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»Harry!«
Hermine zupfte ihn am Ärmel und starrte auf die Uhr.»Wir haben genau zehn Minuten, um in den Krankenflügel runterzukommen, bevor Dumbledore die Tür schließt – und keiner darf uns sehen!«
»Okay«, sagte Harry und wandte sich widerwillig vom Nachthimmel ab,»gehen wir…«
Sie schlüpften durch die Turmtür und stiegen eine schmale Wendeltreppe hinunter. Unten angekommen, hörten sie Stimmen. Sie drängten sich in eine Nische in der Wand und lauschten. Die Stimmen klangen nach Fudge und Snape, die rasch den Korridor entlanggingen, in dem Harry und Hermine standen.
»…hoffe nur, Dumbledore macht keine Scherereien«, sagte Snape.»Der Kuß wird doch sofort ausgeführt?«
»Sobald Macnair mit den Dementoren zurückkommt. Diese ganze Affäre mit Black war äußerst peinlich. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue, dem Tagespropheten mitteilen zu können, daß wir ihn endlich gefaßt haben… die werden mit Ihnen sprechen wollen, Snape… und sobald der Junge Harry wieder bei Verstand ist, möchte er den Zeitungsleuten sicher genau erzählen, wie Sie ihn gerettet haben…«
Harry biß die Zähne zusammen. Fudge und Snape gingen jetzt an ihrem Versteck vorbei und er erhaschte einen Blick auf Snapes grinsendes Gesicht. Ihre Schritte wurden leiser und erstarben. Um sicherzugehen, warteten Harry und Hermine noch einige Sekunden, dann rannten sie in die andere Richtung: eine Treppe hinunter, noch eine, durch einen Korridor – und dann hörten sie vor sich ein gackerndes Lachen.
»Peeves!«, zischte Harry und packte Hermine am Handgelenk,»da rein!«
Gerade noch rechtzeitig stürzten sie in ein leeres Klassenzimmer zur Linken. Peeves hüpfte in bester Laune den Korridor entlang und schien sich vor Lachen nicht mehr einzukriegen.
»Oh, ist der abscheulich«, wisperte Hermine, das Ohr an der Tür.»Ich wette, er ist ganz aus dem Häuschen, weil die Dementoren Sirius erledigen wollen…«Sie sah auf die Uhr.»Noch drei Minuten, Harry!«
Sie warteten, bis Peeves' schadenfroher Singsang in der Ferne verstummt war, dann glitten sie aus dem Zimmer und rannten erneut los.
»Hermine – was passiert – wenn wir nicht reinkommen – bevor Dumbledore die Tür schließt?«, hechelte Harry.
»Daran will ich gar nicht denken!«, stöhnte Hermine und sah wieder auf die Uhr.»Eine Minute noch!«
Sie waren im Korridor zum Krankenflügel angelangt.»Gut – ich kann Dumbledore hören«, sagte Hermine- angespannt.»Komin, Harry!«
Sie schlichen den Gang entlang. Die Tür öffnete sich. Dumbledores Rücken erschien.
»Ich werde euch einschließen«, hörten sie ihn sagen.»Es ist fünf Minuten vor zwölf Hermine, drei Drehungen sollten genügen. Viel Glück.«
Dumbledore trat heraus, schloß die Tür und nahm seinen Zauberstab, um sie magisch zu verschließen. Von Panik gepackt stürzten Harry und Hermine auf ihn zu. Dumbledoresah auf und ein breites Lächeln erschien unter seinem langen silbernen Schnurrbart.»Nun?«, fragte er leise.
»Wir haben's geschafft!«, sagte Harry atemlos.»Sirius ist geflohen, auf dem Rücken von Seidenschnabel…«
Dumbledore strahlte.
»Gut gemacht. Ich glaube -«, er lauschte aufmerksam an der Tür zum Krankensaal.»Ja, ich glaube, auch ihr seid fort – geht rein – ich schließe euch ein -«
Harry und Hermine schlüpften durch die Tür. Der Saal war fast leer, nur Ron lag immer noch reglos im letzten Bett. Die Tür klickte ins Schloß und Harry und Hermine krochen in ihre Betten zurück. Hermine steckte den Zeitumkehrer unter ihren Umhang. Und schon kam Madam Pomfrey aus ihrem Büro gewuselt.
»Hab ich den Direktor gehen hören? Darf ich jetzt nach meinen Patienten schauen?«
Sie hatte ausgesprochen schlechte Laune. Harry und Hermine hielten es für das Beste, ihr stumm die Schokolade abzunehmen. Madam Pomfrey stand neben ihnen und paßte auf, daß sie ihre Medizin auch aßen. Doch Harry konnte kaum schlucken. Er und Hermine warteten, lauschten, ihre Nerven lagen blank… Und dann, als sie beide das vierte Stück Schokolade hinunterwürgten, hörten sie aus der Ferne, irgendwo über ihnen, ein zorniges Grollen…
»Was war das?«, fragte Madam Pomfrey aufgeschreckt.
