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Am zweiten Weihnachtstag standen alle spät auf. Im Gemeinschaftsraum der Gryffindors war es so ruhig wie schon lange nicht mehr und viel Gegähne durchzog die lahmen Unterhaltungen. Hermine hatte nun wieder buschiges Haar; Harry gestand sie, daß sie vor dem Ball Riesenmengen Seidenglatts Haargel genommen hatte,»aber für jeden Tag wär mir das entschieden zu viel Aufwand«, sagte sie nüchtern und kraulte Krummbein hinter den Ohren.
Ron und Hermine schienen stillschweigend übereingekommen zu sein, ihren Streit zu begraben. Sie gingen betont freundlich miteinander um, allerdings merkwürdig steif. Ron und Harry warteten nicht lange, bis sie Hermine von dem Gespräch zwischen Madame Maxime und Hagrid erzählten, das sie belauscht hatten. Doch Hermine schien die Neuigkeit, daß Hagrid ein Halbriese war, nicht annähernd so schockierend zu finden wie Ron.
»Nun ja, ich hab's mir schon gedacht«, sagte sie achselzuckend.»Ich wußte, daß er kein ausgewachsener Riese sein kann, denn die sind ja um die sieben Meter groß. Aber ehrlich gesagt, was soll diese ganze Aufregung um die Riesen. Sie können doch nicht alle schrecklich sein… gegen die Werwölfe gibt es genau dieselben Vorurteile… die Leute sind einfach viel zu engstirnig!«
Ron sah aus, als ob er ihr am liebsten höhnisch über den Mund gefahren wäre, doch vielleicht wollte er nicht schon wieder Streit anfangen, denn er beschränkte sich darauf, ungläubig den Kopf zu schütteln, als Hermine gerade woanders hinsah.
Es wurde allmählich Zeit, an die Hausaufgaben zu denken, die sie in der ersten Ferienwoche vernachlässigt hatten. Jetzt, da Weihnachten vorbei war, schienen alle ein wenig matt und lahm – alle außer Harry, der (wieder mal) ziemlich nervös wurde.
Das Problem war, daß der vierundzwanzigste Februar mit Weihnachten im Rücken viel näher gekommen zu sein schien, und noch immer hatte er nichts unternommen, um das Rätsel des goldenen Eis zu lösen. So fing er an, das Ei jedes Mal, wenn er in den Schlafsaal ging, aus dem Koffer zu holen, es zu öffnen und ihm aufmerksam zu lauschen, immer in der Hoffnung, es würde ihm endlich ein Licht aufgehen. Er zermarterte sich den Kopf darüber, woran ihn der Lärm erinnerte, aber einmal abgesehen von dreißig Musiksägen hatte er so etwas noch nie gehört. Er schloß das Ei, schüttelte es energisch und öffnete es wieder, um zu hören, ob sich der Ton verändert hatte, doch nein. Er versuchte, gegen das Wehklagen anbrüllend, dem Ei Fragen zu stellen, doch nichts geschah. Er warf das Ei sogar durch den Saal, doch es brachte nichts, und eigentlich hatte er auch nicht daran geglaubt.
Harry hatte den Hinweis von Cedric nicht vergessen, aber da er im Augenblick nicht allzu freundschaftliche Gefühle für Cedric hegte, wollte er möglichst ohne seine Hilfe auskommen. Und wenn Cedric ihm wirklich einen heißen Tipp hätte geben wollen, dann hätte er mehr mit der Sprache rausrücken müssen. Er selbst hatte Cedric genau gesagt, was bei der ersten Aufgabe drankam, aber Cedrics Vorstellung von einem fairen Tausch war wohl, ihm zu sagen, er solle ein Bad nehmen. Nein, solche Krücken brauchte er nicht – und schon gar nicht von jemandem, der mit Cho Händchen haltend durch die Schule spazierte. Und so kam der erste Tag nach den Ferien, Harry ging wie immer beladen mit Büchern, Pergamenten und Federn zum Unterricht, doch das Ei lag ihm so schwer im Magen, als ob er es ständig mit sich herumtragen würde.
Noch immer lag hoher Schnee, und die Fenster des Gewächshauses waren so dicht beschlagen, daß sie in Kräuterkunde nicht einmal nach draußen sehen konnten. Bei so einem Wetter freute sich niemand auf Pflege magischer Geschöpfe, obwohl Ron meinte, die Kröter würden ihnen sicher ganz schön einheizen, denn entweder müßten sie hinter ihnen herjagen, oder sie würden so stark explodieren, daß Hagrids Hütte Feuer fing.
Drüben vor der Hütte sahen sie jedoch nur eine ältere Hexe mit kurz geschorenem grauem Haar und einem energisch spitzen Kinn vor der Tür stehen.
»Nun beeilt euch mal, es hat schon vor fünf Minuten geläutet«, blaffte sie die Klasse an, die durch den Schnee auf sie zustapfte.
»Wer sind Sie?«, fragte Ron und starrte sie an.»Wo ist Hagrid?«
»Mein Name ist Professor Raue-Pritsche«, sagte sie barsch,»ich bin eure Vertretung in Pflege magischer Geschöpfe.«
»Wo ist Hagrid?«, wiederholte Harry laut.
»Er fühlt sich nicht wohl«, sagte Professor Raue-Pritsche knapp.
Leises, unangenehmes Lachen drang an Harrys Ohren. Er wandte sich um; Draco Malfoy und die anderen Slytherins waren hinzugestoßen. Ihnen allen stand die Schadenfreude ins Gesicht geschrieben, und keiner schien überrascht, Professor Raue-Pritsche hier zu sehen.
»Hier lang, bitte«, sagte Professor Raue-Pritsche und ging mit schnellen Schritten an der Koppel entlang, auf der die riesigen Beauxbatons-Pferde zitterten.
Harry, Ron und Hermine folgten ihr und warfen hin und wieder Blicke über die Schulter zu Hagrids Hütte. Alle Vorhänge waren zugezogen. War Hagrid dort drin, krank und allein?
»Was fehlt Hagrid denn?«, fragte Harry und beeilte sich, mit Professor Raue-Pritsche Schritt zu halten.
»Das geht dich nichts an«, sagte sie, als hielte sie ihn für einen naseweisen Bengel.
