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Dumbledore stand auf. Einen Moment lang sah er mit angewidertem Gesicht auf Barty Crouch hinunter. Dann hob er den Zauberstab. Seile flogen aus der Spitze des Stabs hervor, schlangen sich um Barty Crouch und fesselten ihn straff.
Er wandte sich an Professor McGonagall.»Minerva, würden Sie bitte Crouch bewachen, während ich Harry nach oben bringe?«
»Natürlich«, sagte Professor McGonagall. Ihr schien ein wenig übel zu sein, als hätte sie gerade gesehen, wie sich jemand erbrach. Doch als sie den Zauberstab herauszog und ihn auf Barty Crouch richtete, war ihre Hand vollkommen ruhig.
»Severus«, sagte Dumbledore zu Snape gewandt,»weisen Sie bitte Madam Pomfrey an, nach oben zu kommen. Wir müssen Alastor Moody in den Krankenflügel schaffen. Dann gehen Sie hinunter aufs Gelände, suchen Cornelius Fudge und bringen ihn ebenfalls hoch in dieses Büro. Zweifellos wird er Crouch persönlich verhören wollen. Sagen Sie ihm, er kann mich in einer halben Stunde im Krankenflügel finden, falls er mich braucht.«
Snape nickte stumm und rauschte hinaus.
»Harry?«, sagte Dumbledore freundlich.
Harry stand auf und geriet erneut ins Wanken; der Schmerz in seinem Bein, den er, während er Crouch zugehört hatte, überhaupt nicht mehr wahrgenommen hatte, kehrte jetzt mit aller Macht zurück. Er merkte auch, daß er am ganzen Leib zitterte. Dumbledore nahm ihn am Armund half ihm hinaus auf den dunklen Korridor.
»Ich möchte, daß du zunächst einmal mit in mein Büro kommst«, flüsterte er, während sie über den Gang liefen.»Sirius erwartet uns dort.«
Harry nickte. Eine Art Benommenheit und das Gefühl, dies alles sei ganz unwirklich, hatten von ihm Besitz ergriffen, doch es kümmerte ihn nicht; er war sogar froh darüber. Er wollte nicht über irgend etwas nachdenken müssen, das passiert war, seit er den Trimagischen Pokal zum ersten Mal berührt hatte. Er wollte sich nicht in die Erinnerungen vertiefen, die frisch und scharf wie Fotos ständig an seinem geistigen Auge vorbeizogen. Mad-Eye Moody in diesem großen Koffer. Wurmschwanz, auf der Erde kauernd, schützend über seinen Armstumpf gebeugt. Voldemort, der dem dampfenden Kessel entstieg. Cedric… tot… Cedric, der ihn bat, ihn zu seinen Eltern zurückzubringen…
»Professor«, murmelte Harry,»wo sind Mr und Mrs Diggory?«
»Sie sind bei Professor Sprout«, sagte Dumbledore. Seine Stimme, die während der Befragung von Barty Crouch so ruhig gewesen war, zitterte jetzt erstmals ein wenig.»Sie ist die Leiterin von Cedrics Haus und sie kannte ihn am besten.«
Sie hatten den steinernen Wasserspeier erreicht. Dumbledore nannte das Paßwort, der Wasserspeier sprang beiseite, und Harry folgte Dumbledore die Wendeltreppe hoch bis vor die Eichentür. Dumbledore stieß sie auf.
Drinnen stand Sirius. Sein Gesicht war weiß und ausgemergelt, wie damals, als er Askaban entkommen war. Er brauchte nur einen Moment, um das Zimmer zu durchqueren.»Harry, wie geht es dir? Ich wußte es – ich wußte, so etwas würde – was ist geschehen?«
Mit zitternden Händen half er Harry auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch.
»Was ist geschehen?«, fragt er nun drängender.
Dumbledore begann ihm alles zu berichten, was Barty Crouch gesagt hatte. Harry hörte nur mit halbem Ohr zu. Er war so müde und jeder Knochen im Leib tat ihm weh, daß er nichts weiter wollte, als hier zu sitzen, ungestört, Stunde um Stunde, bis er einschlief und nicht mehr denken und fühlen mußte.
Er hörte ein leises Flügelschlagen. Fawkes, der Phönix, hatte seine Vogelstange verlassen, war durchs Büro geflogen und hatte sich auf Harrys Knie niedergelassen.
»'lo, Fawkes«, sagte Harry leise. Er streichelte das wunderschöne scharlachrote und goldene Federkleid des Phönix. Fawkes blinzelte ihn freundlich an. Etwas Tröstliches ging von diesem warmen Vogelleib aus.
Dumbledore hatte aufgehört zu sprechen. Er saß hinter seinem Schreibtisch, Harry gegenüber. Er sah Harry an, doch Harry mied seinen Blick. Dumbledore würde ihn befragen. Dann würde er alles noch einmal durchleben müssen.
»Ich muß wissen, was geschehen ist, nachdem du den Portschlüssel im Irrgarten berührt hattest, Harry«, sagte Dumbledore.
»Können wir das nicht auf morgen verschieben, Dumbledore?«, fragte Sirius schroff. Er hatte eine Hand auf Harrys Schulter gelegt.»Laß ihn die Nacht darüber schlafen. Laß ihn ausruhen.«
Harry spürte eine jähe Anwandlung von Dankbarkeit für Sirius, doch Dumbledore achtete nicht auf dessen Worte. Er beugte sich zu Harry vor. Widerwillig hob Harry den Kopf und sah in diese blauen Augen.
»Wenn ich glaubte, ich könnte dir helfen«, sagte Dumbledore sanft,»indem ich dich in einen Zauberschlaf versetze und es dir erlaube, den Zeitpunkt zu verschieben, an dem du daran denken mußt, was heute Abend geschehen ist – dann würde ich es tun. Aber ich weiß, es hilft nicht. Den Schmerz für eine Weile zu betäuben, heißt nur, daß er noch schlimmer ist, wenn du ihn schließlich doch spürst. Du hast mehr Tapferkeit bewiesen, als ich je von dir hätte erwarten können. Ich bitte dich, deinen Mut noch einmal zu beweisen. Ich bitte dich, uns zu schildern, was geschehen ist.«
Der Phönix gab einen leisen, tremolierenden Ton von sich. Der Ton schwebte durch die Luft, und Harry hatte das Gefühl, ein Tropfen heißer Flüssigkeit wäre ihm die Kehle hinunter in den Magen geflossen und wärmte und kräftigte ihn.
