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Mit ohrenbetäubendem Lärm schlug Metall auf Holz; sie krachten gegen den dicken Baumstamm und landeten mit einem schmerzhaften Aufprall auf der Erde. Unter der zusammengeschrumpelten Kühlerhaube paffte Dampf hervor; Hedwig kreischte in panischer Angst, und auf Harrys Kopf pochte da, wo er gegen die Windschutzscheibe geknallt war, eine golfballgroße Beule. Von Ron zu seiner Rechten kam ein lautes, verzweifeltes Stöhnen.
»Bist du okay?«, fragte Harry besorgt.
»Mein Zauberstab«, sagte Ron mit zittriger Stimme.»Sieh dir meinen Zauberstab an.«
Er war durchgeknackst und fast entzweigebrochen; die Spitze hing lahm herab und wurde nur noch von ein paar Sehnen gehalten.
Harry öffnete den Mund, um zu sagen, das würden sie in der Schule sicher wieder hinbekommen, doch er brachte kein Wort heraus. In genau diesem Moment schlug etwas mit der Kraft eines rasenden Nashorns gegen seine Wagentür und schmetterte ihn gegen Ron, während zugleich ein ebenso heftiger Schlag das Dach traf.
»Was ist -«
Ron starrte mit offenem Mund durch die Scheibe, und Harry folgte seinem Blick gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Ast, so dick wie eine Pythonschlange, auf sie einschlug. Der Baum, gegen den sie gekracht waren, fiel über sie her. Seine Krone hatte sich fast zum Erdboden hinuntergebogen, und seine knorrigen Zweige trommelten auf jeden Zentimeter des Wagens ein, den sie erreichen konnten.
»Aaarh!«, sagte Ron, als ein weiterer Ast sich zurückbog und eine tiefe Delle in die Fahrertür schlug; die Windschutzscheibe zitterte nun unter einem Hagel von Schlägen knöchelartiger Zweiglein, und ein Ast, so dick wie ein Rammbock, hämmerte wild auf das Dach ein, das sich immer tiefer eindellte -
»Raus hier, schnell!«, schrie Ron und warf sich mit aller Kraft gegen die Tür, doch schon schleuderte ihn ein teuflischer Aufwärtshaken in Harrys Schoß.
»Wir sind erledigt«, stöhnte er, als das Dach einbrach, doch plötzlich erzitterte der Wagenboden – der Motor war wieder angesprungen.
»Rückwärts!«, schrie Harry, und der Wagen sauste zurück. Noch immer schlug der Baum nach ihnen aus; mit knarzenden Wurzeln riß er sich fast aus der Erde, um sie noch einmal mit seinen Peitschenhieben zu treffen, bevor sie davonfuhren.
»Das war knapp«, keuchte Ron.»Gut gemacht, Auto.«
Der Wagen freilich war nun am Ende seiner Kräfte. Mit einem trockenen Geräusch flogen die Türen auf und Harry spürte seinen Sitz zur Seite kippen; schon lag er, alle Viere von sich gestreckt, auf dem feuchten Erdboden. Laute dumpfe Aufschläge sagten ihm, daß der Wagen nun ihr Gepäck aus dem Kofferraum warf; Hedwigs Käfig segelte durch die Luft, die Käfigtür flog auf und mit einem wütenden Kreischen flatterte sie, ohne die beiden noch eines Blickes zu würdigen, rasch in Richtung Schloß davon. Nun zuckelte der zerbeulte und zerkratzte Wagen, zornig mit den Rücklichtern blinkend, in die Dunkelheit davon.
»Komm zurück!«, rief Ron ihm nach und fuchtelte mit seinem durchgeknacksten Zauberstab durch die Luft.»Dad bringt mich um!«
Doch mit einem letzten Ächzer des Auspuffs verschwand der Wagen in der Nacht.
»Wie kann man nur so viel Pech haben«, sagte Ron niederschlagen und bückte sich, um Krätze, die Ratte, aufzuheben.»Von allen Bäumen, gegen die wir hätten fliegen können, haben wir einen getroffen, der zurückschlägt.«
Er blickte über die Schulter zurück zu dem alten Baum, der immer noch drohend mit den Zweigen ausschlug.
»Los komm«, sagte Harry erschöpft,»wir gehen besser rauf zur Schule…«
Das war keineswegs die triumphale Ankunft, die sie erwartet hatten. Mit steifen Gliedern, unterkühlt und zerkratzt packten sie ihre Koffer und zogen den grasbewachsenen Abhang zum großen eichenen Schloßportal hoch.
»Die Feier hat wohl schon angefangen«, sagte Ron, ließ den Koffer am Fuß der Portaltreppe fallen und huschte zu einem hell erleuchteten Fenster hinüber.»Hey, Harry, sieh mal – die Auswahl!«
Harry rannte zu Ron hinüber und gemeinsam spähten sie in die Große Halle.