»Tut es allerdings«, sagte Harry gereizt.»Was ist los mit ihm?«
Professor Raue-Pritsche tat so, als ob sie ihn nicht hören würde. Sie führte sie an der Koppel vorbei, wo sich die Beauxbatons-Pferde jetzt zum Schutz gegen die Kälte aneinander geschmiegt hatten, und auf einen Baum am Waldrand zu. An den Baum gebunden war ein großes, schönes Einhorn. Viele Mädchen»uuuhten«bei diesem Anblick.
»Oooh, ist es nicht wunderschön?«, flüsterte Lavender Brown.»Wie hat sie es gefangen? Das soll ja unglaublich schwer sein!«
Das Einhorn war so gleißend weiß, daß der Schnee um es herum grau schien. Es stampfte nervös mit seinen goldenen Hufen und warf seinen gehörnten Kopf zurück.
»Jungen zurückbleiben!«, bellte Professor Raue-Pritsche, und ihr ausgestreckter Arm traf Harry hart an der Brust.»Sie ziehen die Hand einer Frau vor, diese Einhörner. Mädchen nach vorn, und vorsichtig annähern. Kommt schon, ganz locker bleiben…«
Sie ging mit den Mädchen langsam auf das Einhorn zu, während die Jungen am Koppelzaun stehen blieben und zusahen.
Sobald Professor Raue-Pritsche außer Hörweite war, drehte sich Harry zu Ron um.»Was, meinst du, ist los mit ihm? Hat ihn vielleicht ein Kröter -?«
»Oh, er wurde nicht angegriffen, Potter, wenn du das meinst«, sagte Malfoy leise.»Nein, er schämt sich nur zu sehr, sein großes häßliches Gesicht zu zeigen.«
»Was meinst du damit?«, fragte Harry scharf.
Malfoy steckte die Hand in den Umhang und zog eine zusammengefaltete Zeitungsseite heraus.
»Hier, lies«, sagte er.»Tut mir ja unendlich Leid, daß du es erfahren mußt, Potter…«
Er grinste höhnisch, während Harry ihm das Zeitungsblatt aus der Hand riß, es auffaltete und zusammen mit Ron, Seamus, Dean und Neville, die ihm über die Schulter lugten, durchlas. Es war ein Artikel mit einem Bild von Hagrid, auf dem er äußerst verschlagen aussah.
Dumbledores Riesenfehler
Albus Dumbledore, der exzentrische Direktor von Hogwarts, der Schule für Zauberei und Hexerei, hat sich noch nie gescheut, Stellen mit umstrittenen Personen zu besetzen. Im September dieses Jahres stellte er Alastor»Mad-Eye«Moody ein, den berüchtigten, schockzauberfreudigen Ex-Auroren, und zwar als Lehrer zur Verteidigung gegen die dunklen Künste. Diese Entscheidung hat im Zaubereiministerium einiges Kopfschütteln ausgelöst, da Moody durchaus bekannt dafür ist, daß er gewohnheitsmäßig jeden angreift, der in seinem Umkreis auch nur eine plötzliche Bewegung macht. Mad-Eye Moody jedoch kommt einem ganz vernünftig und freundlich vor, wenn man ihn mit dem Halbmenschen vergleicht, den Dumbledore Pflege magischer Geschöpfe unterrichten läßt.
Rubeus Hagrid, der zugibt, daß er in seinem dritten Schuljahr von Hogwarts geflogen ist, hat seither die Stelle eines Wildhüters an der Schule inne, eine Arbeit, die ihm Dumbledore besorgt hat. Letztes Jahr allerdings hat Hagrid seinen unheilvollen Einfluss auf Dumbledore dazu eingesetzt, sich zusätzlich die Stelle eines Lehrers für die Pflege magischer Geschöpfe unter den Nagel zu reißen, ohne Rücksicht auf viele besser ausgebildete Kandidaten.
Hagrid, ein beängstigend großer und wild aussehender Mann, nutzt seitdem seine neu gewonnene Autorität, um die ihm anvertrauten Schüler mit einer Reihe grauenhafter Kreaturen in Angst und Schrecken zu versetzen. Während Dumbledore beide Augen zudrückte, hat Hagrid in einigen seiner Unterrichtsstunden, die viele als»sehr beängstigend«beschreiben, dafür gesorgt, daß mehrere Schüler schwer verletzt wurden.
»Ich wurde von einem Hippogreif angegriffen und mein Freund Vincent Crabbe ist von einem Flubberwurm ganz schlimm gebissen worden«, berichtet der Viertkläßler Draco Malfoy.»Wir alle hassen Hagrid, aber wir haben zu viel Angst, um etwas zu sagen.«
Hagrid hat freilich nicht die Absicht, seine Einschüchterungskampagne zu beenden. Im Gespräch mit einer Reporterin des Tagespropheten gab er letzten Monat zu, daß er Geschöpfe gezüchtet habe, die er»Knallrümpfige Kröter«nennt, eine höchst gefährliche Kreuzung zwischen Heuschrecke und Feuerkrabbe. Die Züchtung neuer Kreuzungen magischer Geschöpfe steht natürlich unter der strengen Kontrolle der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. Hagrid jedoch scheint sich über solch kleinliche Beschränkungen erhaben zu fühlen.
»Es hat mir einfach Spaß gemacht«, sagte er, um dann hastig das Thema zu wechseln.
Als ob dies nicht genug wäre, hat der Tagesprophet inzwischen Beweise dafür gefunden, daß Hagrid kein – wie er immer vorgab – reinblütiger Zauberer ist. Er ist in Wahrheit nicht einmal ganz Mensch. Seine Mutter, so können wir jetzt exklusiv berichten, ist keine andere als die Riesin Fridwulfa, deren Aufenthalt gegenwärtig unbekannt ist.
Blutrünstig und gewalttätig wie sie sind, brachten sich die Riesen im Laufe des vergangenen Jahrhunderts durch Kriege untereinander selbst an den Rand des Aussterbens. Die wenigen, die übrig geblieben waren, schlössen sich den Reihen von Du-weißt-schon-wem an und verübten während seiner Schreckensherrschaft einige der bestialischsten Massenmorde an Muggeln. Zwar wurden viele Riesen, die Du-weißt-schon-wem dienten, von Auroren im Kampf gegen die dunklen Kräfte getötet, doch Fridwulfa entkam. Es ist möglich, daß sie Zuflucht in einem der Riesen-Dörfer gefunden hat, die es in Bergregionen anderer Länder noch immer gibt. Nach seinem Gebaren als Lehrer für die Pflege magischer Geschöpfe zu schließen hat Fridwulfas Sohn jedoch offensichtlich ihr gewalttätiges Wesen geerbt.