Jetzt konnten sie wütende Stimmen hören, die immer lauter wurden. Madam Pomfrey starrte zur Tür.
»Also wirklich – sie wecken alle auf! Was bilden die sich eigentlich ein?«
Harry versuchte zu verstehen, was die Stimmen sagten. Sie kamen näher -
»Er muß desappariert sein, Severus, wir hätten jemanden bei ihm lassen sollen – wenn das rauskommt -«
»Von wegen desappariert!«, brüllte Snape, jetzt ganz in der Nähe.»Man kann in diesem Schloß weder apparieren noch desapparieren! Das – hat – etwas – mit – Potter – zu – tun!«
»Severus, seien Sie vernünftig – Harry war doch eingeschlossen -«
Krach.
Die Tür zum Krankensaal flog auf
Fudge, Snape und Dumbledore kamen herein. Einzig Dumbledore sah gelassen aus. Tatsächlich sah er fast aus, als würde er sich amüsieren. Fudge schien verärgert. Doch Snape war außer sich.
»Raus mit der Sprache, Potter!«, bellte er.»Was hast du getan!«
»Professor Snape!«, kreischte Madam Pomfrey.»Benehmen Sie sich!«
»Snape, seien Sie vernünftig«, sagte Fudge,»diese Tür war verschlossen, das haben wir eben festgestellt -«
»Die beiden haben ihm geholfen zu fliehen, ich weiß es!«, heulte Snape und deutete auf Harry und Hermine. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt und Spucke sprühte ihm aus dem Mund.
»Beruhigen Sie sich, Mann!«, bellte jetzt Fudge.»Sie reden Unsinn!«
»Sie kennen Potter nicht!«, kreischte Snape.»Er hat es getan, ich weiß es genau!«
»Nun ist es aber gut, Severus«, sagte Dumbledore.»Denken Sie mal darüber nach, was Sie sagen. Diese Tür war verschlossen, seit ich vor zehn Minuten hier raus bin. Madam Pomfrey, haben diese Schüler ihre Betten verlassen?«
»Natürlich nicht!«, sagte Madam Pomfrey entrüstet.»Das hätte ich gehört!«
»Nun, da haben Sie's, Severus«, sagte Dumbledore sanft.»Wenn Sie nicht behaupten wollen, daß Harry und Hermine an zwei Orten zugleich sein können, sehe ich nicht, warum wir sie noch länger stören sollten.«
Snape brodelte immer noch vor Zorn und sein Blick wanderte von Fudge, der von Snapes Gebaren zutiefst schockiert schien, zu Dumbledore, dessen Augen hinter den Brillengläsern funkelten. Snape wirbelte herum und stürmte mit wehendem Umhang aus dem Krankensaal.
»Der Bursche scheint recht durcheinander zu sein«, sagte Fudge und starrte ihm nach.»Ich würde ihn im Auge behalten, wenn ich Sie wäre, Dumbledore.«
»Oh, er ist nicht durcheinander«, sagte Dumbledore gelassen.»Er hat nur eben gerade eine schwere Enttäuschung erlitten.«
»Da ist er nicht der Einzige!«, seufzte Fudge.»Ich seh schon die Schlagzeile im Tagespropheten! Wir hatten Black schon dingfest gemacht und er ist uns wieder entwischt! Jetzt muß nur noch ans Licht kommen, daß dieser Hippogreif auch entkommen ist, und ich bin das Gespött der Leute! Nun… ich verschwinde jetzt besser und benachrichtige das Ministerium…«
»Und die Dementoren?«, sagte Dumbledore.»Sie werden von der Schule abgezogen, oder etwa nicht?«
»O doch, sie müssen gehen«, sagte Fudge und fuhr sich zerstreut mit den Fingern durch die Haare.»Hätte mir nie träumen lassen, daß sie versuchen würden, einem unschuldigen Kind ihren Kuß zu verpassen… völlig außer Kontrolle… nein, ich laß sie heute Abend noch nach Askaban verfrachten… vielleicht sollten wir über Drachen am Schuleingang nachdenken…«
»Da wäre Hagrid gleich dabei«, sagte Dumbledore und lächelte Harry und Hermine zu.
Als er und Fudge den Schlafsaal verlassen hatten, flitzte Madam Pomfrey gleich zur Tür und schloß ab. Zornig vor sich hin murmelnd eilte sie zurück in ihr Büro.