Er holte tief Luft und begann zu erzählen. Beim Sprechen stiegen Bilder all dessen, was an diesem Abend geschehen war, vor seinen Augen auf; er sah die funkelnde Oberfläche des Elixiers, das Voldemort wieder belebt hatte; er sah die Todesser zwischen den Gräbern im Umkreis apparieren; und er sah Cedrics Leiche auf der Erde neben dem Pokal liegen.
Das eine oder andere Mal machte Sirius, dessen Hand immer noch auf Harrys Schulter ruhte, ein Geräusch, als wolle er etwas sagen, doch Dumbledore hob die Hand und ließ ihn verstummen, und Harry war froh darüber, denn nun, da er einmal angefangen hatte, war es einfacher, ohne Unterbrechung weiterzuerzählen. Er fühlte sich sogar erleichtert; fast war es, als würde etwas Giftiges aus ihm herausgesogen; es kostete ihn alle Willensstärke weiterzureden, doch er spürte, am Ende würde er sich besser fühlen.
Als Harry jedoch berichtete, wie Wurmschwanz ihm den Arm mit einem Dolch aufgeritzt hatte, stieß Sirius einen entsetzten Schrei aus, und Dumbledore sprang so schnell auf, daß Harry zusammenzuckte. Er kam um den Schreibtisch herum und bat Harry, den Arm auszustrecken. Harry zeigte den beiden die Stelle, an der sein Umhang aufgeschlitzt war, und den Schnitt in der Haut darunter.
»Er sagte, mein Blut würde ihn stärker machen als das Blut irgendeines anderen«, berichtete Harry.»Er sagte, der Schutz, den – den meine Mutter mir hinterlassen hat – er würde ihn nun auch besitzen. Und er hatte Recht – er konnte mich anfassen, ohne sich zu verletzen, er hat mein Gesicht berührt.«
Einen flüchtigen Moment lang glaubte Harry, etwas wie Triumph in Dumbledores Augen aufglimmen zu sehen. Doch im nächsten Augenblick war er sich gewiß, daß er sich das nur eingebildet hatte, denn als Dumbledore zu seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch zurückgekehrt war, wirkte er erneut ungewohnt alt und müde.
»Nun denn«, sagte er und setzte sich.»Voldemort hat dieses eigentümliche Hindernis überwunden. Fahr bitte fort, Harry.«
Harry erzählte weiter; er schilderte, wie Voldemort dem Kessel entstiegen war, und alles, was er von Voldemorts Rede an die Todesser noch im Kopf hatte. Dann berichtete er, daß Wurmschwanz ihm die Fesseln gelöst und den Zauberstab zurückgegeben und Voldemort ihn zum Duell aufgefordert hatte. Doch als es dann daranging zu erzählen, wie der goldene Lichtstrahl die beiden Zauberstäbe verbunden hatte, schnürte es ihm die Kehle zu. Er versuchte weiterzureden, doch die Erinnerungen an das, was aus Voldemorts Zauberstab gedrungen war, überfluteten sein Denken. Ganz deutlich sah er vor sich, wie Cedric erschien, der alte Mann, Bertha Jorkins… seine Mutter… sein Vater…
Er war froh, daß Sirius die Stille durchbrach.
»Die Zauberstäbe verbanden sich miteinander?«, sagte er und ließ den Blick von Harry zu Dumbledore wandern.»Warum?«
Harry sah zu Dumbledore auf, dessen Gesichtszüge starr geworden waren.
»Priori Incantatem«, murmelte er.
Seine Augen blickten unverwandt in die Harrys, und fast war es, als verbänden sie sich plötzlich durch einen unsichtbaren Strahl des Verstehens.
»Der Fluchumkehr-Effekt?«, fragte Sirius scharf.
»Genau«, sagte Dumbledore.»Harrys und Voldemorts Zauberstäbe sind im Kern gleich. Jeder enthält eine Feder vom Schweif desselben Phönix. Von diesem Phönix, um es klar zu sagen«, fügte er hinzu und deutete auf den rotgoldenen Vogel, der friedlich in Harrys Schoß kauerte.
»Die Feder meines Zauberstabs stammt von Fawkes?«, fragte Harry verblüfft.
»Ja«, sagte Dumbledore.»Sobald du vor vier Jahren den Laden verlassen hattest, schrieb mir Mr Ollivander, du hättest den zweiten Zauberstab gekauft.«
»Und was geschieht, wenn ein Zauberstab auf seinen Bruder trifft?«, fragte Sirius.
»Gegeneinander wirken sie nicht wie sonst«, sagte Dumbledore.»Wenn die Besitzer jedoch ihre Zauberstäbe zwingen, gegeneinander zu kämpfen… dann kommt es zu einer sehr seltenen Erscheinung.
Einer der Zauberstäbe zwingt den anderen, die Flüche, die er ausgeübt hat, noch einmal gleichsam auszuspeien -. und zwar in umgekehrter Reihenfolge. Den letzten Fluch zuerst… und dann die anderen, die ihm vorausgingen…«
Er sah Harry fragend an und Harry nickte.
»Das heißt«, fuhr Dumbledore langsam und mit unverwandtem Blick auf Harry fort,»Cedric muß in irgendeiner Gestalt wieder erschienen sein.«
Harry nickte erneut.
»Diggory ist also ins Leben zurückgekehrt?«, sagte Sirius scharf.
»Kein Zauber kann die Toten wieder erwecken«, sagte Dumbledore mit belegter Stimme.»Alles, was geschehen konnte, war eine Art Echo des Vergangenen. Ein Schatten des lebenden Cedric muß aus dem Zauberstab ausgetreten sein… stimmt das, Harry?«
»Er hat zu mir gesprochen«, sagte Harry. Plötzlich zitterte er wieder.»Der… der Geist von Cedric oder was es war, hat gesprochen.«
»Ein Echo«, sagte Dumbledore,»das Cedrics Erscheinung und Wesen in sich barg. Ich vermute, es sind noch mehr derartige Gestalten erschienen… frühere Opfer von Voldemorts Zauberstab…«
»Ein alter Mann«, sagte Harry, und immer noch war ihm die Kehle wie zugeschnürt.»Bertha Jorkins. Und…«
»Deine Eltern?«, sagte Dumbledore leise.