Eine makabre Seite dieser Geschichte ist nun, daß Hagrid, wie zu hören ist, eine enge Freundschaft zu dem Jungen aufgebaut hat, der den Sturz des Unnennbaren herbeiführte – und damit Hagrids Mutter und die übrig gebliebenen Anhänger des Unnennbaren in den Untergrund getrieben hat. Vielleicht kennt Harry Potter die unangenehme Wahrheit über seinen großen Freund gar nicht – doch Albus Dumbledore hat gewiß die Pflicht, dafür zu sorgen, daß Harry Potter und seine Mitschüler vor den Gefahren, die ihnen beim Umgang mit Halbriesen drohen, gewarnt werden.
Rita Kimmkorn
Als Harry zu Ende gelesen hatte, blickte er zu Ron auf, dessen Mund offen stand.
»Wie hat sie das rausgefunden?«, wisperte er.
Das war es allerdings nicht, was Harry umtrieb.
»Was soll das heißen, ›Wir alle hassen Hagrid‹?«, blaffte er Malfoy an.»Was soll der Mist, von wegen der hier«- und er deutete auf Crabbe -»hätte einen üblen Biß von einem Flubberwurm abbekommen? Die haben doch nicht mal Zähne!«
Crabbe kicherte, offenbar höchst zufrieden mit sich.
»Tja, ich vermute mal, das wird die Lehrerlaufbahn dieses Idioten beenden«, sagte Malfoy mit fiebrigen Augen.»Halbriese… und ich hab doch tatsächlich geglaubt, er hätte als Kind 'ne ganze Flasche Skele-Wachs ausgetrunken… die Mamis und Papis werden das überhaupt nicht gerne hören… Sie werden Angst bekommen, daß er ihre Kleinen frißt, har, har…«
»Du -«
»Hört ihr da drüben eigentlich zu?«
Professor Raue-Pritsches Stimme wehte zu den Jungen herüber. Die Mädchen standen eng um das Einhorn gedrängt und streichelten es. Harry war so zornig, daß die Seite aus dem Tagespropheten in seiner Hand zitterte, als er sich umdrehte und mit leerem Blick hinüber zu dem Einhorn starrte, dessen magische Eigenschaften Professor Raue-Pritsche jetzt mit lauter Stimme aufzählte, damit auch die Jungen etwas mitbekamen.
»Ich kann nur hoffen, daß diese Frau bleibt!«, sagte Parvati Patil nach dem Ende der Stunde, als sie zum Mittagessen ins Schloß zurückgingen.»Genau so hab ich mir Pflege magischer Geschöpfe immer vorgestellt… richtige Tiere wie dieses Einhorn, keine Monster…«
»Und was ist mit Hagrid?«, sagte Harry wütend, als sie die Treppe hochgingen.
»Was soll mit ihm sein?«, sagte Parvati mit harter Stimme.»Er kann doch immer noch den Wildhüter machen, oder?«
Seit dem Ball war Parvati gegenüber Harry ziemlich kühl. Ihm war klar, daß er ihr vielleicht ein wenig mehr Aufmerksamkeit hätte schenken sollen, doch sie schien sich trotz allem gut amüsiert zu haben. Jedenfalls erzählte sie allen, die es hören wollten, daß sie sich für den nächsten Wochenendausflug nach Hogsmeade mit dem Jungen von Beauxbatons verabredet hatte.
»Das war nun wirklich mal eine gute Unterrichtsstunde«, sagte Hermine, als sie die Große Halle betraten.»Ich hätte nicht mal die Hälfte von dem gewußt, was uns Professor Raue-Pritsche über Ein-«
»Schau dir das an!«, knurrte Harry und hielt ihr den Artikel des Tagespropheten unter die Nase.
Hermine ging beim Lesen langsam der Mund auf. Sie reagierte genau wie Ron.»Wie hat diese fürchterliche Kimmkorn das rausbekommen? Du glaubst doch nicht, Hagrid selbst hat es ihr erzählt?«
»Nein«, sagte Harry, ging voraus zum Gryffindor-Tisch und ließ sich zornig auf einen Stuhl fallen.»Er hat es doch nicht mal uns erzählt, oder? Ich schätze, sie war sauer, weil er ihr keine Horrorgeschichten über mich erzählt hat, und hat dann rumgeschnüffelt, um es ihm heimzuzahlen.«
»Vielleicht hat sie gehört, wie er es am Ballabend Madame Maxime erzählt hat«, sagte Hermine leise.
»Dann hätten wir sie draußen im Garten sehen müssen!«, sagte Ron.»Außerdem darf sie sich in der Schule ja gar nicht mehr blicken lassen, Hagrid meinte, Dumbledore hätte ihr Hausverbot erteilt…«
»Vielleicht hat sie einen Tarnurnhang«, sagte Harry und schöpfte sich so wütend Hühnerfrikassee auf den Teller, daß er es nach allen Seiten verspritzte.
»Das sieht ihr ähnlich, sich in Büschen zu verstecken und Leute zu belauschen.«
»Wie du und Ron, willst du sagen«, entgegnete Hermine.
»Wir wollten ihn ja gar nicht belauschen!«, sagte Ron entrüstet.»Wir hatten keine andere Wahl! Der Trottel plaudert über seine Riesenmutter, wo ihn doch jeder hätte hören können!«
»Wir müssen zu ihm und sehen, wie es ihm geht«, sagte Harry.»Heute Abend, nach Wahrsagen. Ihm sagen, daß wir ihn wiederhaben wollen… Du willst ihn doch auch wieder?«, fragte er mit wütendem Blick zu Hermine gewandt.
»Ich – nun ja, ich will nicht so tun, als wär es keine schöne Abwechslung gewesen, mal eine richtige Stunde Pflege magischer Geschöpfe -«Unter Harrys wütendem Blick gab sie jedoch klein bei und setzte rasch hinzu:»- aber natürlich will ich Hagrid wiederhaben!«
Und so gingen die drei nach dem Abendessen noch einmal aus dem Schloß und über den gefrorenen Abhang hinunter zu Hagrids Hütte. Sie klopften und Fang antwortete mit freudigem Gebelle.
»Hagrid, wir sind's!«, rief Harry und trommelte gegen die Tür.