Ein leises Stöhnen drang vom anderen Ende des Saals herüber. Ron war aufgewacht. Er setzte sich auf, rieb sich den Kopf und sah sich um.
»Was… was ist passiert?«, ächzte er.»Harry? Warum sind wir hier? Wo ist Black? Was ist eigentlich los?«
Harry und Hermine sahen sich an.
»Erklär du mal«, sagte Harry und nahm sich noch ein wenig Schokolade.
Als Harry, Ron und Hermine am nächsten Tag um die Mittagszeit den Krankenflügel verließen, fanden sie ein fast menschenleeres Schloß vor. Die flirrende Hitze und das Ende der Prüfungen hatten alle auf die Idee gebracht, wieder mal nach Hogsmeade zu gehen. Weder Ron noch Hermine hatten große Lust dazu, und so wanderten sie mit Harry über die Ländereien und unterhielten sich über die erstaunlichen Ereignisse der vergangenen Nacht. Wo Sirius und Seidenschnabel inzwischen wohl waren?
Sie ließen sich am Seeufer nieder und beobachteten den Riesenkraken, der mit seinen Greifarmen faul im Wasser planschte. Harry verlor den Gesprächsfaden, als er hinüber auf die andere Seite sah. Vom anderen Ufer her war der Hirsch letzte Nacht auf ihn zugaloppiert…
Ein Schatten fiel über sie und als sie aufblickten, stand ein recht trübäugiger Hagrid hinter ihnen. Er wischte sich mit einem seiner tischtuchgroßen Taschentücher den Schweiß vom Gesicht und strahlte sie an.
»Ich weiß, ich sollte nicht so guter Laune sein, nach dem, was gestern Nacht passiert ist«, sagte er.»Wo doch Black schon wieder geflohen ist – aber wißt ihr was?«
»Was?«, sagten sie und setzten ernste Mienen auf.
»Schnäbelchen! Er ist entkommen! Er ist frei! Hab die ganze Nacht gefeiert!«
»Das ist ja toll!«, sagte Hermine und warf Ron, der kaum das Lachen unterdrücken konnte, einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Jaah… muß ihn wohl nicht richtig festgebunden haben«, sagte Hagrid und ließ den Blick glückselig über das Land schweifen.»Hab mir heute Morgen allerdings doch Sorgen gemacht, Leute… dachte, er wäre irgendwo da draußen vielleicht Professor Lupin über den Weg gelaufen, aber Lupin sagt, er hätte gestern Nacht überhaupt nichts gefressen…«
»Wie bitte?«, sagte Harry rasch.
»Hol mich der Teufel, habt ihr's noch nicht gehört?«, fragte Hagrid und sein Lächeln verblaßte ein wenig. Obwohl niemand in der Nähe war, senkte er die Stimme.»Ähm – Snape hat es heute Morgen den Slytherins gesagt… dachte, ihr wüßtet es inzwischen… Professor Lupin ist nämlich ein Werwolf. Und er hat sich letzte Nacht auf den Ländereien rumgetrieben… er packt jetzt natürlich seine Sachen.«
»Er packt?«, sagte Harry erschrocken.»Warum?«
»Tja, er muß gehen, nicht wahr?«, sagte Hagrid und schien überrascht, daß Harry auch noch fragen konnte.»Hat gleich heute Morgen gekündigt. Sagt, er könne es nicht riskieren, daß es noch einmal passiert.«
Harry rappelte sich hoch.
»Ich geh zu ihm«, sagte er zu Ron und Hermine gewandt.
»Aber wenn er gekündigt hat -«
»- klingt nicht so, als könnten wir noch was tun -«
»Ist mir egal. Ich will trotzdem mit ihm reden. Wir treffen uns dann hier.«
Lupins Bürotür stand offen. Er war mit Packen fast fertig. Der leere Glasbehälter des Grindelohs stand neben seinem zerbeulten alten Koffer, in dem nicht mehr viel Platz war. Lupin beugte sich über etwas auf seinem Schreibtisch und sah erst auf, als Harry an die Tür klopfte.
»Ich hab dich kommen sehen«, sagte Lupin lächelnd. Er deutete auf das Pergament, über dem er gebrütet hatte. Es war die Karte des Rumtreibers.
»Ich hab eben Hagrid gesehen«, sagte Harry.»Und er meinte, Sie hätten gekündigt. Das stimmt doch nicht, oder?«
»Ich fürchte, doch«, sagte Lupin. Er fing jetzt an, die Schreibtischschubladen herauszuziehen und sie zu leeren.
»Warum?«, sagte Harry.»Das Zaubereiministerium glaubt doch nicht, daß Sie Sirius geholfen haben, oder?«
Lupin ging zur Tür und schloß sie.
