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Es war schon eine sehr merkwürdige Prozession, an der Harry da teilnahm. Krummbein trippelte voraus die Treppe hinunter. Dann kamen Lupin, Pettigrew und Ron, die aussahen, als wollten sie bei einem Dreibeinwettlauf antreten. Ihnen folgte Professor Snape, der, senkrecht schwebend und mit den Füßen gegen die Stufen schlagend, einen unheimlichen Anblick bot. In der Schwebe hielt ihn sein eigener Zauberstab, den Black auf Snapes Rücken gerichtet hielt. Harry und Hermine bildeten den Schluß.
In den Tunnel einzusteigen war schwierig. Lupin, Pettigrew und Ron mußten sich zur Seite drehen, um es zu schaffen; Lupin hielt Pettigrew weiterhin mit dem Zauberstab in Schach. Harry beobachtete, wie sie, aneinander gekettet, den Tunnel entlangstolperten. Krummbein ging munter voran. Black, mit Harry im Gefolge, ließ Snape vor sich herschweben, dessen leblos baumelnder Kopf immer wieder gegen die Tunnelwand schlug. Harry hatte den Eindruck, daß sich Black nicht darum scherte. Mühsam quälten sie sich voran.
»Du weißt, was das bedeutet?«, sagte Black zu Harry gewandt,»Pettigrew auszuhändigen?«
»Dann sind Sie frei«, sagte Harry~
»Ja…«, sagte Black.»Aber ich bin auch – ich weiß nicht, ob man es dir je gesagt hat – ich bin dein Pate.«
»Ja, ich weiß«, sagte Harry.
»Nun… deine Eltern wollten, daß ich dein Vormund werde«, sagte Black steif,»falls ihnen irgendwas geschehen sollte…«
Harry wartete. Meinte Black wirklich das, was Harry glaubte, daß er meinte?
»Ich verstehe natürlich, wenn du bei deiner Tante und deinem Onkel bleiben willst«, sagte Black.»Aber… nun… denk darüber nach. Sobald mein guter Name wiederhergestellt ist… wenn du ein… ein neues Zuhause willst«
In Harrys Magen startete ein kleines Feuerwerk.
»Wie – bei Ihnen wohnen?«, sagte Harry und stieß mit dem Kopf versehentlich gegen ein Stück Fels, das aus der Tunneldecke ragte.»Die Dursleys verlassen?«
»Natürlich, es war mir schon klar, daß du nicht willst«, sagte Black rasch.»Ich verstehe, ich dachte nur, ich -«
»Du bist wohl verrückt«, sagte Harry und seine Stimme krächzte längst genauso wie die von Black.»Natürlich will ich von den Dursleys weg! Hast du ein Haus? Wann kann ich einziehen?«
Black wandte sich um und sah ihn an; Snapes Kopf scheuerte über die Decke, doch Black schien es nicht zu kümmern.
»Du willst?«, sagte er.»Im Ernst?«
»Ja, im Ernst!«, sagte Harry.
Blacks ausgemergeltes Gesicht verzog sich zum ersten wirklichen Lächeln, das Harry bei ihm gesehen hatte. Es hatte eine verblüffende Wirkung: als ob ein zehn Jahre jüngerer Mensch hinter der ausgemergelten Maske zum Vorschein käme. Für einen kurzen Moment war er ganz deutlich jener lachende Mann bei der Hochzeit von Harrys Eltern.
Sie sprachen kein Wort mehr, bis sie das Ende des Tunnels erreicht hatten. Krummbein schoß pfeilschnell voran nach oben; offenbar hatte er bereits die Pfoten auf den Knoten am Baumstamm gesetzt, denn Lupin, Pettigrew und Ron kletterten nach oben, ohne daß von den tödlichen Peitschenhieben der Weide etwas zu hören war.
Black führte Snape am Zauberstab hoch und durch das Erdloch, dann trat er zur Seite und ließ Harry und Hermine vorbei. Endlich waren sie alle draußen.
Über die Ländereien war die Nacht hereingebrochen, das einzige Licht kam von den fernen Fenstern des Schlosses. Schweigend machten sie sich auf den Weg. Pettigrew atmete immer noch pfeifend und ließ gelegentlich ein Wimmern hören. In Harrys Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er würde die Dursleys verlassen. Er würde bei Sirius Black wohnen, dem besten Freund seiner Eltern… ihm war ein wenig schwindlig… was würden die Dursleys sagen, wenn er ihnen verkündete, er würde zu dem Gefangenen ziehen, den sie im Fernsehen gesehen hatten!
»Keine falsche Bewegung, Peter«, sagte Lupin vor ihnen in drohendem Ton. Den Zauberstab hielt er immer noch auf Pettigrews Brust gerichtet.
Schweigend zogen sie weiter und allmählich wurden die Lichter des Schlosses größer. Snape schwebte immer noch als unheimliche Gestalt vor Black her, sein Kinn schlug auf die Brust. Und dann -
Am Himmel tat sich ein Loch in den Wolken auf Plötzlich warfen sie dunkle Schatten aufs Gras. Der Mond tauchte sie in sein Licht.