Er gab keine Antwort. Sie hörten Fang an der Tür kratzen und winseln, doch er machte nicht auf. Zehn Minuten lang hämmerten sie gegen die Tür; Ron ging sogar um die Ecke und klopfte an ein Fenster, aber nichts rührte sich.
»Warum will er uns nicht sehen?«, fragte Hermine, als sie schließlich aufgegeben hatten und zurück zum Schloß gingen.»Er denkt doch nicht etwa, es würde uns was ausmachen, daß er ein Halbriese ist?«
Doch es hatte ganz den Anschein, als würde es Hagrid selbst etwas ausmachen. Die ganze Woche war keine Spur von ihm zu sehen. Er erschien nicht zum Essen am Lehrertisch, er ging offenbar auch nicht seinen Pflichten als Wildhüter auf den Ländereien nach, und Pflege magischer Geschöpfe hatten sie auch weiterhin bei Professor Raue-Pritsche. Malfoy feixte bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
»Sehnst dich wohl nach deinem Mischlingskumpel?«, wisperte er ständig Harry zu, wenn ein Lehrer in der Nähe war, um vor Harrys Vergeltung sicher zu sein.»Sehnst dich nach dem Elefantenmenschen?«
Mitte Januar war wieder ein Besuch in Hogsmeade angesagt. Hermine war sehr überrascht, daß Harry mitkommen wollte.
»Ich dachte eigentlich, du würdest die Gelegenheit vernünftig nutzen, wo es doch im Gemeinschaftsraum ausnahmsweise mal ruhig ist«, sagte sie.»Du mußt dich endlich um dieses Ei kümmern.«
»Oh, ich – ich glaub, ich weiß schon ziemlich genau, um was es geht«, log Harry.
»Ach wirklich?«, sagte Hermine, offensichtlich beeindruckt.»Nicht schlecht!«
Harrys Eingeweide verkrampften sich schuldbewußt, doch er achtete nicht auf sie. Schließlich hatte er immer noch fünf Wochen, um die Sache mit dem Ei zu klären, und das reichte doch ewig… und wenn er nach Hogsmeade ging, würde er vielleicht zufällig Hagrid treffen und könnte ihn zur Rückkehr bewegen.
Am Sonntag verließ er mit Ron und Hermine das Schloß und sie machten sich auf den Weg durch die naßkalten Wiesen hinüber zum Tor. Als sie am Durnistrang-Schiff vorbeikamen, das immer noch am Seeufer vertäut lag, sahen sie Viktor Krum mit nichts als einer Badehose bekleidet an Deck kommen. Er war sehr hager, doch offenbar viel zäher, als er aussah, denn er stieg auf die Reling des Schiffes, streckte die Arme vor und sprang kopfüber in den See.
»Er muß verrückt sein!«, sagte Harry und sah gebannt zu, wie Krums dunkler Schöpf mitten im See wieder auftauchte.»Das Wasser muß eiskalt sein, wir haben doch Januar!«
»Da, wo er herkommt, ist es viel kälter«, sagte Hermine.»Ich schätze, für ihn fühlt es sich ziemlich warm an.«
»Jaah, aber da ist auch noch der Riesenkrake«, sagte Ron. Er klang nicht besorgt – wenn man genau hinhörte, klang er hoffnungsvoll. Hermine entging dieser Unterton nicht und sie runzelte die Stirn.
»Er ist wirklich nett, weißt du«, sagte sie.»Überhaupt nicht so, wie du denkst, nur weil er aus Durmstrang kommt. Hier gefällt es ihm viel besser, hat er mir gesagt.«
Ron sagte nichts. Seit dem Ball hatte er Viktor Krum nicht mehr erwähnt. Harry hatte jedoch am zweiten Feiertag unter seinem Bett einen kleinen Arm gefunden, der sehr danach aussah, als wäre er von einer kleinen Modellfigur mit bulgarischem Quidditch-Umhang abgerissen worden.
Harry hielt den ganzen Weg die matschige Hauptstraße entlang Ausschau nach einem Zeichen von Hagrid, und als er sich vergewissert hatte, daß Hagrid in keinem der Läden war, schlug er vor, einen kleinen Abstecher in die Drei Besen zu machen.
Der Pub war wie immer gut besucht, doch er brauchte den Blick nur kurz über die Tische schweifen zu lassen, um festzustellen, daß Hagrid nicht da war. Harry wurde schwer ums Herz und er ging mit Ron und Hermine zur Bar und bestellte bei Madam Rosmerta drei Butterbier. Trübselig ging ihm durch den Kopf, daß er vielleicht besser im Schloß geblieben wäre und dem Wehklagen des Eis gelauscht hätte.
»Geht der eigentlich nie ins Büro?«, flüsterte Hermine plötzlich.»Seht mal!«
Sie deutete auf den Spiegel hinter der Bar und im Spiegelbild sah Harry Ludo Bagman mit einer Schar Kobolde in einer dunklen Ecke sitzen. Bagman redete schnell und leise auf die Kobolde ein, die alle die Arme verschränkt hatten und recht bedrohlich aussahen.
Tatsächlich merkwürdig, dachte Harry, daß Bagman hier in den Drei Besen saß, an einem Wochenende ohne Turnier, wo er als Richter nicht benötigt wurde. Er beobachtete Bagman im Spiegel. Wieder wirkte er angespannt, nicht weniger als damals im nächtlichen Wald, bevor das Dunkle Mal erschienen war. Doch in diesem Moment warf Bagman einen Blick zur Bar, erkannte Harry und stand auf.
»Bin gleich wieder da, einen Moment nur!«, hörte ihn Harry barsch zu den Kobolden sagen, dann hastete Bagman durch den Pub auf Harry zu, nun wieder jungenhaft grinsend.
»Harry!«, sagte er.»Wie geht's dir? Hatte gehofft, dich zu treffen! Läuft alles gut?«
»Ja, danke«, sagte Harry.
»Könnte ich dich vielleicht kurz unter vier Augen sprechen, Harry?«, drängte Bagman.»Ihr zwei würdet uns doch kurz mal allein lassen, nicht wahr?«
»Ähm – okay«, sagte Ron, und er und Hermine gingen davon, um einen freien Tisch zu suchen.
Bagman führte Harry ganz ans Ende der Bar, so weit wie möglich weg von Madam Rosmerta.
