cedrics Freunde in ihr Klassenzimmer gegangen waren, und rannte dann den Gang entlang, in dem jetzt außer ihm und Cedric keiner mehr war.
»Hallo«, sagte Cedric und hob sein mit Tinte bespritztes Lehrbuch der Verwandlung für Fortgeschrittene auf.»Meine Tasche ist gerade kaputtgegangen… brandneu, stell dir vor…«
»Cedric«, sagte Harry,»in der ersten Aufgabe kommen Drachen.«
»Wie bitte?«, sagte Cedric und sah auf.
»Drachen«, sagte Harry hastig, denn er befürchtete, Professor Flitwick könnte herauskommen, um nachzusehen, wo Cedric abgeblieben war.»Sie haben vier, für jeden von uns einen, und wir müssen an ihnen vorbeikommen.«
Cedric starrte ihn an. Harry sah ein wenig von jener Furcht, die er selbst seit Samstagnacht spürte, in Cedrics grauen Augen aufflackern.
»Bist du dir ganz sicher?«, fragte Cedric mit gedämpfter Stimme.
»Todsicher«, sagte Harry.»Ich hab sie gesehen.«
»Aber wie hast du das rausgekriegt? Wir dürfen es doch nicht wissen…«
»Ist doch egal«, sagte Harry rasch – Hagrid würde Schwierigkeiten bekommen, wenn er die Wahrheit erzählte.»Aber ich bin nicht der Einzige, der davon weiß. Fleur und Krum werden es inzwischen auch wissen – Maxime und Karkaroff haben die Drachen auch gesehen.«
Cedric richtete sich auf, die Arme voll tintenverschmierter Federn, Pergamentrollen und Bücher, die aufgerissene Tasche baumelte von seiner Schulter. Er starrte Harry an und ein verwirrter, beinahe mißtrauischer Ausdruck trat in seine Augen.
»Warum sagst du mir das?«, fragte er.
Harry sah ihn ungläubig an. Er war sich sicher, daß Cedric nicht gefragt hätte, wenn er die Drachen selbst gesehen hätte. Harry hätte es selbst seinem schlimmsten Feind nicht gegönnt, unvorbereitet diesen Drachen zu begegnen – na ja, vielleicht Malfoy oder Snape…
»Es ist einfach… fair, oder?«, sagte er.»Jetzt wissen wir es alle… wir haben die gleichen Chancen.«
Cedric stand immer noch da und sah ihn mit einer Spur Mißtrauen an, als Harry hinter sich ein vertrautes Pochen hörte. Er wandte sich um und sah Mad-Eye Moody aus einem der umliegenden Klassenzimmer kommen.
»Komm mit, Potter«, knurrte er.»Diggory, du kannst gehen.«
Harry starrte Mad-Eye Moody gespannt an. Hatte er sie zufällig belauscht?
»Ähm – Professor, ich sollte eigentlich in Kräuterkunde -«
»Vergiß das mal, Potter. In mein Büro, bitte…«
Harry folgte ihm voll dunkler Vorahnungen. Was, wenn Moody wissen wollte, wie er von den Drachen erfahren hatte? Würde Moody zu Dumbledore gehen und Hagrid auffliegen lassen, oder würde er Harry nur in ein Frettchen verwandeln? Es wäre vielleicht einfacher, an einem Drachen vorbeizukommen, wenn er ein Frettchen war, überlegte Harry dumpf, er war dann kleiner und aus einer Höhe von fünfzehn Metern viel schwerer zu erkennen…
Er folgte Moody ins Büro. Moody schloß die Tür hinter ihnen und wandte sich dann Harry zu, das magische Auge und auch das normale scharf auf ihn gerichtet.
»Was du da gerade getan hast, war sehr anständig von dir, Potter«, sagte Moody leise.
Harry wußte nicht, was er sagen sollte; er hatte alles erwartet, nur das nicht.
»Setz dich«, sagte Moody, Harry setzte sich und sah sich um.
In diesem Büro hatte er schon die zwei Vorgänger Moodys erlebt. In Professor Lockharts Tagen waren die Wände mit strahlenden, zwinkernden Bildern von Professor Lockhart persönlich gepflastert gewesen. Zu Zeiten Lupins war man hier eher auf ein neues Exemplar eines faszinierendenschwarzen Geschöpfes gestoßen, das er für sie beschafft hatte, damit sie es im Unterricht untersuchen konnten. Nun jedoch war das Büro voll gestopft mit einer Reihe äußerst merkwürdiger Gegenstände, die Moody, wie Harry vermutete, in seiner Zeit als Auror benutzt haben mußte.
Auf dem Schreibtisch stand etwas, das wie ein kaputter großer gläserner Kreisel aussah; Harry erkannte sofort, daß es ein Spickoskop war, weil er selbst eins besaß, wenn auch ein viel kleineres. Auf einem Tisch in der Ecke stand etwas, das aussah wie eine extra verschnörkelte goldene Zimmerantenne. Das Ding summte leise. An der Wand gegenüber von Harry hing eine Art Spiegel, doch er spiegelte nichts. Schattenhafte Gestalten bewegten sich darin, keine davon war klar zu sehen.
»Gefallen dir meine Antiobskuranten?«, sagte Moody und beobachtete Harry scharf.
»Was ist das denn?«, fragte Harry und deutete auf die verschnörkelte Fernsehantenne.
»Geheimnis-Detektor. Vibriert, wenn er Heimlichkeiten und Lügen entdeckt… hier ist er natürlich nutzlos, zu starke Überlagerungen, überall im Schloß erzählen sie ständig Lügenmärchen, warum sie ihre Hausaufgaben nicht geschafft haben. Das Ding summt ununterbrochen, seit ich hier bin. Und mein Spickoskop mußte ich abstellen, weil es einfach nicht aufhören wollte zu pfeifen. Es ist hyperempfindlich und kriegt alles mit, was in einer Meile Umkreis passiert. Natürlich könnte es auch mehr als Kinderkram aufspüren«, fügte er knurrig hinzu.