»Ja«, sagte Harry.
Sirius' Finger klammerten sich in diesem Moment so fest in Harrys Schulter, daß es weh tat.
»Die letzten Morde des Zauberstabs«, sagte Dumbledore kopfnickend.»In umgekehrter Reihenfolge. Natürlich wären noch mehr erschienen, wenn du die Verbindung gehalten hättest. Nun gut, Harry, diese Echos, diese Schatten… was taten sie?«
Harry erzählte, daß die Gestalten aus dem Zauberstab am Rand des goldenen Netzes entlang Wache gegangen waren, daß Voldemort offensichtlich Angst vor ihnen gehabt hatte, daß der Schatten seines Vaters ihm gesagt hatte, was er tun solle, und Cedric seine letzte Bitte ausgesprochen hatte.
An diesem Punkt angelangt, konnte Harry nicht mehr weitersprechen. Er wandte sich zu Sirius um, der das Gesicht in den Händen verborgen hatte. Dann bemerkte Harry plötzlich, daß Fawkes nicht mehr auf seinem Schoß saß. Der Phönix war zu Boden geflattert. Er schmiegte seinen schönen Kopf an Harrys verletztes Bein, und dicke, perlene Tränen fielen aus seinen Augen auf die Wunde vom Kampf mit der Spinne. Der Schmerz ließ nach. Die Haut heilte zu. Sein Bein war wieder gesund.
»Ich muß es noch einmal wiederholen«, sagte Dumbledore, während der Phönix in die Luft stieg und sich wieder auf der Stange neben der Tür niederließ.»Du hast heute Abend mehr Tapferkeit bewiesen, als ich je von dir hätte erwarten können, Harry. Du hast die gleiche Tapferkeit bewiesen wie jene, die im Kampf gegen Voldemort auf dem Höhepunkt seiner Macht gestorben sind. Du hast die Last eines erwachsenen Zauberers geschultert und bewiesen, daß du sie tragen kannst – und nun hast du uns auch alles gegeben, was wir zu Recht von dir erwarten konnten. Wir gehen jetzt zusammen in den Krankenflügel. Ich möchte nicht, daß du heute Nacht in den Schlafsaal gehst. Ein Schlaftrunk, ein wenig Ruhe… Sirius, würdest du gerne bei ihm bleiben?«
Sirius nickte und stand auf. Er verwandelte sich in den großen schwarzen Hund zurück, verließ mit Harry und Dumbledore das Büro und begleitete sie eine Treppenflucht hinunter in den Krankenflügel.
Als Dumbledore die Tür aufstieß, sah Harry, daß sich Mrs Weasley, Bill, Ron und Hermine um die zermürbt wirkende Madam Pomfrey geschart hatten. Offenbar bestürmten sie sie mit Fragen, wo Harry stecke und was ihm passiert sei.
Sie alle wirbelten herum, als Harry, Dumbledore und der schwarze Hund eintraten, und Mrs Weasley stieß einen erstickten Schrei aus.»Harry! O Harry!«
Sie wollte schon auf ihn loshasten, doch Dumbledore trat zwischen die beiden.
»Molly«, sagte er und hob die Hand,»bitte hören Sie mir einen Augenblick zu. Harry hat heute Abend Schreckliches durchlitten. Und er mußte es eben für mich noch einmal in allen Einzelheiten schildern. Was er jetzt braucht, ist Schlaf, Ruhe und Frieden. Wenn er möchte, daß ihr alle bei ihm bleibt«, fügte er mit Blick auf Ron, Hermine und Bill hinzu,»dann tut es. Aber ich will, daß ihr ihm erst Fragen stellt, wenn er bereit ist zu reden, und gewiß nicht mehr heute Abend.«
Mrs Weasley nickte. Sie war schneeweiß.
Sie wandte sich Ron, Hermine und Bill zu und zischte, als würden sie einen Höllenlärm machen:»Habt ihr nicht gehört? Er braucht Ruhe!«
»Direktor«, sagte Madam Pomfrey mit starrem Blick auf den großen schwarzen Hund,»darf ich fragen, was -?«
»Dieser Hund wird eine Weile bei Harry bleiben«, sagte Dumbledore knapp.»Ich versichere Ihnen, er ist sehr gut erzogen. Harry – ich warte so lange, bis du im Bett bist.«
Harry empfand Dumbledore gegenüber ein unaussprechliches Gefühl der Dankbarkeit, weil er die anderen gebeten hatte, ihm keine Fragen zu stellen. Gewiß, er wollte sie um sich haben, doch die Vorstellung, alles noch einmal erklären, alles noch einmal durchleben zu müssen, war einfach unerträglich.
»Ich komme noch einmal zurück, Harry, sobald ich mit Fudge gesprochen habe«, sagte Dumbledore.»Morgen werde ich ein Wort an alle Schüler von Hogwarts richten, und bis dahin möchte ich, daß du hier bleibst.«Er ging hinaus.
Madam Pomfrey führte Harry zu einem in der Nähe stehenden Bett, und dabei erhaschte er einen Blick auf den wahren Moody, der reglos in einem Bett am anderen Ende des Saals lag. Sein Holzbein und sein magisches Auge lagen auf dem Nachttisch.
»Wie geht es ihm?«, fragte Harry.
»Er wird schon wieder zu Kräften kommen«, sagte Madam Pomfrey, reichte Harry einen Pyjama und zog einen Wandschirm um sein Bett. Er entkleidete sich, zog den Pyjama an und legte sich hin. Ron, Hermine, Bill, Mrs Weasley und der schwarze Hund kamen um den Wandschirm herum und setzten sich auf Stühle zu beiden Seiten seines Bettes. Ron und Hermine sahen ihn fast argwöhnisch an, als hätten sie Angst vor ihm.
»Mir geht's schon besser«, sagte er.»Bin nur müde.«
Mrs Weasley strich völlig überflüssigerweise die Bettdecke glatt und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Madam Pomfrey, die hinüber in ihr Büro gewackelt war, kam mit einer Schale und einer kleinen Flasche mit einem purpurnen Trank zurück.