»Nein. Professor Dumbledore konnte Fudge davon überzeugen, daß ich versucht habe, euch das Leben zu retten.«Er seufzte.»Das hat das Faß für Severus zum Überlaufen gebracht. Ich glaube, es hat ihn schwer getroffen, daß er den Orden des Merlin nun doch nicht bekommt. Also hat er heute Morgen beim Frühstück – ähm – versehentlich ausgeplaudert, daß ich ein Werwolf bin.«
»Sie gehen doch nicht etwa deswegen!«, sagte Harry.
Lupin lächelte gequält.
»Morgen um diese Zeit trudeln die Eulen von den Eltern ein… sie werden keinen Werwolf als Lehrer ihrer Kinder haben wollen, Harry. Und nach dem, was letzte Nacht passiert ist, kann ich sie verstehen. Ich hätte jeden von euch beißen können… das darf nie mehr vorkommen.«
»Sie sind der beste Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste, den wir je hatten!«, sagte Harry.»Bleiben Sie!«
Lupin schüttelte den Kopf und schwieg. Er räumte die nächste Schublade aus. Dann, während Harry noch nach einem guten Grund suchte, um ihn zum Bleiben zu bewegen, sagte Lupin:
»Nach dem, was der Schulleiter mir heute Morgen erzählt hat, hast du letzte Nacht einige Leben gerettet, Harry. Wenn ich dieses Jahr auf etwas stolz sein kann, dann darauf, wie viel du gelernt hast… erzähl mir von deinem Patronus.«
»Woher wissen Sie das?«
»Was sonst hätte die Dementoren vertreiben können?«
Harry schilderte Lupin, was geschehen war. Am Ende lächelte Lupin.
»Ja, dein Vater hat sich immer in einen Hirsch verwandelt«, sagte er.»Du hast richtig geraten… darum haben wir ihn Krone genannt.«
Lupin warf die letzten Bücher in den Koffer, schloß die Schubladen und wandte sich Harry zu.
»Hier – das hab ich letzte Nacht aus der Heulenden Hütte geholt«, sagte er und gab Harry den Tarnumhang zurück.»Und…«, er zögerte, dann streckte er ihm auch die Karte des Rumtreibers entgegen.»Ich bin nicht mehr dein Lehrer, also fühle ich mich auch nicht unwohl dabei, wenn ich sie dir zurückgebe. Ich kann sie nicht gebrauchen und ich bin sicher, Ron und Hermine werden sie noch nützlich finden.«
Grinsend nahm Harry die Karte entgegen.
»Sie haben gesagt, Moony, Wurmschwanz, Tatze und Krone hätten mich aus der Schule locken wollen… sie hätten das lustig gefunden.«
»Das hätten wir auch getan«, sagte Lupin und bückte sich, um den Koffer zu schließen.»Ich will dir nicht verhehlen, daß James mächtig enttäuscht gewesen wäre, wenn sein Sohn nie einen der Geheimgänge aus dem Schloß gefunden hätte.«
Jemand klopfte. Harry stopfte die Karte und den Tarnumhang hastig in die Tasche.
Es war Professor Dumbledore. Er schien nicht überrascht, Harry vorzufinden.
»Ihre Kutsche wartet vorne am Tor, Remus«, sagte er.
»Vielen Dank, Direktor.«
Lupin hob seinen alten Koffer und den leeren Grindeloh-Kasten hoch.
»Also – auf Wiedersehen, Harry«, sagte er lächelnd.»Es hat richtig Spaß gemacht, dein Lehrer zu sein. Ich bin sicher, wir sehen uns eines Tages wieder. Direktor, Sie müssen mich nicht hinausbegleiten, ich schaff das schon…«
Harry hatte den Eindruck, als wolle Lupin so schnell wie möglich fort.
»Dann auf Wiedersehen, Remus«, sagte Dumbledore trocken. Lupin nahm den Glaskasten unter den Arm und schüttelte Dumbledore die Hand. Dann, mit einem letzten Kopfnicken für Harry und dem Anflug eines Lächelns, ging Lupin hinaus.
Harry setzte sich auf Lupins Stuhl und starrte trübselig zu Boden. Er hörte die Tür ins Schloß fallen und sah auf Dumbledore war noch da.
»Warum so niedergeschlagen, Harry?«, fragte er sanft.»Nach der letzten Nacht solltest du sehr stolz auf dich sein.«
»Ich hab doch nichts ausrichten können«, sagte Harry erbittert.»Pettigrew ist entkommen.«
»Nichts ausrichten?«, sagte Dumbledore leise.»Du hast etwas Entscheidendes geschafft, Harry. Du hast dazu beigetragen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Du hast einen Unschuldigen vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt.«
Schrecklich. Etwas regte sich in Harrys Gedächtnis. Größer und schrecklicher denn je… Die Vorhersage von Professor Trelawney!