Snape prallte mit Lupin, Pettigrew und Ron zusammen, die wie angewurzelt stehen geblieben waren. Black erstarrte. Er streckte den Arm aus, um Harry und Hermine zurückzuhalten.
Harry konnte Lupins Umrisse sehen. Er war steif geworden. Dann begannen seine Arme und Beine heftig zu zittern.
»O nein -«, japste Hermine.»Er hat heute Abend seinen Trank nicht genommen! Er ist gefährlich!«
»Rennt los«, flüsterte Black.»Rennt, und zwar schnell.«
Doch Harry konnte nicht einfach losrennen. Ron war an Pettigrew und Lupin gekettet. Er sprang vor, doch Black packte ihn um die Brust und warf ihn zurück.
»Überlaß das mir – lauf!«
Ein schauriges Knurren. Lupins Kopf zog sich in die Länge, dann der Körper. Die Schultern schrumpften. Ganz deutlich sah man Haare aus Gesicht und Händen sprießen, und die Hände ballten sich zu klauenartigen Pfoten – Krummbein standen die Haare zu Berge, er wich zurück -
Während der Werwolf sich aufbäumte und sein langes Maul aufriß, verschwand Black von Harrys Seite. Auch er hatte sich verwandelt – der gewaltige, bärengleiche Hund sprang mit einem mächtigen Satz vor – als der Werwolf sich von seiner Fessel befreit hatte, packte ihn der Hund am Nacken und zerrte ihn fort, weg von Ron und Pettigrew. Ineinander verbissen lagen sie da und zerfetzten sich mit ihren Krallen das Fell.
Harry erstarrte, gebannt von dem Anblick, und sah und hörte nichts außer den kämpfenden Tieren. Erst Hermines Schrei riß ihn aus seiner Trance -
Pettigrew hatte sich auf Lupins Zauberstab im Gras geworfen. Ron, ohnehin wacklig auf seinem bandagierten Bein, wurde umgerissen. Es gab einen Knall, einen Lichtblitz – und Ron regte sich nicht mehr. Ein weiterer Knall – Krummbein wirbelte durch die Luft, flog ins Gras und blieb eingekringelt liegen.
»Expelliarmus!«, schrie Harry und richtete den Zauberstab gegen Pettigrew; Lupins Zauberstab flog in den Nachthimmel und verschwand.»Bleib, wo du bist!«' rief Harry und stürzte los.
Doch zu spät. Pettigrew hatte sich verwandelt. Harry sah, wie der kahle Rattenschwanz mühelos durch die Fessel an Rons ausgestrecktem Arm glitt, und dann raschelte etwas im Gras davon.
Hinter sich hörte er ein Heulen und ein donnerndes Grollen; Harry wandte sich um und sah, wie der Werwolf die Flucht ergriff -, mit langen Sprüngen setzte er auf den Wald zu -
»Sirius, er ist fort, Pettigrew hat sich verwandelt!«, rief Harry.
Black blutete; am Maul und auf dem Rücken hatte er tiefe Risse, doch bei Harrys Worten rappelte er sich hoch und kurz darauf jagte er über das Gelände, bis das Trommeln der Pfoten langsam leiser wurde und erstarb.
Harry und Hermine rannten hinüber zu Ron.
»Was hat er ihm getan?«, flüsterte Hermine. Rons Augen waren nur halb geschlossen, der Mund stand offen. Er lebte noch, das war sicher, sie konnten ihn atmen hören, doch er schien sie nicht zu erkennen.
»Ich weiß nicht…«
Verzweifelt blickte sich Harry um. Black und Lupin waren verschwunden… jetzt hatten sie niemanden mehr außer Snape, der immer noch bewußtlos über dem Boden schwebte.
»Wir gehen besser hoch zum Schloß und holen Hilfe«, sagte Harry. Er wischte sich die Haare aus den Augen und versuchte klar zu denken.»Komm mit -«
Doch dann drang ein Jaulen und Wimmern aus der Dunkelheit herüber; ein Hund, der Qualen litt…
»Sirius«, murmelte Harry und starrte in die Nacht hinein.
Einen Moment lang zögerte er, doch im Augenblick konnten sie nichts für Ron tun, und wie es sich anhörte, war Black in Schwierigkeiten -
Harry rannte los und Hermine setzte ihm nach. Das Jaulen schien vom Ufer des Sees her zu kommen. Sie hetzten darauf zu, und mitten im Lauf spürte Harry die Wand aus Kälte, doch er achtete nicht darauf
Plötzlich verstummte das Jaulen. Am Seeufer angelangt, sahen sie, warum – Sirius hatte sich in einen Mann zurückverwandelt; er kauerte auf allen Vieren, die Hände über dem Kopf verschränkt.