»Das mußt du ganz austrinken, Harry«, sagte sie.»Es ist ein Trank für einen traumlosen Schlaf.«
Harry ergriff die Schale und nahm ein paar Schlucke. Sofort wurde ihm schläfrig zumute. Alles um ihn her versank in Nebel; die Lampen im Krankensaal schienen ihm durch den Wandschirm um sein Bett freundlich zuzublinken; ihm war, als würde er immer tiefer in die Wärme des Federbettes sinken. Bevor er das Elixier ganz ausgetrunken hatte, bevor er noch ein Wort sagen konnte, hatte ihn die Erschöpfung in den Schlaf gleiten lassen.
Harry wachte auf, und ihm war so behaglich, er war so schlaftrunken, daß er die Augen nicht öffnete und lieber in den Schlaf zurücksinken wollte. Der Saal war immer noch schwach beleuchtet; er war sich sicher, daß es noch Nacht war, und hatte den Eindruck, nicht lange geschlafen zu haben.
Dann hörte er Geflüster um sich her.
»Die wecken ihn noch auf, wenn sie nicht endlich still sind!«
»Was gibt es denn da zu schreien? Es kann doch nicht schon wieder was passiert sein!«
Schlaftrunken öffnete Harry die Augen. Jemand hatte ihm die Brille abgenommen. Er konnte die verschwommenen Gestalten von Mrs Weasley und Bill neben sich erkennen. Mrs Weasley hatte sich erhoben.
»Das ist die Stimme von Fudge«, wisperte sie.»Und das ist Minerva McGonagall, nicht wahr? Aber worüber streiten die sich?«
Jetzt konnte auch Harry es hören: aufgebrachte Stimmen und das Geräusch von Schritten, die sich dem Krankensaal näherten.
»Bedauerlich zwar, gleichwohl, Minerva -«, sagte Cornelius Fudge laut.
»Sie hätten es niemals ins Schloß bringen dürfen!«, rief Professor McGonagall.»Wenn Dumbledore das erfährt -«
Harry hörte, wie die Tür zum Krankensaal aufschlug. Bill hatte den Wandschirm beiseite geschoben, und alle, die um Harrys Bett saßen, starrten jetzt zur Tür. Harry setzte sich unbemerkt auf und nahm seine Brille vom Nachttisch.
Fudge kam zügig durch den Saal geschritten. Die Professoren McGonagall und Snape folgten ihm auf den Fersen.
»Wo ist Dumbledore?«, fragte Fudge Mrs Weasley.
»Er ist nicht hier«, antwortete Mrs Weasley erzürnt.»Dies ist ein Krankensaal, Minister, denken Sie nicht, es wäre besser -«
Doch jetzt ging die Tür auf und Dumbledore kam hereingerauscht.
»Was ist passiert?«, fragte er in scharfem Ton und blickte abwechselnd Fudge und Professor McGonagall an.»Warum stören Sie die Ruhe? Minerva, ich bin überrascht, Sie hier zu sehen – ich hatte Sie gebeten, Barty Crouch zu bewachen -«
»Es ist nicht mehr nötig, ihn zu bewachen, Dumbledore!«, entgegnete sie schrill.»Dafür hat der Minister gesorgt!«
Harry hatte Professor McGonagall noch nie so außer sich gesehen. Flammend rote Flecken traten auf ihre Wangen, sie ballte die Hände zu Fäusten und bebte vor Zorn.
»Als wir Mr Fudge mitteilten, wir hätten den Todesser gefangen, der für die Geschehnisse dieser Nacht verantwortlich war«, sagte Snape in gedämpftem Ton,»da glaubte er offenbar, seine eigene Sicherheit sei gefährdet. Er bestand darauf, einen Dementor zu rufen, der ihn zum Schloß begleitete. Er brachte ihn mit in das Büro, in dem Barty Crouch -«
»Ich hatte ihm laut und deutlich gesagt, daß Sie nicht damit einverstanden seien, Dumbledore!«, brauste Professor McGonagall auf.»Ich hatte ihm gesagt, Sie würden es niemals erlauben, daß Dementoren das Schloß betreten, aber -«
»Meine Verehrteste!«, dröhnte Fudge, der ebenfalls zorniger wirkte, als Harry ihn je erlebt hatte.»Als Zaubereiminister steht mir allein die Entscheidung zu, ob ich jemanden zu meinem Schutz mitbringe, wenn ich einen möglicherweise gefährlichen -«
Doch Professor McGonagalls Stimme ließ die von Fudge untergehen.»Kaum hatte dieses – dieses Etwas das Büro betreten«, schrie sie und deutete am ganzen Leib bebend auf Fudge,»da stürzte es sich auf Crouch und – und -«
Harry spürte, wie ihm die Eingeweide gefroren, während Professor McGonagall nach Worten rang, um zu beschreiben, was geschehen war. Seinetwegen brauchte sie ihren Satz jedenfalls nicht zu beenden. Ihm war klar, was der Dementor getan haben mußte. Er hatte Barty Crouch einen tödlichen Kuß gegeben. Er hatte ihm die Seele durch den Mund ausgesogen. Crouch erging es jetzt schlimmer, als wenn er gestorben wäre.
»Nach allem, was wir wissen, ist er sicher kein großer Verlust!«, polterte Fudge.»Offenbar war er für mehrere Morde verantwortlich!«
»Aber jetzt kann er nicht mehr aussagen, Cornelius«, sagte Dumbledore. Er sah Fudge scharf an, als könne er ihn zum ersten Mal klar erkennen.»Er kann uns jetzt nicht mehr sagen, warum er diese Menschen getötet hat.«
»Warum er sie getötet hat? Da braucht man doch nicht lange zu rätseln!«, polterte Fudge.»Er war ein durchgeknallter Irrer! Laut Minerva und Severus glaubte er offenbar, er hätte das alles auf Anweisung von Du-weißt-schon-wem getan!«
»Lord Voldemort hat ihm tatsächlich Anweisungen erteilt, Cornelius«, sagte Dumbledore.»All diese Morde geschahen im Zuge eines Plans, Voldemort seine alten Kräfte zurückzugeben. Dieses Vorhaben ist gelungen. Voldemort hat seinen Körper wieder.«
Fudge sah aus, als hätte ihm soeben jemand einen Faustschlag verpaßt. Benommen und mit glasigem Blick stierte er Dumbledore an, als könne er einfach nicht glauben, was er gerade gehört hatte.