»Professor Dumbledore – gestern, als ich meine Prüfung in Wahrsagen hatte, ist Professor Trelawney plötzlich – sehr merkwürdig geworden.«
»Tatsächlich?«, sagte Dumbledore.»Ähm – merkwürdiger als sonst, meinst du?«
»Ja… ihre Stimme war plötzlich ganz tief und ihre Augen kullerten und sie sagte… sie sagte, Voldemorts Knecht würde sich auf den Weg machen und noch vor Mitternacht zu ihm zurückkehren… der Knecht würde ihm helfen, wieder an die Macht zu kommen.«Harry blickte zu Dumbledore auf»Und dann wurde sie sozusagen wieder normal und sie konnte sich an nichts mehr erinnern. War das – war das eine echte Vorhersage?«
Dumbledore schien milde beeindruckt.
»Weißt du, Harry, ich glaube, das könnte sein«, sagte er nachdenklich.»Wer hätte das gedacht? Damit steigt die Zahl ihrer wahren Vorhersagen auf zwei. Ich sollte ihr eine Gehaltserhöhung anbieten…«
»Aber -«, Harry sah ihn entgeistert an. Wie konnte Dumbledore das nur so leicht nehmen?
»Aber – ich habe Sirius und Professor Lupin davon abgehalten, Pettigrew zu töten! Dann ist es meine Schuld, wenn Voldemort zurückkommt!«
»Keineswegs«, sagte Dumbledore gelassen.»Hat die Erfahrung mit dem Zeitumkehrer dich nichts gelehrt, Harry? Die Folgen unserer Handlungen sind immer so verwickelt, so vielfältig, daß die Vorhersage der Zukunft ein äußerst schwieriges Geschäft ist… Professor Trelawney, die Gute, ist der lebende Beweis dafür… du hast etwas sehr Achtenswertes getan, als du Pettigrews Leben gerettet hast.«
»Aber wenn er Voldemort hilft, an die Macht zu kommen!«
»Pettigrew verdankt dir sein Leben. Du hast Voldemort einen Gehilfen geschickt, der in deiner Schuld steht… wenn ein Zauberer das Leben eines anderen Zauberers rettet, entsteht ein gewisses Band zwischen ihnen… und ich müßte mich schwer irren, wenn Voldemort einen Knecht will, der in Harry Potters Schuld steht.«
»Ich will nichts mit Pettigrew zu tun haben!«, sagte Harry.»Er hat meine Eltern verraten!«
»Das ist ganz tiefe, undurchdringliche Magie, Harry. Aber glaub mir… der Tag mag kommen, an dem du sehr froh sein wirst, Pettigrew den Tod erspart zu haben.«
Harry konnte sich nicht vorstellen, wann das sein sollte. Dumbledore schien zu ahnen, was er dachte.
»Ich kannte deinen Vater sehr gut, Harry, sowohl in Hogwarts als auch später«, sagte er leise.»Auch er hätte Pettigrew das Leben gerettet, da bin ich sicher.«
Harry sah zu ihm auf. Dumbledore würde nicht lachen – ihm konnte er es sagen…
»Ich dachte, es wäre mein Dad, der den Patronus heraufbeschworen hat. Als ich mich selbst am anderen Ufer gesehen habe… dachte ich, ich würde ihn sehen.«
»Ein solches Versehen passiert leicht«, sagte Dumbledore sanft.»Es ist sicher nichts Neues für dich, aber du siehst James verblüffend ähnlich. Nur deine Augen… die Augen hast du von deiner Mutter.«
Harry schüttelte den Kopf
»Das war dumm von mir, zu denken, es wäre mein Dad«, murmelte er.»Ich weiß doch, daß er tot ist.«
»Glaubst du, die Toten, die wir liebten, verlassen uns je ganz? Glaubst du, es ist Zufall, daß wir uns in der größten Not am deutlichsten an sie erinnern? Du weißt, er lebt in dir weiter, Harry, und zeigt sich am deutlichsten, wenn du fest an ihn denkst. Wie sonst konntest du gerade diesen Patronus erschaffen? Er trat letzte Nacht wieder in dein Leben.«
Harry brauchte eine Weile, um Dumbledores Worte zu begreifen.
»Sirius hat mir letzte Nacht erzählt, wie sie Animagi wurden«, sagte Dumbledore lächelnd.»Eine ungeheure Leistung – und nicht zuletzt, daß sie es vor mir geheim gehalten haben. Und dann fiel mir ein, welch ungewöhnliche Gestalt dein Patronus annahm, als er Mr Malfoy beim Quidditch-Spiel gegen Ravenclaw so zusetzte. Weißt du, Harry, in gewisser Weise hast du deinen Vater letzte Nacht wieder gesehen… du hast ihn in dir selbst gefunden.«
Dumbledore ging hinaus und überließ Harry seinen arg verwirrten Gedanken.