»Neiiiiin«, stöhnte er,»neiiiin… bitte…«
Und dann sah Harry die Dementoren. Mindestens hundert Gestalten schoben sich wie eine schwarze Masse um den See herum auf sie zu. Er wirbelte herum und schon durchdrang die vertraute eisige Kälte seine Eingeweide, und Nebel nahm ihm die Sicht; noch mehr Gestalten erschienen von beiden Seiten aus der Dunkelheit; sie wurden eingekreist…
»Hermine, denk an ein glückliches Erlebnis!«, rief Harry und hob den Zauberstab. Er blinzelte verzweifelt, um etwas sehen zu können, und schüttelte den Kopf, um das leise Schreien in seinen Ohren loszuwerden, das allmählich lauter wurde -
Ich werde bei meinem Paten leben und nie mehr bei den Dursleys.
Er zwang sich an Black zu denken und nur an Black und begann seinen Singsang:
»Expecto patronum! Expecto patronum!«
Black schauderte, kippte zur Seite und blieb reglos und fahl wie der Tod auf der Erde liegen.
Er wird wieder gesund werden. Ich werde bei ihm leben.
»Expecto patronum! Hermine, hilf mir! Expecto patronum!«
»Expecto -«, flüsterte Hermine,»expecto – expecto -«
Doch sie schaffte es nicht. Die Dementoren schlossen den Kreis und waren jetzt nur noch drei Meter von ihnen entfernt. Sie bildeten einen undurchdringlichen Ring um Harry und Hermine und zogen ihn immer enger…
»Expecto patronum!«, rief Harry und versuchte das Schreien in seinen Ohren zu übertönen.»Expecto patronum!«
Ein dünner silberner Faden schoß aus seinem Zauberstab und blieb wie ein Nebelschleier vor ihm schweben. Im selben Moment spürte Harry, wie Hermine neben ihm zusammenbrach. Er war allein… vollkommen allein.
»Expecto – expecto patronum -«
Harry spürte, wie er mit den Knien ins kalte Gras fiel. Nebel waberte um ihn auf. Er zermarterte sich das Hirn mit dem einen Gedanken – Sirius war unschuldig – unschuldig – es wird uns gut gehen – ich werde bei ihm leben -
»Expecto patronum!«, keuchte er.
Im schwachen Licht seines gestaltlosen Patronus sah er, wie ein Dementor innehielt, ganz nahe bei ihm. Er konnte nicht durch das silbrige Licht dringen, das Harry heraufbeschworen hatte. Eine tote, schleimige Hand glitt unter dem Mantel hervor. Sie machte eine Geste, als wolle sie den Patronus beiseite fegen.
»Nein – nein -«, keuchte Harry.»Er ist unschuldig… expecto – expecto patronum -«
Er spürte, wie sie ihn beobachteten, ihr rasselnder Atem kam ihm vor wie ein wütender Sturm. Dieser Dementor schien es auf ihn abgesehen zu haben. Er hob die verrotteten Hände – und zog die Kapuze vom Gesicht.
Dort, wo die Augen hätten sein sollen, war nur dünne, schorfige Haut, die sich glatt über die leeren Höhlen spannte. Doch er hatte einen Mund… einen tiefen, unförmigen Schlund, und sein Atmen klang wie ein Todesröcheln. Lähmendes Grauen überkam Harry, er konnte sich weder rühren noch sprechen. Sein Patronus flackerte auf und erstarb.
Weißer Nebel blendete ihn. Er mußte kämpfen… expecto patronum… er konnte nichts mehr sehen… und in der Ferne hörte er das vertraute Schreien… expecto patronum… er tastete im Nebel nach Sirius und fand seinen Arm… er würde nicht zulassen, daß sie ihn fortnahmen…
Doch ein paar kräftige, naßkalte Hände klammerten sich plötzlich um Harrys Hals. Der Dementor drückte ihm das Kinn nach oben… Harry spürte seinen Atem… sie wollten ihn zuerst erledigen… er roch den widerlichen Atem… seine Mutter schrie in seinen Ohren – das würde das Letzte sein, was er hörte -
Und dann, durch den Nebel, der ihn ertränkte, glaubte er ein silbernes Licht zu sehen, das heller und heller wurde… er spürte, wie er aufs Gras fiel -
Das Gesicht im Gras, zu schwach, um sich zu rühren, zitternd vor Übelkeit, öffnete er die Augen. Der Dementor mußte ihn losgelassen haben – blendend helles Licht fiel auf das Gras um ihn her – das Schreien hatte aufgehört, die Kälte wich… Etwas trieb die Dementoren davon… es kreiste um ihn und Black und Hermine… die Dementoren schwebten fort… die Luft erwärmte sich…
Mit allerletzter Kraft hob Harry den Kopf noch ein wenig höher und sah inmitten des Lichts ein Tier, das über den See davongaloppierte… mit schweißgetrübten Augen versuchte Harry zu erkennen, was es war… es war hell wie ein Einhorn… Harry, verzweifelt gegen die Ohnmacht ankämpfend, sah, wie es drüben am anderen Ufer ankam und sich aufbäumte. So hell war das Wesen, daß er noch sehen konnte, wie jemand es herzlich begrüßte… die Hand hob und es tätschelte… jemand, der ihm seltsam bekannt vorkam… doch das konnte nicht sein
Harry begriff nicht. Er konnte nicht mehr denken. Die letzten Kräfte schwanden ihm und sein Kopf schlug zu Boden. Er war ohnmächtig.