»Du-weiß-schon-wer… ist zurück?«, stammelte er schließlich und starrte Dumbledore unverwandt an.»Lächerlich. Nun hören Sie, Dumbledore…«
»Wie Minerva und Severus Ihnen zweifellos gesagt haben«, entgegnete Dumbledore,»hat Crouch vor uns ein Geständnis abgelegt. Unter dem Einfluss von Veritaserum schilderte er uns, wie er aus Askaban herausgeschmuggelt wurde und wie Voldemort – der über Bertha Jorkins von Crouchs Fortleben erfahren hatte – kam, um ihn aus den Händen seines Vaters zu befreien, und ihn dann einsetzte, um Harry in die Fänge zu bekommen. Und dieser Plan ist gelungen, muß ich Ihnen sagen. Crouch hat Voldemort geholfen zurückzukehren.«
»Hören Sie, Dumbledore«, sagte Fudge, und zu Harrys Erstaunen regte sich ein mildes Lächeln auf seinem Gesicht,»Sie – Sie können das doch nicht im Ernst glauben. Du-weißt-schon-wer – ist zurück? Kommen Sie, kommen Sie… gewiß, Crouch selbst hat womöglich geglaubt, er würde auf Befehl des Unnennbaren handeln – aber das Wort eines solchen Verrückten auch für bare Münze zu nehmen, Dumbledore…«
»Als Harry vor einigen Stunden den Trimagischen Pokal berührte, hat er ihn direkt zu Voldemort transportiert«, fuhr Dumbledore unbeeindruckt fort.»Er hat die Wiedergeburt Lord Voldemorts mit eigenen Augen gesehen. Ich erkläre Ihnen alles, wenn Sie in mein Büro hochkommen.«
Dumbledore wandte sich Harry zu und sah, daß er wach war, doch dann schüttelte er den Kopf und sagte:»Ich fürchte, ich kann es Ihnen nicht gestatten, Harry heute Nacht noch zu befragen.«
Fudges eigenartiges Lächeln blieb auf seinem Gesicht haften.
Auch er warf einen Blick zu Harry hinüber, dann wandte er sich wieder an Dumbledore:»Sie sind – ähm – bereit, Harrys Wort in dieser Sache zu glauben, nicht wahr, Dumbledore?«
Für kurze Zeit trat Stille ein, doch dann meldete sich Sirius. Zähnefletschend und mit gesträubten Rückenhaaren begann er Fudge anzuknurren.
»Natürlich glaube ich Harry«, sagte Dumbledore. In seinen Augen loderte es.»Ich habe Crouchs Geständnis gehört und Harrys Schilderung dessen, was geschah, nachdem er den Trimagischen Pokal berührt hatte; die beiden Geschichten passen zusammen und erklären alles, was seit Bertha Jorkins' Verschwinden letzten Sommer passiert ist.«
Das merkwürdige Lächeln auf Fudges Gesicht wollte nicht verschwinden. Erneut versetzte er Harry einen Blick, bevor er antwortete:»Sie sind bereit zu glauben, daß Lord Voldemort zurückgekehrt ist, aufgrund der Aussage eines irren Mörders und eines Jungen, der… nun…«
Wieder blickte Fudge zu Harry hinüber und plötzlich begriff Harry.
»Sie haben Rita Kimmkorn gelesen, Mr Fudge«, sagte er leise.
Ron, Hermine, Mrs Weasley und Bill zuckten zusammen. Keiner von ihnen hatte bemerkt, daß Harry wach war.
Fudge errötete leicht, doch ein sturer, widerwilliger Zug trat nun auf sein Gesicht.
»Und wenn schon«, sagte er mit Blick auf Dumbledore.»Was, wenn ich herausgefunden habe, daß Sie gewisse Tatsachen über den Jungen unter der Decke halten? Ein Parselmund, ja? Und ständig irgendwelche merkwürdigen Anfälle -«
»Ich nehme an, Sie meinen die Narbenschmerzen Harrys?«, entgegnete Dumbledore kühl.
»Sie geben also zu, daß er Schmerzen hat?«, sagte Fudge rasch.»Kopfschmerzen? Alpträume? Womöglich auch – Halluzinationen?«
»Hören Sie, Cornelius«, sagte. Dumbledore und tat einen Schritt auf Fudge zu; wieder schien er jene unbestimmbare Aura der Macht auszustrahlen, die Harry gespürt hatte, nachdem Dumbledore den jungen Crouch in den Schockschlaf versetzt hatte.»Harry ist so gesund wie Sie und ich. Diese Narbe auf seiner Stirn hat ihm nicht den Verstand verwirrt. Ich vermute, sie schmerzt, wenn Lord Voldemort in der Nähe ist oder sich besonders mordlustig fühlt.«
Fudge war einen halben Schritt vor Dumbledore zurückgewichen, doch er wirkte nicht minder stur.»Sie werden mir verzeihen, Dumbledore, auch ich habe schon von Fällen gehört, bei denen eine Fluchnarbe als Alarmglocke gewirkt hat…«
»Hören Sie doch, ich habe gesehen, daß Voldemort zurückkam!«, rief Harry. Wieder versuchte er aus dem Bett zu steigen, doch Mrs Weasley hielt ihn mit sanfter Gewalt zurück.»Ich habe die Todesser gesehen! Ich kann Ihnen die Namen nennen! Lucius Malfoy -«
Snape machte eine jähe Bewegung, doch als Harry ihn ansah, huschten Snapes Augen zurück zu Fudge.
»Malfoy wurde entlastet!«, sagte Fudge sichtlich entrüstet.»Eine hoch angesehene Familie – Spenden für wohltätige Zwecke -«
»Mcnair!«, fuhr Harry fort.