Keiner in Hogwarts kannte jetzt die Wahrheit über das Geschehen in der Nacht, als Sirius, Seidenschnabel und Pettigrew verschwanden, außer Harry, Ron, Hermine und Dumbledore. Das Schuljahr ging nun rasch dem Ende zu und Harry hörte die unterschiedlichsten Theorien über das, was wirklich geschehen war. Doch keine kam der Wahrheit nahe.
Malfoy war wütend wegen Seidenschnabel. Er war überzeugt, Hagrid sei es irgendwie gelungen, den Hippogreif in Sicherheit zu bringen, und er schien außer sich vor Zorn, daß ein Wildhüter ihm und seinem Vater ein Schnippchen geschlagen hatte. Percy Weasley unterdessen hatte einiges zur Flucht von Sirius zu sagen.
»Wenn ich es schaffe, ins Ministerium zu kommen, werde ich denen mal erklären, wie man in der Zaubererwelt Recht und Ordnung durchsetzt!«, erklärte er dem einzigen Menschen, der zuhören wollte – seiner Freundin Penelope.
Das Wetter war herrlich, alle waren bestens gelaunt, Harry wußte, daß sie das fast Unmögliche geschafft und Sirius zur Freiheit verholfen hatten – und doch hatte er dem Ende eines Schuljahres noch nie so niedergeschlagen entgegengesehen.
Offensichtlich war er nicht der Einzige, der es schade fand, daß Professor Lupin gegangen war. Alle, die bei ihm Verteidigung gegen die dunklen Künste gehabt hatten, waren über seine Kündigung bestürzt.
»Ich frag mich, wen sie uns nächstes Jahr vorsetzen«, sagte Seamus Finnigan mit düsterer Miene.
»Vielleicht einen Vampir«, meinte Dean Thomas hoffnungsvoll.
Nicht allein der Abschied von Professor Lupin bedrückte Harry. Ständig mußte er an Professor Trelawneys Vorhersage denken. Er fragte sich immer wieder, wo Pettigrew jetzt wohl Steckte, ob er bereits Zuflucht bei Voldemort gefunden hatte. Doch was Harry die Laune besonders vermieste, war die Aussicht, zu den Dursleys zurückzukehren. Gut eine halbe Stunde lang, eine herrliche halbe Stunde lang hatte er geglaubt, er würde von nun an bei Sirius leben… beim besten Freund seiner Eltern… das wäre fast so gut gewesen, wie seinen Vater zurückzubekommen. Keine Nachricht von Sirius war natürlich eine gute Nachricht, denn das hieß, er hatte sich verstecken können. Und doch war Harry einfach elend zumute, wenn er an das Zuhause dachte, das er hätte haben können.
Am letzten Schultag bekamen sie die Prüfungsergebnisse. Harry, Ron und Hermine hatten es in jedem Fach geschafft. Harry war verblüfft, daß er in Zaubertränke nicht durchgefallen war. Er hatte den dunklen Verdacht, daß Dumbledore eingegriffen und Snape daran gehindert hatte, ihn absichtlich durchrasseln zu lassen. Wie Snape sich ihm gegenüber in der letzten Woche verhalten hatte, war äußerst beunruhigend. Harry hätte es nicht für möglich gehalten, daß Snape sich noch mehr in seinen Haß gegen ihn hineinsteigern würde, doch genauso war es. Jedes Mal, wenn er Harry ansah, zuckte es Unheil verkündend um seinen schmalen Mund und er ließ die Fingerknöchel knacken, als ob er danach gierte, die Finger ganz fest um Harrys Hals zu legen.
Percy hatte seinen UTZ geschafft, Fred und George um Haaresbreite ihren ersten ZAG. Die Gryffindors unterdessen hatten, vor allem dank der Aufsehen erregenden Leistung im Quidditch-Cup, das dritte Jahr in Folge die Hausmeisterschaft gewonnen. So war die Halle beim Abschlußfest ganz in Scharlachrot und Gold geschmückt und am Tisch der Gryffindors ging es bei der Feier natürlich am lautesten zu. Selbst Harry schaffte es, die Rückreise zu den Dursleys, die am nächsten Tag anstand, zu vergessen, und er feierte, redete und lachte mit den andern.
Als der Hogwarts-Express am nächsten Morgen aus dem Bahnhof fuhr, konnte Hermine mit einer erstaunlichen Neuigkeit für Harry und Ron aufwarten.