»Und wozu ist der Spiegel?«
»Das ist mein Feindglas. Siehst du sie da draußen miesepetrig rumhängen? Ich bin erst wirklich in Schwierigkeiten, wenn ich das Weiße in ihren Augen sehe. Dann öffne ich meinen Koffer.«
Er lachte kurz und knirschend, dann deutete er auf einen großen Koffer unter dem Fenster. Er hatte sieben Schlüssellöcher in einer Reihe. Harry überlegte, was wohl drin sein könnte, bis ihn Moodys nächste Frage plötzlich aus seinen Gedanken riß.»Soso… hast also die Sache mit den Drachen rausgefunden?«
Harry zögerte. Genau davor hatte er sich gefürchtet – doch er hatte Cedric nicht gesagt und würde es bestimmt auch Moody nicht verraten, daß Hagrid die Regeln gebrochen hatte.
»Ist schon gut«, sagte Moody, setzte sich und streckte grunzend sein Holzbein aus.»Schummeln ist beim Trimagischen Turnier alte Tradition.«
»Ich hab nicht geschummelt«, sagte Harry scharf.»Es war – so was wie ein Zufall, daß ich es erfahren habe.«
Moody grinste.»Ich hab dir keinen Vorwurf gemacht, Junge. Ich hab Dumbledore von Anfang an gesagt, er könne von mir aus noch so edel gesinnt sein, aber der alte Karkaroff und Maxime würden sicher mit gezinkten Karten spielen. Die werden ihren Champions inzwischen alles gesagt haben, was sie wissen. Die wollen gewinnen. Sie wollen Dumbledore schlagen. Sie möchten beweisen, daß er auch nur ein Mensch ist.«
Moody lachte knirschend und sein magisches Auge schwamm so schnell umher, daß Harry vom Zusehen fast schwindelig wurde.
»Also… hast du schon irgendeine Idee, wie du um deinen Drachen herumkommen kannst?«, fragte Moody.
»Nein«, sagte Harry.
»Nun denn, ich werd's dir sagen«, brummte Moody.»Ich will ja niemanden begünstigen. Ich geb dir nur ein paar gute, allgemeine Ratschläge. Und der erste ist: Setz auf deine Stärken.«
»Ich hab keine«, platzte es aus Harry heraus, bevor er richtig überlegt hatte.
»Entschuldige mal«, knurrte Moody,»wenn ich sage, du hast Stärken, dann hast du auch welche. Denk nach. Worin bist du am besten?«
Harry versuchte seine Gedanken zu sammeln. Ja, worin war er am besten? Nun, das war im Grunde einfach -
»Quidditch«, flüsterte er dumpf,»aber das hilft mir ja auch n…«
»Stimmt«, sagte Moody und sah ihn mit seinem magischen Auge, das er kaum bewegte, durchdringend an.»Du bist ein verdammt guter Flieger, wie ich höre.«
»Jaah, aber…«, Harry starrte ihn an.»Ich darf keinen Besen benutzen, ich hab nur meinen Zauberstab -«
»Mein zweiter allgemeiner Ratschlag«, unterbrach ihn Moody mit erhobener Stimme,»verwende einen schlichten kleinen Zauber, mit dem du bekommst, was du brauchst.«
Harry sah ihn mit großen Augen an. Was meinte er damit?
»Komm schon, Junge…«, flüsterte Moody.»Zähl zwei und zwei zusammen… so schwierig ist es nicht…«
Und der Groschen fiel. Am besten war er im Fliegen. Er mußte in der Luft an dem Drachen vorbeikommen. Dafür brauchte er seinen Feuerblitz. Und für seinen Feuerblitz brauchte er -
»Hermine«, flüsterte Harry, nachdem er drei Minuten später ins Gewächshaus gestürmt war und Professor Sprout im Vorbeigehen rasch eine Entschuldigung zugemurmelt hatte.»Hermine, ich brauche deine Hilfe.«
»Was glaubst du eigentlich, worüber ich die ganze Zeit nachdenke?«, flüsterte sie mit großen, sorgenvollen Augen über den zitternden Ginsterbusch hinweg, den sie gerade beschnitt.
»Hermine, ich muß den Aufrufezauber richtig beherrschen, und zwar bis morgen Nachmittag.«
Also übten sie. Sie gingen nicht zum Mittagessen, sondern in ein freies Klassenzimmer, wo Harry mühsam versuchte, verschiedene Gegenstände durch den Raum auf sich zufliegen zu lassen. Noch immer hatte er damit Schwierigkeiten. Jedes Mal verloren die Bücher und Federkiele auf halbem Weg die Lust und fielen wie Steine zu Boden.
»Konzentrier dich, Harry, konzentrier dich…«
»Was glaubst du eigentlich, was ich hier mache?«, sagte Harry zornig.»Mir schwirrt ständig ein ätzender Riesendrache im Kopf rum, ich weiß auch nicht, wieso… gut, noch mal…«
Er wollte Wahrsagen schwänzen, um weiterzuüben, doch Hermine weigerte sich strikt, Arithmantik sausen zu lassen, und ohne Hermine hatte es keinen Sinn. So mußte er über eine Stunde lang Professor Trelawney über sich ergehen lassen, die die meiste Zeit damit verbrachte, ihnen zu erklären, daß die gegenwärtige Position des Mars in Konstellation zu der des Saturn zur Folge habe, daß im Juli geborene Menschen in großer Gefahr seien, eines plötzlichen und gewaltsamen Todes zu sterben.