»Ebenfalls entlastet! Arbeitet jetzt für das Ministerium!«
»Avery – Nott – Crabbe – Goyle -«
»Du wiederholst nur die Namen jener, die vor vierzehn Jahren von der Anklage, Todesser zu sein, freigesprochen wurden!«, sagte Fudge zornig.»Du hättest diese Namen in alten Berichten über die Prozesse finden können! Um Himmels willen, Dumbledore – Ende letzten Jahres hat der Junge auch ständig irgendeine wahnwitzige Geschichte zum Besten gegeben – seine Fabeln werden allmählich immer dreister, und Sie schlucken sie immer noch – der Junge kann mit Schlangen sprechen, Dumbledore, und Sie halten ihn dennoch für glaubwürdig?«
»Sie Dummkopf!«, schrie Professor McGonagall.»Cedric Diggory! Mr Crouch! Diese Morde sind nicht die zufälligen Taten eines Verrückten!«
»Ich sehe keinen Beweis für das Gegenteil!«, rief Fudge nicht weniger zornig und mit scharlachrot angelaufenem Gesicht.»Mir scheint, als wären Sie alle entschlossen, eine Panik auszulösen, die all das ins Wanken bringen soll, was wir in den letzten vierzehn Jahren aufgebaut haben!«
Harry konnte nicht glauben, was er da hörte. Er hatte Fudge immer für einen liebenswürdigen Kerl gehalten, ein wenig aufbrausend, ein bißchen wichtigtuerisch, doch im Grunde gutmütig. Doch nun stand ein kleiner zorniger Zauberer vor ihm, der sich schlichtweg weigerte, dem drohenden Zusammenbruch seiner gemütlichen und wohl geordneten Welt ins Auge zu sehen – der nicht glauben wollte, daß Voldemort wieder zu Kräften gekommen war.
»Voldemort ist zurück«, wiederholte Dumbledore.»Wenn Sie diese Tatsache unverzüglich zur Kenntnis nähmen, Fudge, und die notwendigen Schritte einleiteten, könnten wir die Lage immer noch meistern. Der erste und wichtigste Schritt ist, Askaban der Kontrolle der Dementoren zu entziehen -«
»Lächerlich!«, rief Fudge erneut.»Die Dementoren abziehen! Man würde mich aus dem Amt werfen, wenn ich so etwas vorschlagen würde! Viele von uns können nachts doch nur deshalb ruhig schlafen, weil sie wissen, daß die Dementoren in Askaban Wache halten!«
»Wir anderen schlafen nicht so ruhig, Cornelius«, entgegnete Dumbledore,»denn wir wissen, daß Sie die gefährlichsten Anhänger Lord Voldemorts unter die Obhut von Kreaturen gestellt haben, die sich ihm anschließen werden, sobald er sie dazu auffordert! Die Dementoren werden Ihnen nicht treu bleiben, Fudge! Voldemort kann diesen Kreaturen mehr Bewegungsfreiheit für ihre Kräfte und Gelüste bieten als Sie! Sobald er die Dementoren für sich gewonnen und seine alten Anhänger um sich geschart hat, werden Sie die größte Mühe haben, ihn auf seinem Eroberungsfeldzug zurück zu ebenjener Macht aufzuhalten, die er zuletzt vor vierzehn Jahren innegehabt hat!«
Fudge öffnete und schloß den Mund, als gäbe es keine Worte, die seinem Zorn Ausdruck verleihen könnten.
»Der zweite Schritt, den Sie tun müßten – und zwar sofort«, drängte Dumbledore weiter,»bestünde darin, Gesandte zu den Riesen zu schicken.«
»Gesandte zu den Riesen?«, kreischte Fudge, der nun offenbar seine Sprache wiedergefunden hatte.»Was soll dieser Irrsinn?«
»Bieten Sie ihnen die Hand der Freundschaft an, und zwar jetzt, bevor es zu spät ist«, sagte Dumbledore,»oder Voldemort wird ihnen wie damals einreden, er sei der einzige Zauberer, der ihnen ihre Rechte und Freiheiten geben würde!«
»Sie – Sie können das doch nicht ernst meinen?«, keuchte Fudge kopfschüttelnd und wich ein paar Schritte weiter vor Dumbledore zurück.»Wenn die magische Gemeinschaft davon Wind bekommt, daß ich auf die Riesen zugehe – die Leute hassen sie, Dumbledore – Ende meiner Karriere -«
»Sie sind mit Blindheit geschlagen«, sagte Dumbledore mit erhobener Stimme und glühenden Augen, und die Aura der Macht, die ihn umgab, war nun fast greifbar.»Geblendet durch Ihren Ehrgeiz, Cornelius! Wie immer legen Sie zu viel Wert auf die so genannte Reinheit des Blutes! Sie sehen einfach nicht, daß es nicht darauf ankommt, als was jemand geboren ist, sondern darauf, was aus ihm wird! Ihr Dementor hat soeben den letzten Sproß einer unserer ältesten reinblütigen Familien zerstört – und sehen Sie doch, was er willentlich aus seinem Leben gemacht hat! Ich sage es Ihnen noch einmal – tun Sie, was ich Ihnen vorgeschlagen habe, und in Ihrem Ministerium und draußen in der Zaubererwelt wird man Sie als einen unserer kühnsten und größten Zaubereiminister in Erinnerung behalten. Legen Sie die Hände in den Schoß – dann werden Sie in die Geschichte eingehenals der Mann, der beiseite trat und Voldemort eine zweite Möglichkeit bot, die Welt zu vernichten, die wir wieder aufzubauen versuchten!«
»Verrückt«, flüsterte Fudge und wich zurück.»Wahnsinnig…«
Und dann trat Stille ein. Madam Pomfrey stand erstarrt, die Hände auf den Mund gepreßt, am Fußende von Harrys Bett. Mrs Weasley war immer noch über Harry gebeugt und hatte die Hände auf seine Schultern gelegt, um ihn zu beschwichtigen. Bill, Ron und Hermine starrten Fudge an.
»Wenn Ihr Wille, die Augen zu verschließen, Sie so weit bringt, Cornelius«, sagte Dumbledore,»dann trennen sich nun unsere Wege. Sie müssen tun, was Sie für richtig halten. Und ich – ich werde tun, was ich für richtig halte.«
In Dumbledores Stimme lag nicht die Spur einer Drohung; was er sagte, klang eher wie eine Feststellung, doch Fudge brauste auf, als wäre Dumbledore mit dem Zauberstab auf ihn losgegangen.