»Heute Morgen kurz vor dem Frühstück habe ich mit Professor McGonagall gesprochen. Ich habe beschlossen, Muggelkunde sausen zu lassen.«
»Aber du hast doch die Prüfung mit dreihundertundzwanzig Prozent geschafft!«, sagte Ron.
»Ich weiß«, seufzte Hermine,»aber noch ein Jahr wie dieses halte ich nicht aus. Dieser Zeitumkehrer hat mich ganz verrückt gemacht. Ich hab ihn zurückgegeben. Ohne Muggelkunde und Wahrsagen hab ich endlich wieder einen ganz gewöhnlichen Stundenplan.«
»Ich kann immer noch nicht fassen, daß du uns nichts davon gesagt hast«, grollte Ron.»Wo wir doch angeblich deine Freunde sind.«
»Ich habe versprochen, es niemandem zu sagen«, sagte Hermine streng. Sie wandte sich Harry zu, der aus dem Fenster sah, wie Hogwarts hinter einem Berg verschwand. Zwei ganze Monate, bis er es wieder sehen würde…
»Aach, Kopf hoch, Harry!«, sagte Hermine besorgt.
»Mir geht's gut«, sagte Harry rasch.»Ich denk nur an die Ferien.«
»Ja, daran hab ich auch gedacht«, sagte Ron.»Harry, du mußt uns besuchen kommen. Ich red erst mal mit Mum und Dad und dann ruf ich dich an. Ich weiß jetzt, wie man ein Feleton benutzt -«
»Ein Telefon, Ron«, sagte Hermine.»Ehrlich Mal, du solltest nächstes Jahr Muggelkunde belegen…«
Ron überging das.
»In diesem Sommer ist die Weltmeisterschaft im Quidditch! Wie wär's, Harry? Komm ein paar Wochen zu uns und wir gehen hin! Dad kriegt meist Karten übers Büro.«
Der Vorschlag verfehlte seine Wirkung nicht und heiterte Harry kräftig auf
»Jaah… ich wette, die Dursleys sind froh, wenn sie mich los sind… besonders nach dem, was ich mit Tante Magda angestellt hab…«
Um einiges besser gelaunt spielte Harry mit Ron und Hermine ein paar Partien Snape explodiert, und als die Hexe mit dem Teewagen an die Tür kam, kaufte er sich ein recht üppiges Mittagessen, allerdings nichts mit Schokolade drin.
Doch spät am Nachmittag dann tauchte das, was ihn so unglücklich machte, wieder auf…
»Harry«, sagte Hermine plötzlich. Sie sah an ihm vorbei aus dem Fenster.»Was ist das eigentlich da draußen?«
Harry wandte sich um. Etwas Kleines und Graues hüpfte vor dem Fenster auf und ab. Er stand auf, um es besser sehen zu können, und erkannte eine winzige Eule, mit einem Brief im Schnabel, der viel zu groß für sie war. So klein war die Eule, daß sie heftig am Trudeln war und im Fahrtwind des Zuges immer wieder gegen die Scheibe klatschte. Schnell zog Harry das Fenster herunter, streckte den Arm hinaus und fing sie ein. Sie fühlte sich an wie ein sehr flaumiger Schnatz. Vorsichtig holte er sie ins Abteil. Die Eule ließ ihren Brief auf Harrys Sitz fallen und begann im Abteil herumzuflattern, offenbar hochzufrieden, daß sie ihre Aufgabe geschafft hatte. Hedwig, mit würdevoller Miene, klapperte mißbilligend mit dem Schnabel. Krummbein erwachte aus dem Schlaf, setzte sich auf und folgte der Eule mit seinen großen gelben Augen. Ron, dem das nicht entging, fing die Eule ein und barg sie in der Hand.
Harry nahm den Brief hoch. Er trug seinen Namen. Er riß den Umschlag auf und rief:
»Von Sirius!«
»Was?«, sagten Ron und Hermine begeistert.»Lies ihn laut vor!«
Lieber Harry,
ich hoffe, dieser Brief erreicht dich, bevor du zu Onkel und Tante kommst. Ich weiß nicht, ob sie an Eulenpost gewöhnt sind.
Seidenschnabel und ich haben ein Versteck gefunden. Ich sag dir nicht, wo es ist, falls diese Eule in die falschen Hände gerät. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie zuverlässig sie ist, aber sie ist die beste, die ich finden konnte, und sie schien ganz scharf auf diesen Job.
Ich glaube, die Dementoren suchen immer noch nach mir, doch hier werden sie mich bestimmt nicht finden. Ich werde mich demnächst irgendwo ein paar Muggeln zeigen, weit weg von Hogwarts, so daß sie die Sicherheitsvorkehrungen im Schloß aufheben können.