»Schön, warum nicht«, rief Harry, dem der Geduldsfaden riß,»wenigstens zieht es sich dann nicht so ewig hin, ich will nicht lange leiden.«
Ron sah einen Moment lang aus, als wolle er lachen; es war sicher das erste Mal seit Tagen, daß er Harry in die Augen sah, doch Harry war immer noch so sauer auf ihn, daß es ihn nicht rührte. Während der restlichen Stunde versuchte er mit dem Zauberstab unter dem Tisch kleine Gegenstände zu sich heranzuziehen. Er schaffte es auch tatsächlich, eine Fliege direkt in seine Hand summen zu lassen, doch er war sich nicht ganz sicher, ob das seiner Stärke im Aufrufezaubern zu verdanken war – oder ob die Fliege einfach nur dumm war.
Nach Wahrsagen würgte er ein wenig vom Mittagessen hinunter, dann warf er sich und Hermine den Tarnurnhang über, damit sie vor den Blicken der Lehrer sicher waren, und sie kehrten in das leere Klassenzimmer zurück. Bis nach Mitternacht übten sie weiter und wären sogar noch länger geblieben, wenn Peeves nicht aufgetaucht wäre. Peeves verstand Harry absichtlich falsch, nämlich so, als wolle Harry nichts lieber als mit Gegenständen beworfen zu werden, und so machte er sich einen Spaß daraus, Stühle durchs Zimmer zu schleudern. Harry und Hermine ergriffen die Flucht, bevor der Lärm Filch auf den Plan rief, und liefen zurück in den Gemeinschaftsraum, der nun glücklicherweise leer war.
Um zwei Uhr morgens stand Harry am Kamin, inmitten eines Haufens von Büchern, Federn, umgestürzten Stühlen, einem alten Koboldsteinspiel und Nevilles Kröte Trevor. Erst in der letzten Stunde hatte er den Dreh rausgekriegt.
»Schon besser, Harry, das wird schon«, sagte Hermine erschöpft, aber zufrieden.
»Tja, jetzt wissen wir, was du das nächste Mal tun mußt, wenn ich einen Zauber nicht beherrsche«, sagte Harry und warf Hermine ein Runenwörterbuch zu, um den Aufrufezauber ein letztes Mal zu proben.»Du setzt mir einen Drachen vor die Nase. Fertig…«Noch einmal hob er den Zauberstab:»Accio Wörterbuch!«
Der schwere Wälzer flog aus Hermines Hand, flatterte durchs Zimmer und landete in Harrys Armen.
»Harry, ich glaube, du hast es raus!«, sagte Hermine erleichtert.
»Morgen jedenfalls muß es klappen«, sagte Harry.»Der Feuerblitz ist dann viel weiter weg als die Sachen hier, nämlich im Schloß, und ich bin draußen auf dem Gelände.«
»Das spielt keine Rolle«, sagte Hermine zuversichtlich.»Wenn du dich wirklich ganz fest darauf konzentrierst, dann kommt er. Wir gehen jetzt lieber noch ein wenig schlafen… du wirst es brauchen.«
Harry hatte an diesem Abend so angestrengt versucht, den Aufrufezauber zu lernen, daß seine blinde Panik ein wenig nachgelassen hatte. Am nächsten Morgen überkam sie ihn jedoch wieder mit ganzer Wucht. In der Schule herrschte eine sehr gespannte und aufgeregte Atmosphäre. Der Unterricht sollte um die Mittagszeit enden, damit alle Schüler die Möglichkeit hatten, hinunter zum Drachengehege zu gehen – doch wußten sie natürlich noch nicht, was sie dort erwartete.
Harry fühlte sich merkwürdig fern von allen Menschen um ihn herum, ob sie ihm nun viel Glück wünschten oder ihm im Vorbeigehen nur zuzischten:»Wir bringen dir dann 'ne Packung Taschentücher, Potter.«Seine Nervosität hatte sich so breit gemacht, daß er fürchtete, schlicht und einfach den Kopf zu verlieren, wenn sie ihn zum Drachen hinausführen wollten und er dann auch noch versuchen würde, alles in seiner Umgebung zu verhexen.
Die Zeit verging auf ganz eigenartige Weise. Große Klumpen auf einmal brachen von ihr ab; im einen Moment ließ er sich zur ersten Stunde, Geschichte der Magie, nieder, und im nächsten schon zum Mittagessen… und dann (wo war der Morgen geblieben? Die letzten drachenfreien Stunden?) kam Professor McGonagall in der Großen Halle zu ihm herübergeeilt.
»Potter, die Champions müssen jetzt hinaus aufs Gelände. Sie müssen sich für die erste Aufgabe bereitmachen.«
»Gut«, sagte Harry und stand auf. Seine Gabel fiel klirrend auf den Teller.
»Viel Glück, Harry«, flüsterte Hermine.»Du schaffst es schon!«
»Ja«, sagte Harry mit einer Stimme, die er von sich gar nicht kannte.
Er ging mit Professor McGonagall hinaus. Auch sie schien nicht mehr sie selbst zu sein; tatsächlich sah sie fast so besorgt aus wie Hermine. Sie ging mit ihm die Steintreppe hinunter, hinaus in den kalten Novembernachmittag, und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Nur jetzt nicht die Nerven verlieren«, sagte sie,»einfach kühlen Kopf bewahren… wir haben Zauberer, die bereitstehen und eingreifen, wenn die Sache außer Kontrolle gerät… Hauptsache, Sie geben Ihr Bestes, dann wird keiner schlecht von Ihnen denken… alles in Ordnung?«
»Ja«, hörte sich Harry sagen.»Mir geht's gut.«
Sie führte ihn am Waldrand entlang auf das Drachengehege zu, doch als sie die dichte Baumgruppe erreichten, von der aus er die Drachen gesehen hatte, stellte Harry fest, daß nun ein Zelt, das zu ihrer Seite hin geöffnet war, die Sicht versperrte.
»Dort müssen Sie mit den anderen Champions rein«, sagte Professor McGonagall mit recht zittriger Stimme,»und warten, bis Sie dran sind, Potter. Mr Bagman erwartet Sie… er wird das… das Verfahren erklären… viel Glück.«
»Danke«, sagte Harry mit tonloser, weit entfernter Stimme. Sie verließ ihn am Zelteingang und Harry trat ein.