»Jetzt reicht es aber, Dumbledore«, sagte er und fuchtelte drohend mit dem Zeigefinger,»ich habe Ihnen immer freie Hand gelassen. Ich hatte eine Menge Hochachtung vor Ihnen. Ich war vielleicht mit einigen Ihrer Entscheidungen nicht einverstanden, doch ich habe den Mund gehalten. So ohne weiteres hätte kein anderer Ihnen erlaubt, Werwölfe einzustellen oder Hagrid zu behalten oder selbst zu entscheiden, was Sie Ihren Schülern beibringen, ohne Rücksprache mit dem Ministerium. Doch wenn Sie jetzt gegen mich arbeiten wollen -«
»Der Einzige, gegen den ich zu arbeiten gedenke«, entgegnete Dumbledore,»ist Lord Voldemort. Wenn Sie gegen ihn sind, Cornelius, dann bleiben wir auf derselben Seite.«
Offenbar fiel Fudge darauf keine Antwort ein. Er wippte eine Weile auf seinen kleinen Füßen und drehte den Bowler in den Händen.
Als er schließlich den Mund aufmachte, lag etwas Flehendes in seiner Stimme:»Er kann nicht zurück sein, Dumbledore, das ist unmöglich…«
Snape trat vor, ging an Dumbledore vorbei und krempelte seinen rechten Ärmel hoch. Er streckte seinen Unterarm aus und zeigte ihn dem zurückschreckenden Fudge.
»Hier, sehen Sie«, sagte Snape barsch.»Hier. Das Dunkle Mal. Es ist nicht mehr so deutlich, wie es vor gut einer Stunde war, als es dunkelrot glühte, aber Sie können es noch immer sehen. Der dunkle Lord hatte jedem Todesser dieses Zeichen eingebrannt. Es diente uns als Erkennungszeichen und er benutzte es auch, um uns zu sich zu rufen. Wenn er das Mal irgendeines Todessers berührte, mußten wir sofort an seiner Seite apparieren. Dieses Zeichen hier ist das ganze Jahr über deutlicher geworden. Wie auch das von Karkaroff. Warum, glauben Sie, ist Karkaroff heute Nacht geflohen? Wir beide spürten das Mal brennen. Wir beide wußten, daß er zurückgekehrt war. Karkaroff fürchtet die Rache des dunklen Lords. Er hat zu viele seiner Gefolgsleute verraten und weiß, daß sie ihn nicht mit offenen Armen empfangen werden.«
Fudge wich jetzt auch vor Snape zurück. Er schüttelte den Kopf. Offenbar hatte er kein Wort dessen, was Snape gesagt hatte, wirklich aufgenommen. Er starrte sichtlich angewidert das häßliche Mal auf Snapes Arm an, dann sah er zu Dumbledore hoch und flüsterte:»Ich weiß nicht, worauf Sie und Ihre Lehrer es angelegt haben, Dumbledore, aber ich habe genug gehört. Meinen Worten habe ich nichts mehr hinzuzufügen. Morgen werde ich Verbindung mit Ihnen aufnehmen, Dumbledore, und mit Ihnen über die künftige Führung dieser Schule sprechen. Ich muß zurück ins Ministerium.«
Er war schon fast an der Tür, als er innehielt. Er wandte sich um, kam wieder durch den Saal geschritten und blieb vor Harrys Bett stehen.
»Dein Gewinn«, sagte er knapp, zog einen großen Goldbeutel aus der Tasche und ließ ihn auf Harrys Nachttisch fallen.»Eintausend Galleonen. Eine feierliche Preisverleihung war vorgesehen, aber unter diesen Umständen…«
Er drückte sich den Bowler auf den Kopf, marschierte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Sobald er verschwunden war, wandte sich Dumbledore der Gruppe um Harrys Bett zu.
»Es gibt einiges zu tun«, sagte er.»Molly… ich glaube wohl zu Recht, daß ich auf Sie und Arthur zählen kann?«
»Natürlich können Sie das«, sagte Mrs Weasley. Sie war kreidebleich, wirkte jedoch entschlossen.»Er weiß, was Fudge für einer ist. Weil Arthur so viel für die Muggel übrig hat, legen sie ihm im Ministerium seit Jahren schon Steine in den Weg. Fudge meint, es fehle ihm an Zaubererstolz.«
»Dann muß ich Arthur eine Botschaft schicken«, sagte Dumbledore.»Alle, die wir von der Wahrheit überzeugen können, müssen sofort benachrichtigt werden, und Arthur hat den richtigen Posten, um mit den Leuten im Ministerium Verbindung aufzunehmen, die nicht so kurzsichtig sind wie Cornelius.«
»Ich gehe zu Dad«, sagte Bill und stand auf.»Und zwar sofort.«
»Bestens«, sagte Dumbledore.»Sagen Sie ihm, was geschehen ist. Sagen Sie, ich werde bald direkt mit ihm Kontakt aufnehmen. Wir müssen allerdings verschwiegen sein. Wenn Fudge denkt, ich würde mich im Ministerium einmischen -«
»Überlassen Sie das mir«, sagte Bill.
Er gab Harry einen Klaps auf die Schulter, küßte seine Mutter auf die Wange, zog den Umhang über und ging mit raschen Schritten hinaus.
»Minerva«, sagte Dumbledore und wandte sich an Professor McGonagall,»ich möchte, daß Hagrid so schnell wie möglich in meinem Büro erscheint. Und auch – sofern sie einverstanden ist – Madame Maxime.«
Professor McGonagall nickte und ging ohne ein Wort zu verlieren hinaus.
»Poppy«, sagte er zu Madam Pomfrey,»seien Sie so nett und gehen Sie hinunter in Professor Moodys Büro, wo Sie, wie ich vermute, eine recht aufgelöste Hauselfe namens Winky finden. Tun Sie für die Elfe, was in Ihren Kräften steht, und geleiten Sie sie dann zurück in die Küche. Ich denke, Dobby wird uns den Gefallen tun und sich um sie kümmern.«
»Ja – natürlich«, sagte Madam Pomfrey verdutzt, und auch sie ging hinaus.
Dumbledore vergewisserte sich, daß die Tür geschlossen war und Madam Pomfreys Schritte sich entfernt hatten, dann erst hob er erneut die Stimme.
»Und nun«, sagte er,»ist es an der Zeit, daß zwei der hier Anwesenden erfahren, wer der jeweils andere ist. Sirius… bitte nimm deine gewöhnliche Gestalt an.«
Der große schwarze Hund sah zu Dumbledore auf, dann verwandelte er sich in Sekundenschnelle in einen ausgewachsenen Mann.