»Ich dachte, ich könnte dir noch mal zu deiner glänzenden Leistung gegen diesen Hornschwanz gratulieren, Harry«, sagte Bagman.»Wirklich hervorragend.«
»Danke«, sagte Harry, doch er wußte, das konnte nicht alles sein, was Bagman sagen wollte, denn er hätte ihm auch vor Ron und Hermine gratulieren können. Bagman schien es jedoch nicht allzu eilig zu haben, mit der Sprache rauszurücken. Harry bemerkte, wie er im Spiegel zu den Kobolden hinübersah, die ihn und Harry mit ihren dunklen, schrägen Augen beobachteten.
»Ein Alptraum, sag ich dir«, murmelte Bagman Harry zu, als er bemerkt hatte, daß auch Harry die Kobolde beobachtete.»Ihr Englisch ist nicht allzu gut… als ob ich mich wieder mit diesen Bulgaren bei der Weltmeisterschaft rumschlagen müßte… aber die haben wenigstens eine Zeichensprache benutzt, die ein normaler Mensch entziffern kann. Diese Bande da quasselt ständig in Koboldogack… und ich kenne nur ein Wort in Koboldogack. Bladwack. Das bedeutet ›Spitzhacke‹. Sag ich natürlich nicht, sonst meinen die noch, ich würde sie bedrohen.«Er lachte kurz und dröhnend auf.
»Was wollen die?«, fragte Harry, dem auffiel, daß die Kobolde Bagman immer noch scharf im Visier hatten.
»Ähm – nun ja…«, sagte Bagman und schien plötzlich nervös geworden.»Sie… ähm… sie suchen nach Barty Crouch.«
»Und warum ausgerechnet hier?«, sagte Harry.»Er ist doch in Lond9n im Ministerium?«
»Ähm… ehrlich gesagt, ich hab keine Ahnung, wo er steckt«, sagte Bagman.»Er hat gewissermaßen… aufgehört zu arbeiten. Taucht schon seit einigen Wochen nicht mehr auf. Der junge Percy, sein Assistent, behauptet, er sei krank. Offenbar hat er vor kurzem per Eulenpost Anweisungen geschickt. Aber das bleibt doch unter uns, Harry? Rita Kimmkorn schnüffelt nämlich immer noch überall rum, und ich wette, sie bläst Bartys Krankheit zu irgendeiner üblen Geschichte auf. Dann heißt es wahrscheinlich noch, er werde vermißt, wie Bertha Jorkins.«
»Haben Sie etwas von Bertha Jorkins gehört?«, fragte Harry.
»Nein«, sagte Bagman, und wieder schien er angespannt.»Ich hab natürlich ein paar Leute auf die Suche geschickt…«, (Wurde allmählich auch Zeit, dachte Harry),»doch das ist alles sehr merkwürdig. Wir wissen jetzt, daß sie in Albanien angekommen ist, weil sie dort ihren Cousin zweiten Grades getroffen hat. Und dann hat sie das Haus ihres Cousins in Richtung Süden verlassen, um eine Tante zu besuchen… aber unterwegs ist sie offenbar spurlos verschwunden. Verdammt, wenn ich nur wüßte, wo sie steckt… sie scheint jedenfalls nicht der Typ zu sein, der einfach durchbrennt… aber was soll's… was reden wir hier überhaupt von Kobolden und Bertha Jorkins? Ich wollte dich was ganz anderes fragen«- er senkte die Stimme -»wie kommst du mit dem goldenen Ei voran?«
»Ähm… nicht schlecht«, schwindelte Harry.
Bagman schien zu wissen, daß er nicht die Wahrheit sagte.
»Hör zu, Harry«, sagte er (immer noch mit gedämpfter Stimme),»ich komme mir bei dieser ganzen Sache ziemlich schlecht vor… du bist einfach ins Turnier reingerasselt, du hast dich nicht freiwillig gemeldet… und wenn (er sprach jetzt so leise, daß Harry ihm das Ohr zuneigen mußte, um ihn zu verstehen)… wenn ich dir irgendwie helfen kann… ein kleiner Tipp, wo's langgehen könnte… weißt du, irgendwie mag ich dich… und wie du an diesem Drachen vorbeigekommen bist… Also, du brauchst nur ein Wort zu sagen.«
Harry blickte auf und sah in Bagmans rundes, rosiges Gesicht und die geweiteten, babyblauen Augen.
»Wir sollen doch das Rätsel allein lösen, oder?«, sagte er, darauf bedacht, lässig zu klingen und nicht so, als ob er den Chef der Abteilung für Magische Spiele beschuldigen würde, die Regeln zu brechen.
»Ja, schon richtig«, sagte Bagman ungeduldig,»aber – nun stell dich nicht so an, Harry, wir wollen doch alle einen Sieger aus Hogwarts, oder?«
»Haben Sie Cedric auch Hilfe angeboten?«, fragte Harry.
Auf Bagmans glattem Gesicht erschienen sehr feine Runzeln.
»Nein, hab ich nicht«, sagte er.»Ich – nun, wie gesagt, ich mag dich inzwischen ganz gern. Dachte eben, ich könnte dir ein wenig unter die Arme…«
»Nett von Ihnen«, sagte Harry,»aber ich glaube, ich hab dieses Eierrätsel fast gelöst… brauch vielleicht nur noch ein paar Tage.«
Er war sich nicht ganz sicher, warum er Bagmans Hilfe ablehnte, er wußte nur, daß er Bagman eigentlich gar nicht kannte, und wenn er seine Hilfe annehmen würde, hätte er viel eher das Gefühl, er würde mogeln, als wenn er Ron, Hermine oder Sirius um Rat fragte.
Bagman sah fast beleidigt aus, aber er konnte nichts weiter sagen, weil in diesem Augenblick Fred und George auftauchten.
»Hallo, Mr Bagman«, sagte Fred und lächelte breit.»Dürfen wir Sie zu einem Drink einladen?«
»Ähm… nein«, sagte Bagman mit einem letzten, enttäuschten Blick auf Harry,»nein danke, Jungs…«
Fred und George schienen nicht weniger enttäuscht als Mr Bagman, der Harry musterte, als hätte er ihn ganz übel im Stich gelassen.
»Jetzt muß ich mich aber sputen«, sagte er.»War schön, euch zu sehen. Viel Glück, Harry.«
Er eilte hinaus. Die Kobolde rutschten von ihren Stühlen und folgten ihm vor die Tür. Harry ging hinüber zu Ron und Hermine.
»Was wollte er?«, fragte Ron, kaum hatte Harry sich gesetzt.
»Er hat mir Hilfe für das goldene Ei angeboten«, antwortete Harry.