Auf einem Holzschemel in der Ecke saß Fleur Delacour. Sie wirkte nicht annähernd so gefaßt wie sonst, eher bleich und eingeschüchtert. Viktor Krum blickte noch miesepetriger drein als sonst, und Harry überlegte, ob dies seine Artwar, Nerven zu zeigen. Cedric schritt im Zelt auf und ab und lächelte ihm kurz zu, und als Harry zurücklächelte, spürte er, daß sich seine Gesichtsmuskeln arg anstrengen mußten, ganz als ob sie vergessen hätten, wie Lächeln ging.
»Harry! Ach schön!«, sagte Bagman vergnügt und wandte sich ihm zu.»Komm rein, komm rein und fühl dich wie zu Hause.«
Bagman sah unter all den blaßgesichtigen Champions fast aus wie eine etwas zu knallig geratene Comicfigur. Heute trug er wieder seinen alten Wespenumhang.
»Schön, jetzt, da wir alle hier sind, ist es Zeit, euch aufzuklären!«, strahlte Bagman.»Wenn sich alle Zuschauer eingefunden haben, werde ich euch der Reihe nach diesen Beutel reichen«, er hielt ein kleines, purpurnes Seidensäckchen hoch und schüttelte es,»aus dem ihr jeweils ein kleines Modell dessen, mit dem ihr es zu tun bekommt, herauszieht. Es gibt verschiedene – ähm – Arten, versteht ihr. Und ich muß euch auch noch etwas anderes sagen… hmh, ja… eure Aufgabe ist es, das goldene Ei zu holen!«
Harry sah sich um. Cedric hatte kurz genickt, um zu zeigen, daß er Bagmans Worte verstanden hatte, und ging jetzt wieder im Zelt auf und ab; er schien ein wenig grün angelaufen zu sein. Fleur Delacour und Krum hatten überhaupt nicht reagiert. Vielleicht fürchteten sie, sich übergeben zu müssen, wenn sie den Mund aufmachten; so jedenfalls fühlte sich Harry. Doch sie hatten sich wenigstens freiwillig für dieses Turnier gemeldet…
Nur wenige Minuten waren vergangen, als sie auch schon Hunderte und Aberhunderte von Füßen am Zelt vorbeitrampeln hörten, mit ihren aufgeregt redenden, lachenden, Witze reißenden Besitzern… Harry fühlte sich der Menge so fremd, als würde es sich dabei um eine andere Gattung von Lebewesen handeln. Und dann – Harry kam es vor, als ob nur eine Sekunde vergangen wäre – öffnete Bagman den Bund seines purpurnen Seidensäckchens.
»Ladies first«, sagte er und hielt das Säckchen Fleur Delacour hin.
Sie steckte ihre zitternde Hand hinein und zog ein winziges, aber tadelloses Modell eines Drachen heraus – des Walisischen Grünlings. Er trug die Nummer»2«um den Hals. Und da Fleur nicht die Spur überrascht schien, wußte Harry nun, daß er Recht gehabt hatte: Madame Maxime hatte ihr erzählt, was kommen würde.
Dasselbe galt für Krum. Er zog den scharlachroten Chinesischen Feuerball. Der kleine Drache trug die Nummer»3«um den Hals. Krum zuckte nicht einmal mit der Wimper und starrte weiter stur zu Boden.
Cedric steckte die Hand in das Säckchen und zog den blaugrauen Schwedischen Kurzschnäuzler heraus, der die»l«um den Hals trug. Harry wußte, welcher noch übrig war, steckte die Hand in den Seidenbeutel und zog den Ungarischen Hornschwanz, die Nummer»4«, heraus. Er spannte die Flügel, als Harry ihn betrachtete, und zeigte seine winzigen Fangzähne.
»Schön, das war's!«, sagte Bagman.»Mit den Drachen, die ihr gezogen habt, bekommt ihr es jetzt zu tun, und die Nummern geben an, in welcher Reihenfolge ihr antretet. Alles klar? Gut. Ich muß euch gleich allein lassen, weil ich das Turnier kommentieren werde. Mr Diggory, Sie sind als Erster dran, wenn Sie eine Pfeife hören, gehen Sie einfach hinaus ins Gehege, verstanden? Ach… Harry… könnte ich kurz mit dir sprechen? Draußen?«
»Ähm… ja«, sagte Harry tonlos, stand auf und ging mit Bagman aus dem Zelt, der ihn einige Schritte fort bis unter die Bäume führte und ihn dann mit väterlicher Miene ansah.
»Fühlst du dich wohl, Harry? Kann ich dir irgendwas besorgen?«
»Was?«, sagte Harry.»Ich – nein, nichts.«
»Hast du einen Plan?«, sagte Bagman und senkte verschwörerisch die Stimme.»Mir macht es nämlich nichts aus, dir ein paar Tips zu geben, nur wenn du willst, versteht sich.«Dann fuhr er mit noch leiserer Stimme fort:»Hör mal, du bist der Außenseiter hier, Harry… wenn ich dir irgendwie helfen kann…«
»Nein«, sagte Harry rasch, und er wußte genau, daß er unhöflich klang,»nein – ich – ich hab schon entschieden, was ich tun will, danke.«
»Niemand würde es erfahren, Harry«, sagte Bagman augenzwinkernd.
»Nein, mir geht's gut«, sagte Harry und fragte sich gleichzeitig, warum er den Leuten das ständig erzählte und ob er sich jemals schlechter gefühlt hatte.»Ich hab mir einen Plan gemacht, ich -«
Von irgendwoher kam ein Pfiff.
»Meine Güte, ich muß mich beeilen!«, sagte Bagman erschrocken und rannte davon.
Harry ging zum Zelt zurück und sah, wie Cedric, inzwischen noch grüner im Gesicht, herauskam. Harry wollte ihm im Vorbeigehen Glück wünschen, doch alles, was aus seinem Mund kam, war ein heiseres Gurgeln.