Zahllose Kerzen schwebten über den vier langen, dicht besetzten Tischen und ließen die goldenen Teller und Becher funkeln. Hoch oben an der verzauberten Decke, die immerzu den Himmel draußen spiegelte, glitzerten die Sterne.
Durch den Wald aus schwarzen Hogwarts-Spitzhüten sah Harry eine lange Schlange Erstkläßler mit bangen Blicken in die Halle marschieren. Ginny war wegen ihres leuchtend roten Weasley-Haares leicht zu erkennen. Nun trat Professor McGonagall hinzu, eine bebrillte Hexe mit strammem Haarknoten, und legte den berühmten Sprechenden Hut von Hogwarts auf einen Stuhl.
Dieser uralte Hut, fleckig, rissig und Schmutzig, verteilte alljährlich die neuen Schüler auf die vier Häuser von Hogwarts (Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw und Slytherin). Harry erinnerte sich noch gut daran, wie er ihn vor genau einem Jahr aufgesetzt und ganz versteinert auf die Entscheidung gewartet hatte, während ihm der Hut eindringlich ins Ohr flüsterte. Ein paar schreckliche Sekunden lang hatte er befürchtet, der Hut würde ihn nach Slytherin stecken, in das Haus, das mehr schwarze Hexen und Zauberer hervorgebracht hatte als jedes andere. Doch er war schließlich nach Gryffindor gekommen, zusammen mit Ron, Hermine und den anderen Weasleys. Im letzten Schuljahr hatten Harry und Ron dazu beigetragen, daß Gryffindor die Hausmeisterschaft gewonnen und damit Slytherin nach sieben Jahren endlich wieder besiegt hatte.
Ein sehr kleiner Junge mit mausgrauem Haar war aufgerufen worden, den Hut aufzusetzen. Harrys Augen wanderten an ihm vorbei, dorthin, wo Professor Dumbledore saß, der Schulleiter mit dem langen, silbernen Bart. Vom Lehrertisch aus verfolgte er die Auswahl durch seine halbmondförmigen Brillengläser, die im Kerzenlicht blitzten. Ein paar Plätze weiter sah Harry Gilderoy Lockhart, gewandet in einen aquamarinblauen Umhang. Und dort, am Ende des Tisches, saß Hagrid, riesig und haarüberwuchert, und nahm tiefe Schlucke aus seinem Becher.
»Guck mal…«1 zischte Harry Ron ins Ohr.»Dort am Lehrertisch ist ein freier Platz… Wo ist eigentlich Snape?«
Professor Severus Snape war der Lehrer, den Harry am wenigsten leiden konnte. Und es traf sich, daß Harry auch der Schüler war, den Snape am wenigsten leiden konnte. Der grausame, spöttische und bei allen außer bei den Schülern seines eigenen Hauses (Slytherin) unbeliebte Snape unterrichtete Zaubertränke.
»Vielleicht ist er krank«, sagte Ron hoffnungsvoll.
»Vielleicht hat er gekündigt«, entgegnete Harry,»weil er wieder nicht Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichten darf!«
»Oder sie haben ihn rausgeschmissen!«, meinte Ron begeistert.»Immerhin kann ihn ja keiner ausstehen -«
»Oder vielleicht«, sagte eine eisige Stimme direkt hinter ihnen,»wartet er darauf, von euch zu hören, warum ihr nicht mit dem Schulzug gekommen seid.«
Harry wirbelte herum. Vor ihnen, sein schwarzer Umhang flatterte in der kalten Brise, stand Severus Snape. Er war ein dünner, fahlhäutiger Mann mit Hakennase und fettigem, schulterlangem schwarzem Haar. Und in diesem Augenblick lächelte er auf eine Weise, die Harry sagte, daß er und Ron in gewaltigen Schwierigkeiten steckten.
»Kommt«, sagte Snape.
Harry und Ron wagten nicht einmal, sich Blicke zuzuwerfen, und folgten Snape die Stufen hoch in die ausladende, von Echos durchzogene und fackelbeleuchtete Eingangshalle. Ein köstlicher Duft wehte aus der Großen Halle herüber, doch Snape führte sie weg aus der Wärme und dem Licht und eine schmale Steintreppe hinunter, die in die Kerker führte.
»Da hinein!«, sagte er und öffnete eine Tür auf halbem Weg den dunklen Treppengang hinunter.
Zitternd betraten sie Snapes Büro. An den dunklen Wänden zogen sich Regale voller großer Einmachgläser entlang, in denen alle möglichen widerwärtigen Geschöpfe schwammen, deren Namen Harry im Moment nicht wußte. Der Kamin war dunkel und leer. Snape schloß die Tür, wandte sich um und blickte die beiden an.