»Das darf er eigentlich nicht!«, sagte Hermine schockiert.»Er ist einer der Richter! Und außerdem hast du es doch schon gelöst, oder?«
»Ähemm… fast«, sagte Harry.
»Ich glaube nicht, daß Dumbledore erfreut wäre, wenn er wüßte, daß Bagman dich zum Mogeln anstiften will!«, sagte Hermine mit einem noch immer zutiefst mißbilligenden Blick.»Ich hoffe, er versucht auch Cedric zu helfen!«
»Tut er nicht. Ich hab ihn gefragt«, sagte Harry.
»Wen kümmert es, ob Diggory Hilfe kriegt?«, meinte Ron. Harry gab ihm stillschweigend Recht.
»Diese Kobolde sahen nicht gerade freundlich aus«, sagte Hermine und nippte an ihrem Butterbier.»Was hatten die hier verloren?«
»Bagman behauptet, sie suchen nach Crouch«, entgegnete Harry.»Er ist immer noch krank. Erscheint nicht zur Arbeit.«
»Vielleicht ist Percy dabei, ihn zu vergiften«, sagte Ron.»Denkt wahrscheinlich, wenn Crouch abnippelt, wird er zum Chef der Abteilung für Internationale Magische Zusammenarbeit ernannt.«
Hermine versetzte Ron einen Darüber-macht-man-keine-Witze-Blick und sagte:»Merkwürdig, Kobolde, die nach Mr Crouch suchen… normalerweise haben sie mit der Abteilung zur Führung und Aufsicht Magischer Geschöpfe zu tun.«
»Crouch beherrscht übrigens eine Menge verschiedener Sprachen«, sagte Harry.»Vielleicht brauchen sie einen Übersetzer.«
»Jetzt sorgst du dich auch noch um die süßen kleinen Kobolde, nicht wahr?«, fragte Ron Hermine.»Willst du vielleicht so was wie BLÖK gründen? Befreit die Lümmelhaften Öden Kobolde?«
»Ha, ha, ha«, lachte Hermine trocken.»Kobolde brauchen keinen Schutz. Habt ihr nicht gehört, was uns Professor Binns über die Kobold-Aufstände erzählt hat?«
»Nein«, sagten Harry und Ron wie aus einem Munde.
»Sie sind durchaus fähig, es mit Zauberern aufzunehmen«, sagte Hermine und nippte an ihrem Butterbier.»Sie sind ziemlich klug. Ganz anders als die Hauselfen, die nie für ihre Sache eingetreten sind.«
»O nein«, sagte Ron und blickte zur Tür.
Rita Kimmkorn war gerade eingetreten. Heute trug sie einen bananengelben Umhang; ihre langen Fingernägel waren knallrosa lackiert, und begleitet wurde sie von ihrem dickbauchigen Fotografen. Sie holten Getränke an der Bar, dann drängten sie sich durch die Menge, und zwar, wie Harry, Ron und Hermine mit finsteren Blicken feststellten, zu einem Tisch in ihrer Nähe. Rita Kimmkorn redete sehr schnell und offenbar voller Genugtuung.
»… schien nicht besonders scharf darauf, mit uns zu reden, oder, Bozo? Was glaubst du, warum? Und was tut er eigentlich mit einer Bande Kobolde im Schlepptau? Zeigt ihnen die Sehenswürdigkeiten… was für ein Blödsinn… er war immer schon ein schlechter Lügner. Denkst du, da ist was im Busch? Sollen wir vielleicht ein wenig Staub aufwirbeln? In Ungnade gefallener Ex-Chef der Sportabteilung, Ludo Bagman… packender Satzanfang, Bozo – wir brauchen nur noch 'ne Story, die dazu paßt -«
»Wieder mal dabei, jemandes Leben zu ruinieren?«, fragte Harry laut.
Einige Köpfe wandten sich um. Rita Kimmkorns Augen hinter der juwelenbesetzten Brille weiteten sich, als sie erkannte, wer gesprochen hatte.
»Harry!«, rief sie und setzte ein strahlendes Lächeln auf.»Wie wunderbar! Willst du dich nicht zu uns -?«
»Ich würde nicht mal mit einem Dreimeterbesen in Ihre Nähe kommen«, sagte Harry erhitzt.»Warum haben Sie das Hagrid angetan?«
Rita Kimmkorn hob ihre stark nachgezogenen Brauen.
»Unsere Leser haben das Recht, die Wahrheit zu erfahren, Harry, ich tue nur meine -«
»Wen schert es, daß er ein Halbriese ist?«, rief Harry.»Er ist völlig in Ordnung!«
Der ganze Pub war verstummt. Madam Rosmerta stand hinter der Bar und starrte herüber, ohne zu merken, daß der Krug, den sie mit Met füllte, schon überlief.
Rita Kimmkorns Lächeln flackerte kaum merklich, doch sie festigte es sofort wieder; sie ließ ihre Krokodillederhandtasche aufschnappen, zog ihre Flotte-Schreibe-Feder heraus und sagte:»Wie war's mit einem Interview über Hagrid, wie du ihn kennst, Harry? Der Mann hinter den Muskeln? Eure doch sehr verwunderliche Freundschaft und die Gründe, die dahinter stecken. Würdest du ihn als Vaterersatz bezeichnen?«
Hermine stand abrupt auf und umklammerte das Butterbierglas, als wäre es eine Granate.
»Sie entsetzliche Frau«, sagte sie zähneknirschend,»Ihnen ist alles gleich, nicht wahr, Hauptsache, Sie haben eine Story und jeder kann dafür den Kopf hinhalten, nicht wahr? Selbst Ludo Bagman -«
»Setz dich, du dummes kleines Gör, und red nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst«, sagte Rita Kimmkorn kühl und musterte Hermine mit einem harten Ausdruck in den Augen.»Ich weiß Dinge über Ludo Bagman, die dir die Haare zu Berge stehen ließen… Nicht daß das nötig wäre -«, fügte sie mit einem Blick auf Hermines buschigen Haarschopf hinzu.
»Gehen wir«, sagte Hermine.»Kommt, Harry – Ron…«
Sie gingen zur Tür; viele Gäste starrten ihnen nach, und Harry warf von der Tür her einen Blick zurück. Rita Kimmkorns Flotte-Schreibe-Feder war nicht mehr zu halten; sie flog wie besessen über ein Blatt Pergament auf dem Tisch, vor und zurück, vor und zurück.