Harry ging hinein zu Fleur und Krum. Sekunden später hörten sie den Aufschrei der Menge. Cedric hatte also das Gehege betreten und stand nun dem lebendigen Vorbild seines Modells von Angesicht zu Angesicht gegenüber… Nur dazusitzen und zu lauschen war schlimmer, als Harry es sich je hätte vorstellen können. Die Menge kreischte… schrie… stöhnte wie ein einziges vielköpfiges Wesen, während Cedric was auch immer unternahm, um an dem Schwedischen Kurzschnäuzler vorbeizukommen. Krum stierte immer noch zu Boden. Fleur tat es nun Cedric gleich und schritt unablässig im Kreis durch das Zelt. Und Bagmans Kommentar machte alles noch viel, viel schlimmer… furchtbare Bilder nahmen in Harrys Kopf Gestalt an, während er lauschte:»Oooh, da hat er ihn knapp verfehlt, ganz knapp… Er geht ja volles Risiko, der Junge!… clevere Finte – schade, daß es nichts genutzt hat!«
Und dann, nach ungefähr fünfzehn Minuten, hörte Harry das ohrenbetäubende Brüllen, das nur eines bedeuten konnte: Cedric war an seinem Drachen vorbeigekommen und hatte das goldene Ei geholt.
»Wirklich sehr gut!«, rief Bagman.»Und nun die Noten der Jury!«
Doch er las die Noten nicht laut vor; Harry vermutete, daß die Richter sie für das Publikum hochhielten.
»Einer ist durch, drei haben wir noch!«, rief Bagman, und wieder gellte der Pfiff.»Miss Delacour, bitte!«
Fleur zitterte am ganzen Leib, und als sie mit erhobenem Kopf, den Zauberstab fest umklammert, aus dem Zelt ging, spürte Harry sogar ein wenig mehr Herzlichkeit für sie als bisher. Er und Krum saßen sich jetzt allein gegenüber und vermieden es sorgfältig, sich in die Augen zu schauen.
Die ganze Geschichte ging von vorn los…»Oh, ich bin mir nicht sicher, ob das klug war!«, konnten sie Bagman schadenfroh rufen hören.»Oh… beinahe! Jetzt aber Vorsicht… du meine Güte, ich dachte schon, sie wäre erledigt!«
Zehn Minuten später hörte Harry, wie die Menge erneut in Beifall ausbrach. Auch Fleur mußte es geschafft haben. Eine Pause, während deren Fleurs Noten gezeigt wurden… noch mehr Beifall… und dann, zum dritten Mal, der Pfiff.
»Und hier kommt Mr Krum!«, rief Bagman. Krum schlurfte hinaus und ließ Harry allein zurück.
Er spürte jetzt seinen Körper viel stärker als sonst; er war sich deutlich bewußt, daß sein Herz rasend pochte und seine Finger vor Angst zitterten… doch zugleich schien er außerhalb seiner selbst zu stehen, die Wände des Zeltes zu sehen und die Menge zu hören, wie aus ganz, ganz weiter Ferne…
»Sehr gewagt!«, rief Bagman, und Harry hörte, wie der Chinesische Feuerball einen grauenhaften, kreischenden Schrei ausstieß und die Menge auf einen Schlag den Atem anhielt.»Er hat ganz schön Nerven, muß man sagen – und – ja, er hat das Ei!«
Beifall durchzitterte die kalte Luft wie das Geräusch zerbrechenden Glases; Krum hatte es geschafft – jeden Augenblick war Harry selbst dran.
Er stand auf und nahm verschwommen wahr, daß seine Beine aus Gummi zu bestehen schienen. Er wartete. Und dann hörte er den Pfiff. Als er hinausging, überschwemmte ihn die Panik wie eine eiskalte Welle. Er ging an den Bäumen vorbei und durch eine Öffnung in der Umfriedung.
Er sah alles vor sich wie in einem grellbunten Traum. Viele hundert Gesichter sahen von den Tribünen, die sie inzwischen herbeigezaubert hatten, auf ihn herab. Und da war das Hornschwanz-Weibchen, am anderen Ende der Koppel, gedrungen über ihrem Gelege kauernd, die Flügel halb eingezogen, die bösartigen gelben Augen auf ihn gerichtet -eine monströse, schuppige schwarze Echse, die mit ihrem dornenbesetzten Schwanz auf den Boden peitschte und meterlange Furchen in die Erde schlug. Die Zuschauer machten einigen Lärm, doch ob sie ihn anfeuerten oder ausbuhten, es war Harry nun gleich. Jetzt war es an der Zeit zu tun, was er tun mußte… ausschließlich und mit aller Kraft an das zu denken, was seine einzige Chance war… Er hob den Zauberstab.
»Accio Feuerblitz!«, rief er.