Es gibt noch etwas, das ich dir bei unserem kurzen Zusammentreffen nicht erzählen konnte. Ich war es, der dir den Feuerblitz geschickt hat -
»Ha!«, sagte Hermine triumphierend.»Siehst du! Ich hab's dir doch gesagt!«
»Ja, aber er hatte ihn nicht verhext, oder?«, sagte Ron.»Autsch!«
Die winzige Eule, die inzwischen glücklich in seiner Hand fiepte, hatte ihm in den Finger gepickt und es offenbar zärtlich gemeint.
Krummbein brachte für mich die Bestellung zur Eulenpost. Ich habe deinen Namen verwendet, aber geschrieben, daß sie das Gold aus dem Gringotts-Verlies Nummer siebenhundertelf nehmen sollten – das mir gehört. Bitte betrachte den Feuerblitz als dreizehn Geburtstagsgeschenke auf einmal von deinem Paten.
Ich möchte mich auch dafür entschuldigen, daß ich dir im letzten Jahr offenbar so viel Angst bereitet habe, und zwar in der Nacht, als du das Haus deines Onkels verlassen hattest. Ich wollte nur kurz einen Blick auf dich werfen, bevor ich mich auf die Reise nach Norden begab, aber ich glaube, mein Anblick hat dir einen Schock verpaßt.
Ich habe noch etwas für dich beigelegt, von dem ich glaube, daß es dein nächstes Jahr in Hogwarts vergnüglicher machen wird.
Wenn du mich je brauchst, schicke mir eine Nachricht. Deine Eule wird mich finden.
Ich schreibe dir bald wieder,
Sirius
Harry sah sofort im Umschlag nach. Darin war noch ein Stück Pergament. Er las es rasch durch und fühlte sich plötzlich so warm und zufrieden, als ob er eine Flasche heißes Butterbier in einem Zug getrunken hätte.
Ich, Sirius Black, Harry Potters Pate, erteile ihm hiermit die Erlaubnis, an den Wochenenden nach Hogsmeade zu gehen.»Das wird Dumbledore genügen!«, sagte Harry glücklich. Er kehrte zu Sirius' Brief zurück.
»Wartet, da ist noch ein PS…«
Vielleicht will dein Freund Ron diese Eule behalten, immerhin ist es meine Schuld, daß er keine Ratte mehr hat.
Ron machte große Augen. Die Winzeule fiepte immer noch aufgeregt.
»Sie behalten?«, sagte er unsicher. Einen Moment lang musterte er die Eule scharf und dann, zu Harrys und Hermines Verblüffung, hielt er sie Krummbein zum Beschnüffeln unter die Nase.
»Was schätzt du?«, fragte Ron den Kater.»Eindeutig 'ne Eule?«
Krummbein schnurrte.
»Das genügt mir«, sagte Ron glücklich.»Sie gehört mir.«
Harry las den Brief von Sirius immer wieder Wort für Wort durch, bis sie im Bahnhof King's Cross einfuhren. Er hatte ihn immer noch fest umklammert, als sie zu dritt durch die Absperrung von Gleis neundreiviertel in die Muggelwelt traten. Harry sah Onkel Vernon auf den ersten Blick. Er hatte sich in einigem Abstand von Mr und Mrs Weasley aufgestellt und äugte mißtrauisch herüber, und als Mrs Weasley Harry zur Begrüßung herzlich umarmte, schienen seine schlimmsten Vermutungen über sie bestätigt.
»Ich ruf dich wegen der Weltmeisterschaft an!«, rief Ron Harry nach. Harry winkte Ron und Hermine zum Abschied und schob dann den Gepäckwagen mit seinem Koffer und Hedwigs Käfig hinüber zu Onkel Vernon, der ihn auf die übliche Weise begrüßte.
»Was ist das denn?«, raunzte er und starrte auf den Umschlag, den Harry immer noch in der Hand hielt.»Wenn das wieder so ein Formular ist, das ich unterschreiben soll, dann kannst du es dir
»Ist es nicht«, sagte Harry vergnügt.»Das ist ein Brief von meinem Paten.«
»Paten?«, Prustete Onkel Vernon.»Du hast doch keinen Paten!«
»Hab ich doch«, sagte Harry strahlend.»Er war der beste Freund von Mum und Dad. Er ist ein verurteilter Mörder, aber er ist aus dem Zauberer-Gefängnis ausgebrochen und auf der Flucht. Er möchte aber trotzdem gern in Verbindung mit mir bleiben… will wissen, was es so Neues gibt… und ob's mir auch gut geht…«
Breit grinsend angesichts des entsetzten Onkels Vernon schob Harry die ratternde Karre vor sich her zum Ausgang. Es sah ganz danach aus, als sollte dieser Sommer viel besser werden als der letzte.