»Dich nimmt sie als Nächste aufs Korn, Hermine«, sagte Ron mit leiser, besorgter Stimme, während sie rasch die Straße hinuntergingen.
»Laßt sie nur machen!«, sagte Hermine schrill; sie zitterte vor Wut.»Ich werd's ihr schon zeigen! 'ne dumme Göre bin ich also? Oh, das werd ich ihr heimzahlen, erst Harry, dann Hagrid…«
»Du willst doch nicht etwa Rita Kimmkorn in die Quere schießen«, sagte Ron nervös.»Ich mein es ernst, Hermine, dann wird sie irgendwas über dich ausgraben -«
»Meine Eltern lesen den Tagespropheten nicht, mich bringt sie nicht zum Kuschen!«, sagte Hermine und schritt so energisch aus, daß Harry und Ron Mühe hatten, ihr zu folgen. Das letzte Mal, daß Harry sie so wütend gesehen hatte, hatte sie Draco Malfoy ein paar saftige Ohrfeigen verpaßt.»Und Hagrid kommt jetzt aus seinem Versteck! Er hätte sich von so einer niederträchtigen Kreatur nie und nimmer einschüchtern lassen dürfen! Kommt mit!«
Sie rannte ihnen voran den ganzen Weg zurück, durch das von Ebern flankierte Tor und über das Schloßgelände zu Hagrids Hütte.
Die Vorhänge waren immer noch zugezogen, und als sie näher kamen, hörten sie Fang kläffen.
»Hagrid!«, rief Hermine und pochte gegen die Tür.»Hagrid, jetzt reicht's aber! Wir wissen, daß du dadrin bist! Es kümmert doch keinen, daß deine Mum eine Riesin war, Hagrid! Du kannst doch nicht zulassen, daß diese miese Kimmkorn dir das antut! Hagrid, komm jetzt raus, sei doch nicht so -«
Die Tür ging auf. Hermine sagte:»Wird auch Z-!«, doch jäh brach sie ab, denn nicht Hagrid sah ihr ins Gesicht, sondern Albus Dumbledore.
»Guten Tag«, sagte er freundlich und lächelte auf sie herab.
»Wir – ähem – wir wollten eigentlich Hagrid besuchen«, sagte Hermine nun etwas kleinlaut.
»Ja, so viel hab ich verstanden«, sagte Dumbledore.»Wollt ihr nicht reinkommen?«
»Oh – ähm – gut«, sagte Hermine.
Die drei betraten die Hütte; sofort stürzte sich Fang wie verrückt bellend auf Harry und versuchte ihm die Ohren zu lecken. Harry wimmelte ihn ab und sah sich um.
Hagrid saß an seinem Tisch, auf dem zwei große Becher Tee standen. Er sah ungeheuer elend aus. Sein Gesicht war fleckig, die Augen waren geschwollen, und was sein Haar anging, so hatte er es jetzt ins andere Extrem getrieben; es war nicht im Mindesten gezähmt, sondern sah aus wie eine Perücke aus verknoteter Drahtwolle.
»Hallo, Hagrid«, sagte Harry.
Hagrid sah auf.
»'lo«, sagte er mit sehr heiserer Stimme.
»Noch ein wenig Tee, nehm ich an«, sagte Dumbledore, schloß die Tür hinter den dreien, zückte den Zauberstab und ließ ihn kurz im Kreis wirbeln; mitten in der Luft erschien ein sich drehendes Tablett, mit Teetassen und einem Teller voller Kekse. Dumbledore zauberte das Tablett auf den Tisch und alle setzten sich. Ein kurzes Schweigen trat ein, dann sagte Dumbledore:»Hast du zufällig verstanden, was Miss Granger da gerufen hat, Hagrid?«
Hermines Wangen verfärbten sich, doch Dumbledore lächelte sie an und fuhr fort:»Hermine, Harry und Ron wollen offenbar immer noch etwas mit dir zu tun haben, wenn man bedenkt, daß sie fast die Tür eingeschlagen hätten.«
»Natürlich wollen wir das!«, sagte Harry und sah Hagrid eindringlich an.»Du glaubst doch nicht etwa, daß irgend etwas von dieser Kimmkorn-Kuh – Verzeihung, Professor«, fügte er rasch hinzu und sah Dumbledore an.
»Ich bin vorübergehend taub und hab keine Ahnung, was du gesagt hast, Harry«, sagte Dumbledore, drehte Däumchen und starrte an die Decke.
»Ähm – gut«, sagte Harry verlegen.»Ich wollte nur sagen – Hagrid, wie konntest du nur glauben, wir würden uns darum scheren, was diese – Person – über dich geschrieben hat?«
Zwei dicke Tränen traten aus Hagrids käferschwarzen Augen und kullerten langsam durch seinen wirren Bart.
»Das ist der lebendige Beweis dessen, was ich dir gesagt habe, Hagrid«, sagte Dumbledore und starrte vorsorglich immer noch zur Decke.»Ich hab dir die Briefe von zahllosen Eltern gezeigt, die dich noch aus ihrer eigenen Schulzeit kennen und mir unmißverständlich schreiben, sollte ich dich feuern, dann hätten sie ein Wörtchen mit mir zu reden -«
»Nich alle«, sagte Hagrid heiser.»Nich alle woll'n, daß ich bleib.«
»Ich bitte dich, Hagrid, wenn du von allen geliebt werden willst, dann, fürchte ich, mußt du sehr lange in dieser Hütte hocken bleiben«, sagte Dumbledore und schaute Hagrid nun streng über den Rand seiner Halbmondgläser hinweg an.»Seit ich Direktor bin, ist noch keine Woche vergangen, in der ich nicht mindestens eine Eule bekommen habe mit einer Beschwerde über meine Art, diese Schule zu leiten. Aber was soll ich machen? Mich in meinem Studierzimmer verbarrikadieren und mich weigern, mit irgendjemandem zu reden?«
»Sie – Sie sind ja auch kein Halbriese!«, krächzte Hagrid.