Er wartete, und jede Faser seines Körpers hoffte, flehte… vielleicht war es mißlungen… vielleicht kam er nicht… er sah alles wie durch eine schimmernde, durchsichtige Mauer, durch einen Hitzeschleier, der das Gehege und die Hunderte von Gesichtern um ihn her merkwürdig verschwimmen ließ…
Und dann hörte er ihn. Hinter ihm rauschte er durch die Luft. Harry drehte sich um und sah den Feuerblitz am Waldrand entlang auf ihn zuschwirren, er schoß in das Gehege und kam in Hüfthöhe neben ihm zum Halt, bereit, von Harry bestiegen zu werden. Die Menge tobte jetzt… Bag-man rief irgend etwas… doch es erreichte Harrys Ohren nicht… Zuhören war unwichtig…
Er schwang ein Bein über den Besen und stieß sich vom Boden ab. Und eine Sekunde später geschah etwas Wundersames…
Als er in die Höhe schoß, als der Wind durch sein Haar blies und die Gesichter der Menge zu bloßen fleischfarbenen Stecknadelköpfen wurden und der Hornschwanz auf die Größe eines Hundes schrumpfte, da wurde ihm klar, daß er nicht nur den Erdboden hinter sich gelassen hatte, sondern auch seine Angst… er war wieder da, wo er hingehörte…
Dies hier war nur ein Quidditch-Spiel, ganz einfach… nur noch ein Quidditch-Spiel, und der Hornschwanz war nichts weiter als eine dieser gemeinen gegnerischen Mannschaften…
Er spähte hinunter auf das Gelege und sah das goldene Ei, das sich schimmernd von den zementfarbenen Eiern abhob, geborgen zwischen den Vorderbeinen des Drachen.»Gut«, sagte sich Harry,»Ablenkungstaktik… los geht's…«
Er schoß senkrecht Richtung Erde. Der Kopf des Hornschwanzes folgte ihm; er wußte, was der Drache tun würde, und riß sich im letzten Augenblick aus dem Sturzflug; ein Feuerstoß hatte die Luft verbrannt, genau dort, wo er gewesen wäre… doch Harry war es gleich… das war nichts anderes als einem Klatscher auszuweichen…
»Meine Güte, der kann fliegen!«, rief Bagman durch das Kreischen und Seufzen der Menge.»Sehen Sie das, Mr Krum?«
Harry zog sich wie auf einer weiten Spirale nach oben; der Hornschwanz folgte ihm mit den Augen, sein Kopf rotierte auf dem langen Hals – wenn er das durchhielt, würde es dem Drachen ganz schön schwindelig werden -, doch sollte er es besser nicht zu weit treiben, sonst würde das Biest wieder Feuer speien.
Harry stürzte sich genau in dem Moment in die Tiefe, als der Hornschwanz das Maul aufriß, doch diesmal hatte er weniger Glück – er entging zwar den Flammen, doch der Schwanz peitschte nach ihm, und als er seitlich ausbrach, streifte ein langer Dorn seine Schulter und zerfetzte seinen Umhang.
Er spürte einen stechenden Schmerz, er hörte die Schreie und das Stöhnen der Menge, doch der Riß schien nicht besonders tief zu sein… er schwirrte über dem Rücken des Hornschwanzes herum, und da fiel ihm etwas ein…
Der Hornschwanz schien offenbar nicht fliegen zu wollen, das Drachenweibchen sorgte sich zu sehr um seine Brut. Es zuckte zwar und wand sich, spannte die Flügel und rollte sie wieder ein und verfolgte Harry unablässig mit den Furcht erregenden gelben Augen, doch hatte es Angst, sich zu weit von seinen Eiern zu entfernen… aber genau dazu mußte er den Drachen unbedingt bringen, oder er würde nie an das Gelege herankommen… der Witz war, es ganz vorsichtig, ganz allmählich zu tun…
Er flog vor dem Kopf des Drachen hin und her, weit genug entfernt, damit er kein Feuer spie, um ihn zu verjagen, doch immer noch als dräuende Gefahr, die er nicht aus den Augen lassen durfte. Den Kopf hin- und herschwenkend verfolgte er ihn mit den Augen, beobachtete ihn aus seinen senkrechten Pupillen, die Fangzähne gebleckt…
Er stieg höher. Der Drache reckte den Hals, bis es nicht mehr ging, und noch immer schwenkte er den Kopf hin und her wie eine Schlange vor ihrem Beschwörer…
Harry stieg noch ein paar Meter höher, und der Drache brüllte wütend auf. Für ihn war er wie eine Fliege, eine Fliege, die er in rasendem Zorn totklatschen wollte; wieder schlug er mit dem Schwanz aus, doch jetzt konnte er ihn nicht mehr erreichen… er spie einen Feuerball nach Harry, doch Harry wich ihm aus… das Maul öffnete sich weit…
»Komm schon«, zischte Harry und drehte Kreise über dem Drachenkopf, um ihn noch weiter zu reizen,»komm nur, schnapp mich doch… steh auf, mach schon…«
Und dann bäumte sich der Drache auf, spannte endlich seine großen schwarzen ledrigen Flügel, lang wie die eines kleinen Flugzeugs – und Harry stürzte sich hinab. Bevor der Drache wußte, was Harry getan hatte oder wohin er verschwunden war, raste Harry, so schnell er konnte, auf die Erde und auf die Eier zu, die jetzt nicht mehr von den klauenbesetzten Pranken beschützt waren – er nahm die Hände vom Feuerblitz – und packte das goldene Ei -
Und mit einem gewaltigen Spurt floh er, raste über die Tribünen hinweg, das schwere Ei sicher unter den unverletzten Arm geklemmt. Und in diesem Augenblick schien jemand die Lautstärke hoch gedreht zu haben – zum ersten Mal wurde ihm klar bewußt, welchen Lärm die Zuschauer machten, die so laut wie die irischen Anhänger bei der Weltmeisterschaft schrien und klatschten -
»Schaut euch das an!«, rief Bagman.»Da schaut euch das mal an! Unser jüngster Champion hat sein Ei am schnellsten geholt! Damit stehen die Chancen für Mr Potter nun ganz anders!«
Harry sah die Drachenwärter herbeilaufen, um den Hornschwanz zu beruhigen, und drüben, am Eingang des Geheges, fanden sich eilends Professor McGonagall, Professor Moody und Hagrid ein, um ihn zu empfangen; alle winkten ihm zu, und schon von weitem sah er sie lächeln. Er flog über die Tribünen hinweg zurück, das Toben der Menge pochte in seinen Ohren, und er landete weich auf der Erde. Seit Wochen war ihm nicht mehr so leicht ums Herz gewesen… er hatte die erste Aufgabe geschafft, er hatte überlebt…
»Das war wirklich eine Glanzleistung, Potter!«, rief Professor McGonagall, als er von seinem Feuerblitz stieg – und aus ihrem Munde war dies ein wahrhaft unerhörtes Lob. Er sah, daß ihre Hand zitterte, als sie auf seine Schulter deutete.»Sie müssen erst einmal zu Madam Pomfrey, bevor die Richter Ihre Punktzahl bekannt geben… dort drüben, sie mußte auch schon Diggory zusammenflicken…«
»Du hast's gepackt, Harry!«, sagte Hagrid heiser.»Du hast es gepackt! Und sogar gegen das Hornschwanz-Weibchen. Charlie meinte, die sei die Schlimmste -«
»Danke, Hagrid«, sagte Harry laut, damit Hagrid nicht weiterplapperte und verriet, daß er ihm die Drachen zuvor gezeigt hatte.