Mrs Weasley schrie auf und sprang vom Bett zurück.
»Sirius Black!«, kreischte sie und deutete mit dem Finger auf ihn.
»Mum, beruhige dich!«, rief Ron.»Es ist alles in Ordnung!«
Snape hatte nicht geschrien und war auch nicht zurückgewichen, aber auf seinem Gesicht war eine Mischung aus Zorn und Entsetzen zu sehen.
»Der!«, raunzte er und starrte Sirius an, dem nicht weniger Abscheu im Gesicht geschrieben stand.»Was tut der hier!«
»Er ist meiner Einladung gefolgt«, sagte Dumbledore und sah die beiden abwechselnd an,»wie auch Sie, Severus. Ich vertraue euch beiden. Es ist an der Zeit, daß ihr die alten Streitigkeiten begrabt und euch gegenseitig vertraut.«
Harry fand, daß Dumbledore fast ein Wunder verlangte. Sirius und Snape beäugten sich mit allergrößtem Abscheu.
»Fürs Erste«, sagte Dumbledore mit einer Spur Ungeduld in der Stimme,»gebe ich mich auch mit dem Verzicht auf offene Feindseligkeiten zufrieden. Ihr werdet euch jetzt die Hände reichen. Ihr seid jetzt auf derselben Seite. Die Zeit ist knapp, und wenn die wenigen von uns, die die Wahrheit kennen, nicht zusammenhalten, gibt es für keinen von uns Hoffnung.«
Ganz langsam – doch immer noch mit bösen Blicken, als ob jeder dem anderen das Schlimmste an den Hals wünschte – bewegten Sirius und Snape die Hände aufeinander zu und überwanden sich zu einem Händedruck. Wie von der Tarantel gestochen ließen sie gleich wieder los.
»Das wird fürs Erste genügen«, sagte Dumbledore und trat erneut zwischen sie.»Nun habe ich Aufträge für euch beide. Fudges Haltung, wiewohl nicht unerwartet, ändert alles. Sirius, ich muß dich bitten, sofort abzureisen. Du mußt Remus Lupin, Arabella Figg und Mundungus Fletcher alarmieren – die alten Kämpfer. Tauch eine Weile bei Lupin unter, ich werde dort Verbindung mit dir aufnehmen.«
»Aber -«, sagte Harry.
Er wollte nicht, daß Sirius ging. Er mochte sich nicht schon wieder so schnell von ihm trennen.
»Wir werden uns sehr bald wieder sehen«, sagte Sirius zu Harry gewandt.»Das versprech ich dir. Aber ich muß tun, was in meinen Kräften steht, das verstehst du doch?«
»Jaah«, sagte Harry.»Jaah… natürlich.«
Sirius nahm kurz seine Hand, nickte Dumbledore zu, verwandelte sich wieder in den schwarzen Hund und rannte durch den Saal zur Tür, deren Klinke er mit der Pfote hinunterdrückte. Dann war er verschwunden.
»Severus«, sagte Dumbledore an Snape gewandt,»Sie wissen, was ich von Ihnen verlangen muß. Wenn Sie willens sind… wenn Sie bereit sind…«
»Das bin ich«, sagte Snape.
Er sah ein wenig bleicher aus als sonst und seine kalten schwarzen Augen glitzerten eigenartig.
»Viel Glück«, sagte Dumbledore. Mit einem Anflug von Besorgnis auf dem Gesicht sah er Snape nach, der ohne ein weiteres Wort Sirius hinaus zur Tür folgte.
Es vergingen einige Minuten, bis Dumbledore wieder sprach.
»Ich muß nach unten«, sagte er endlich.»Ich muß mit den Diggorys reden. Harry – nimm den Rest deines Schlaftranks. Wir treffen uns alle später.«
Dumbledore verschwand und Harry ließ sich in die Kissen zurücksinken. Hermine, Ron und Mrs Weasley sahen ihn an. Lange Zeit sprach niemand ein Wort.
»Du mußt den Rest deines Tranks nehmen, Harry«, sagte Mrs Weasley schließlich. Als sie nach der Flasche und der Trinkschale langte, stieß sie mit der Hand an den Goldbeutel auf dem Nachttisch.»Du brauchst jetzt einen schönen langen Schlaf. Versuch mal eine Zeit lang an etwas anderes zu denken… denk daran, was du dir mit deinem Gewinn kaufen kannst!«
»Ich will dieses Gold nicht«, sagte Harry mit ausdrucksloser Stimme.»Nehmen Sie es. Oder irgendwer. Ich hätte es nicht gewinnen dürfen. Es stand eigentlich Cedric zu.«
Das, wogegen er immer wieder angekämpft hatte, seit er aus dem Irrgarten aufgetaucht war, drohte ihn nun zu überwältigen. An seinen inneren Augenwinkeln spürte er ein Stechen und Brennen. Blinzelnd starrte er zur Decke hoch.
»Es war nicht deine Schuld, Harry«, flüsterte Mrs Weasley sanft.
»Ich wollte, daß wir den Pokal zusammen gewinnen«, sagte Harry.
Nun war das Brennen auch in seiner Kehle. Er wünschte sich, Ron würde wegsehen.
Mrs Weasley stellte den Trank zurück auf den Nachttisch, beugte sich über Harry und nahm ihn in die Arme. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so umarmt worden zu sein, umarmt wie von einer Mutter. Nun, da ihn Mrs Weasley so fest hielt, schien all das, was er gesehen hatte, mit Macht auf ihn einzudringen. Das Gesicht seiner Mutter, die Stimme seines Vaters, der Anblick Cedrics, tot auf der Erde liegend, all das begann nun in seinem Kopf zu wirbeln, bis er es kaum noch ertragen konnte und sein Gesicht verzerrte wider den Verzweiflungsschrei, der sich aus ihm herauskämpfte.
Es tat einen lauten Schlag und Mrs Weasley richtete sich erschrocken auf. Hermine stand am Fenster. Sie hielt etwas in der geschlossenen Hand.
»Verzeihung«, flüsterte sie.
»Dein Trank, Harry«, sagte Mrs Weasley rasch und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
Harry nahm ihn in einem Zug. Die Wirkung trat augenblicklich ein. Schwere, mächtige Wellen traumlosen Schlafes brachen sich über ihm, er fiel zurück in die Kissen und dachte an nichts mehr.