»Hagrid, sieh dir doch mal meine Verwandten an!«, sagte Harry aufgebracht.»Schau dir die Dursleys an!«
»Eine hervorragende Idee«, sagte Professor Dumbledore.»Mein eigener Bruder, Aberforth, wurde wegen Ausübung unpassender Zauberstücke an einer Ziege verklagt. Es stand in allen Zeitungen, aber meinst du, Aberforth hätte sich versteckt? Von wegen! Er hielt die Ohren steif und ging seinen Geschäften nach, als wäre nichts gewesen! Natürlich bin ich mir nicht ganz sicher, ob er lesen kann, daher mag es nicht nur Tapferkeit gewesen sein…«
»Komm zurück und unterrichte wieder, Hagrid«, sagte Hermine leise,»bitte komm zurück, wir vermissen dich sehr.«
Hagrid schluckte schwer. Noch mehr Tränen kullerten ihm aus den Augen, liefen die Wangen hinunter und verschwanden in dem wirren Bart.
Dumbledore erhob sich.
»Ich weigere mich, deine Kündigung anzunehmen, Hagrid, und erwarte dich am Montag wieder zur Arbeit«, sagte er.»Du frühstückst um halb neun mit mir in der Großen Halle. Und keine Widerrede. Schönen Nachmittag euch allen noch.«
Dumbledore verließ die Hütte, nicht ohne vorher noch kurz Fangs Ohren gekrault zu haben. Als die Tür hinter ihm zugegangen war, begann Hagrid in seine mülleimer-deckelgroßen Hände zu schluchzen. Hermine tätschelte ihm den Arm, und endlich hob Hagrid den Kopf, sah sie mit brennend roten Augen an und sagte:»Großartiger Mann, Dumbledore… großartiger Mann…«
»Ja, das ist er«, sagte Ron.»Kann ich einen von diesen Keksen haben, Hagrid?«
»Schlag zu«, sagte Hagrid und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.»Aahr, 'türlich hat er Recht – ihr habt alle Recht… war dumm von mir… mein alter Dad hätt sich geschämt für mich…«Wieder rollten Tränen über seine Wangen, doch jetzt wischte er sie energisch weg und sagte:»Hab euch noch nich mal 'n Bild von meinem alten Dad gezeigt, nich? Hier…«
Hagrid stand auf, ging hinüber zu seiner Kommode, öffnete eine Schublade und zog ein Bild von einem kleinen Zauberer heraus, der Hagrids runzlige schwarze Augen hatte und mit strahlendem Gesicht auf Hagrids Schulter saß. Hagrid war nach dem Apfelbaum neben ihm zu schließen gut zweieinhalb Meter groß, doch sein Gesicht war bartlos jung, rund und glatt – er wirkte kaum älter als elf Jahre.
»Das war, kurz nachdem sie mich in Hogwarts aufgenommen ham«, krächzte Hagrid.»Dad war so was von froh… dachte, ich wär vielleicht kein Zauberer, wißt ihr, weil meine Mum… na, wie auch immer, 'türlich war ich nie der große Magier, stimmt schon… aber wenigstens hat er nich erlebt, wie sie mich rausgeworfen haben. Ist nämlich schon in meinem zweiten Schuljahr gestorben…
Dumbledore war der Einzige, der sich nach dem Tod von meinem Dad für mich eingesetzt hat. Hat mir diese Wildhüterstelle besorgt… vertraut einfach Leuten, ist doch wahr. Gibt ihnen noch 'ne zweite Schangse… ganz anders als die anderen Schulleiter, wißt ihr. Er nimmt jeden auf in Hogwarts, wenn er nur begabt ist. Weiß, daß was Gutes aus den Leuten werden kann, auch wenn ihre Familien… wie sagt man… nicht so respektierlich war'n. Aber manche verstehn das einfach nich, 's gibt welche, die halten dir das immer wieder vor… manche von unserem Schlag tun sogar so, als hätten sie nur große Knochen, statt den Mund aufzumachen und zu sagen – ich bin, was ich bin, und ich schäm mich nich dafür. ›Schäm dich nie‹, hat mein alter Dad immer gesagt, ›'s gibt immer welche, die's dir vorwerfen, aber mit denen brauchst du dich gar nich abzugeben.‹ Und er hat Recht gehabt. Ich war 'n Idiot. Mit der geb ich mich nich mehr ab, das versprech ich euch. Große Knochen… erzählt mir was von wegen große Knochen.«
Harry, Ron und Hermine warfen sich nervöse Blicke zu; Harry wäre eher mit fünfzig Knallrümpfigen Krötern spazieren gegangen als Hagrid zu gestehen, daß er ihn bei seiner Unterhaltung mit Madame Maxime belauscht hatte, doch Hagrid redete weiter, offenbar nicht ahnend, was er ausgeplaudert hatte.
»Weißt du was, Harry?«, sagte er und sah mit leuchtenden Augen vom Foto seines Vaters auf.»Als ich dich kenn gelernt hab, hast du mich ein bißchen an mich selbst erinnert. Mum und Dad nicht mehr da, und du hattest das Gefühl, daß du gar nicht nach Hogwarts paßt, weißt du noch? Warst nicht sicher, ob du es überhaupt schaffst… und nu schau dich mal an, Harry! Schul-Schämpion!«
Sein Blick verweilte einen Moment lang auf Harry, dann sagte er tiefernst:»Weißt du, was ich wirklich gut finden würd, Harry? Ich fand's wirklich gut, wenn du gewinnst, sag ich dir. Dann hättest du's allen gezeigt… du brauchst nicht reinblütig zu sein, um es zu schaffen. Du brauchst dich nicht zu schämen, weil du so bist, wie du bist. Dann würden sie sehen, daß es Dumbledore ist, der Recht hat und alle aufnimmt, wenn sie nur zaubern können. Wie steht's eigentlich mit dem Ei, Harry?«
»Großartig«, sagte Harry.»Wirklich großartig.«
Auf Hagrids verweintem Gesicht brach sich ein breites, feuchtes Lächeln Bahn.»Gut gemacht, Junge… Du zeigst es denen, Harry, du zeigst es denen. Schlägst sie alle.«
Hagrid anzulügen war nicht ganz dasselbe, wie irgendjemanden anzulügen. Später am Nachmittag, als Harry mit Ron und Hermine zum Schloß zurückging, konnte er das Bild von Hagrids bartumwuchertem Gesicht nicht aus seinen Gedanken verbannen, das so glücklich ausgesehen hatte bei der Vorstellung, Harry würde das Turnier gewinnen. Das rätselhafte Ei lastete an diesem Abend schwer auf Harrys Gewissen, und als er im Bett lag, hatte er seinen Entschluß schon gefaßt – es war an der Zeit, seinen Stolz zu vergessen und herauszufinden, ob Cedrics rätselhafter Hinweis irgend etwas taugte.