Auch Professor Moody sah sehr zufrieden aus; das magische Auge tanzte in seiner Höhle.
»Schlicht und einfach, das war der Trick dabei, Potter«, knurrte er.
»Nun aber los, Potter, zum Erste-Hilfe-Zelt, wenn ich bitten darf…«, sagte Professor McGonagall.
Immer noch keuchend verließ Harry das Gehege und sah jetzt Madam Pomfrey, die mit besorgtem Blick am Eingang des zweiten Zeltes stand.
»Drachen!«, sagte sie angewidert und zog Harry ins Zelt. Es war in kleine Räume abgeteilt; er konnte Cedrics Schatten an der Stoffwand sehen, doch er schien nicht schwer verletzt; zumindest saß er aufrecht. Madam Pomfrey untersuchte Harrys Schulter und ließ ihrem Ärger freien Lauf.»Letztes Jahr Dementoren, dieses Jahr Drachen, was werden sie nächstes Jahr in diese Schule schleppen? Da hast du noch mal Glück gehabt… die Wunde ist nicht tief… aber bevor ich sie verheilen lasse, muß ich sie reinigen…«
Sie säuberte den Riß mit einem Tropfen purpurroter Flüssigkeit, die rauchte und auf der Haut brannte, doch dann gab sie ihm mit dem Zauberstab einen Klaps auf die Schulter, und er spürte, wie die Wunde in Sekundenschnelle heilte.
»Schön, und jetzt bleib eine Minute ruhig sitzen – bleib sitzen! Dann kannst du gehen und dir deine Punkte abholen.«
Sie wackelte hinaus und er hörte, wie sie nebenan sagte:»Wie geht's uns jetzt, Diggory?«
Harry wollte nicht ruhig sitzen bleiben; noch rauschte es zu sehr in seinen Adern. Er stand auf, um nachzusehen, was draußen los war, doch bevor er den Zelteingang erreicht hatte, waren zwei von draußen hereingestürzt – Hermine, dicht gefolgt von Ron.
»Harry, du warst einfach klasse!«, jubilierte Hermine. Dort, wo sie sich vor Angst die Finger ins Gesicht gekrallt hatte, waren die Spuren ihrer Fingernägel zu sehen.»Du warst einfach unglaublich! Wirklich unglaublich!«
Doch Harrys Blick galt Ron, der ganz weiß im Gesicht war und Harry anstarrte, als wäre er ein Gespenst.
»Harry«, sagte er ernst,»wer immer deinen Namen in diesen Kelch geworfen hat – ich – ich wette, die wollten dich erledigen!«
Es war, als ob die letzten Wochen nie gewesen wären – als ob Harry Ron zum ersten Mal sehen würde, nachdem er Champion geworden war.
»Hast es kapiert, oder?«, sagte Harry kühl.»Hast ja lange genug gebraucht.«
Hermine stand zwischen den beiden und blickte ganz hibbelig von einem zum anderen. Ron, unsicher geworden, öffnete den Mund. Harry wußte, daß er sich entschuldigen wollte, und plötzlich hatte er das Gefühl, er müsse es gar nicht hören.
»Ist schon gut«, sagte er, bevor Ron ein Wort herausbrachte.»Vergiß es.«
»Nein«, sagte Ron,»ich hätte nicht -«
»Vergiß es«, sagte Harry.
Ron grinste ihn nervös an und Harry grinste zurück.
Hermine brach in Tränen aus.
»Da gibt's doch nichts zu weinen«, sagte Harry verwirrt.
»Ihr beiden seid so doof!«, schrie sie und stampfte mit dem Fuß auf. Tränen fielen auf ihren Umhang. Dann, bevor einer von ihnen sie daran hindern konnte, umarmte sie beide und rauschte, nun erst richtig heulend, davon.
»Vollkommen übergeschnappt«, sagte Ron kopfschüttelnd.»Harry, komm mit, gleich gibt es deine Punkte…«
Harry, der es vor einer Stunde noch nicht für möglich gehalten hätte, daß er jetzt vor Glück schwebte, nahm das goldene Ei und den Feuerblitz und schlüpfte mit Ron, der wie ein Wasserfall redete, aus dem Zelt.
»Du warst übrigens der Beste, und zwar konkurrenzlos. Cedric hat ein merkwürdiges Ding gedreht und einen Felsbrocken auf dem Boden verwandelt… und zwar in einen Hund… damit der Drache auf den Hund statt auf ihn losging. Na ja, als Verwandlungsstück war das ziemlich cool, und es hat auch irgendwie geklappt, weil er das Ei gekriegt hat, aber verbrannt hat er sich auch – der Drache hat es sich nämlich zwischendurch anders überlegt und wollte lieber Cedric als den Labrador grillen, er ist gerade noch entkommen. Und diese Fleur hat es mit einem Zauber versucht, ich glaub, sie wollte ihn in Trance versetzen – schön, das hat auch geklappt, er ist ganz schläfrig geworden, aber dann hat er angefangen zu schnarchen und eine große Stichflamme ist ihm aus der Schnauze geschossen und ihr Rock hat Feuer gefangen – sie hat ihn mit Wasser aus ihrem Zauberstab gelöscht. Und Krum – du wirst es nicht glauben, aber er ist nicht mal auf die Idee gekommen zu fliegen! Trotzdem war er nach dir sicher der Zweitbeste. Er hat ihm einen Fluch mitten ins Auge geschossen. Pech war nur, daß der Drache vor Schmerz anfing herumzutrampeln und die Hälfte der echten Eier zerquetscht hat – dafür haben sie ihm Punkte abgezogen, denn sie durften ja nicht beschädigt werden.«
Sie erreichten den Rand des Geheges und Ron legte eine kleine Pause ein. Nun, da sie den Hornschwanz fortgebracht hatten, konnte Harry sehen, wo die fünf Richter saßen – gegenüber auf der anderen Seite, auf einem Podium mit goldbespannten Stühlen.
»Jeder kann höchstens zehn Punkte vergeben«, sagte Ron, und Harry spähte über das Feld und sah den ersten Richter – Madame Maxime – den Zauberstab heben. Ein langer Silberfaden flog aus der Spitze hervor und verschlängelte sich zu einer großen Acht.
»Nicht schlecht!«, rief Ron, und das Publikum klatschte.»Ich vermute, sie hat dir wegen deiner Schulter Punkte abgezogen.«
Mr Crouch war der Nächste. Er ließ die Ziffer Neun in die Luft schießen.
»Sieht gut aus!«, rief Ron und klatschte Harry auf den Rücken.
Jetzt kam Dumbledore. Auch er ließ eine Neun erstehen. Die Menge jubelte noch lauter.
Ludo Bagman – eine Zehn.
»Zehn?«, sagte Harry ungläubig.»Aber… ich wurde verletzt… worauf hat der es abgesehen?«
»Harry, jetzt beklag dich nicht!«, rief Ron begeistert.
Und nun erhob Karkaroff seinen Zauberstab. Er zögerte einen Moment, und dann schoß auch aus seinem Zauberstab eine Ziffer – Vier.
»Wie bitte?«, brüllte Ron zornig.»Vier? Du lausiger parteiischer Schleimbeutel, du hast Krum eine Zehn gegeben!«
Doch Harry war es egal, und es wäre ihm auch egal gewesen, wenn Karkaroff ihm zehn Punkte gegeben hätte; daß Ron sich für ihn so entrüstete, war ihm hundert Punkte wert. Davon sagte er Ron natürlich nichts, doch als er sich umwandte und aus dem Gehege ging, war ihm das Herz leichter als eine Feder. Und es war nicht nur Ron… die dort im Publikum jubelten, waren nicht nur Gryffindors. Als es darauf ankam, als sie gesehen hatten, was ihm bevorstand, waren die meisten seiner Mitschüler auf seiner Seite gewesen, wie zuvor auf Cedrics… die Slytherins kümmerten ihn nicht – was immer sie ihm noch vorwerfen würden, es würde an ihm abprallen.
»Du bist auf dem ersten Platz, Harry, zusammen mit Krum!«, sagte Charlie Weasley, der ihnen nachgerannt kam, als sie sich auf den Weg zur Schule machten.»Hör mal, ich muß mich beeilen, weil ich Mum unbedingt eine Eule schicken muß, ich hab ihr geschworen, alles haarklein zu beschreiben – aber das war unglaublich! Ach ja – und ich soll dir ausrichten, daß du noch ein paar Minuten hier bleiben sollst… Bagman will mit dir sprechen, im Champions-Zelt.«
Ron wollte warten, und Harry ging ins Zelt, das ihm jetzt ganz anders, freundlich und einladend, vorkam.
Er dachte daran, wie er sich gefühlt hatte, während er den Hornschwanz austrickste, und dann an die lange Wartezeit, bis es so weit gewesen war… kein Vergleich, das Warten war unendlich viel schlimmer gewesen. Fleur, Cedric und Krum kamen ebenfalls herein.
Eine Seite von Cedrics Gesicht war mit einer dicken orangeroten Paste bestrichen, die wohl seine Verbrennung heilen sollte. Er grinste Harry zu, als er ihn sah.»Gut gemacht, Harry.«
»Du auch«, sagte Harry und grinste ebenfalls.
»Ihr alle habt's gut gemacht!«, sagte Ludo Bagman, der ins Zelt gestürmt kam und so vergnügt aussah, als ob er selbst gerade an einem Drachen vorbeigekommen wäre.»Ich wollte nur kurz mit euch sprechen. Vor der nächsten Runde habt ihr eine schöne lange Pause. Sie wird am vier-undzwanzigsten Februar um halb zehn morgens stattfinden – aber für die Zwischenzeit geben wir euch was zum Knobeln! Wenn ihr euch diese goldenen Eier in euren Händen anschaut, dann seht ihr, daß sie sich öffnen lassen… seht ihr die kleinen Scharniere? Im Ei steckt ein Rätsel, das ihr lösen müßt – es wird euch verraten, worin die zweite Aufgabe besteht und wie ihr euch darauf vorbereiten könnt. Alles klar? Keine Fragen? Nun, dann marsch zurück in die Schule!«
Harry verließ das Zelt und ging mit Ron am Waldrand entlang zurück. Sie unterhielten sich während des ganzen Wegs; Harry wollte genauer wissen, wie es den anderen Champions ergangen war. Dann, als sie die dichte Baumgruppe umrundeten, hinter der Harry die Drachen erstmals hatte brüllen hören, sprang hinter ihnen eine Hexe zwischen den Bäumen hervor.
Es war Rita Kimmkorn. Heute trug sie einen giftgrünen Umhang; die Flotte-Schreibe-Feder in ihrer Hand paßte tadellos dazu.
»Gratuliere, Harry!«, sagte sie und strahlte die beiden an.»Dürfte ich euch auf ein Wort unterbrechen? Harry, wie war es für dich, gegen den Drachen zu kämpfen? Was hältst du vom Urteil der Schiedsrichter?«
»Ja, Sie dürfen uns auf ein Wort unterbrechen«, sagte Harry wütend.»Tschüs!«
Und zusammen mit Ron ging er davon.