»Soso«' sagte er leise,»der Zug ist nicht gut genug für den berühmten Harry Potter und seinen treuen Kameraden Weasley. Wollten hier mit großem Trara ankommen, nicht Wahr, die Herren«
»Nein, Sir, die Absperrung in King's Cross, sie…«
»Ruhe«, sagte Snape kühl.»Was habt ihr mit dem Wagen gemacht?«
Ron schluckte. Nicht zum ersten Mal hatte Harry den Eindruck, Snape könne Gedanken lesen. Doch einen Moment später, als Snape die neue Ausgabe des Abendpropheten entrollte, wurde ihm alles klar.
»Man hat euch gesehen«, zischte Snape und zeigte ihnen die Schlagzeile: FLIEGENDER FORD ANGLIA VERSETZT MUGGEL IN AUFREGUNG. Er las laut vor.»Zwei Londoner Muggel sind felsenfest überzeugt, daß sie einen alten Wagen über den Turm des Postamtes fliegen sahen… Als Mrs Hetty Bayliss in Norfolk um die Mittagszeit ihre Wäsche aufhängen wollte… Mr Angus Fleet aus Peebles schilderte der Polizei… Sechs bis sieben Muggel insgesamt. Ich glaube, dein Vater arbeitet in der Abteilung für den Mißbrauch von Muggelsachen«, sagte er und blickte Ron mit zunehmend gehässigem Lächeln an.»Meine Güte… sein eigener Sohn…«
Harry fühlte sich, als ob ihn gerade einer der kräftigeren Äste des verrückten Baumes in die Magengegend geschlagen hätte. Wenn jemand herausfand, daß Mr Weasley den Wagen verhext hatte… daran hatte er gar nicht gedacht…
»Wie ich bei meinem Kontrollgang durch den Park feststellen mußte, scheint eine sehr wertvolle Peitschende Weide schwer beschädigt worden zu sein«, fuhr Snape fort.
»Der Baum hat uns mehr zugesetzt als wir ihm«, sprudelte es aus Ron heraus.
»Ruhe!«, fuhr ihn Snape an.»Zu meinem größten Bedauern gehört ihr nicht zu meinem Haus, und die Entscheidung, euch von der Schule zu weisen, ist nicht meine Sache. Ich werde jetzt gehen und die Leute holen, die das Glück haben, dazu befugt zu sein. Ihr wartet hier.«
Harry und Ron starrten sich in die weißen Gesichter. Hunger hatte Harry keinen mehr. Ihm war jetzt furchtbar schlecht. Er versuchte, nicht das große, schleimige Etwas anzusehen, das da in grüner Flüssigkeit auf einem Regal hinter Snapes Schreibtisch schwebte. Wenn Snape jetzt Professor McGonagall holte, die Hauslehrerin von Gryffindor, dann würde es ihnen kaum besser ergehen. Sie war vielleicht fairer als Snape, aber dafür äußerst streng.
Zehn Minuten später kam Snape zurück und tatsächlich in Begleitung von Professor McGonagall. Harry hatte sie schon mehrmals wütend gesehen, doch entweder hatte er vergessen, wie schmal ihr Mund werden konnte, oder er hatte sie noch nie so zornig erlebt. Sie war kaum eingetreten, als sie auch schon ihren Zauberstab hob. Harry und Ron zuckten zusammen. Doch sie richtete ihn nur auf den leeren Kamin, in dem jetzt plötzlich Flammen aufflackerten.
»Setzen Sie sich.«Ron und Harry ließen sich auf Stühle beim Feuer nieder.
»Ich wünsche eine Erklärung«, sagte sie mit Unheil verkündend schimmernden Brillengläsern.
Ron stürzte sich in die Schilderung ihrer Erlebnisse und begann bei der Absperrung, die sie nicht durchlassen wollte.
»… also hatten wir keine Wahl, Professor, wir konnten den Zug nicht erreichen.«
»Warum haben Sie uns keinen Brief per Eule geschickt? Ich glaube, Sie haben eine Eule?«, sagte Professor McGonagall mit kalter Stimme zu Harry gewandt.
Harry sah sie bestürzt an. Nun, da sie es sagte, schien es das Natürlichste gewesen zu sein.
»Ich… ich habe nicht gedacht…«
»Das«, sagte Professor McGonagall,»ist mir klar.«
Es klopfte, und Snape, gut gelaunt wie sonst nie, öffnete die Tür. Herein kam der Schulleiter, Professor Dumbledore.
Harry spürte seinen ganzen Körper taub werden. Dumbledore sah ungewöhnlich ernst aus. Er blickte sie entlang seiner sehr krummen Nase an und Harry verspürte jäh den Wunsch, die Peitschende Weide möge immer noch auf ihn und Ron einprügeln.
Ein langes Schweigen trat ein. Dann sagte Dumbledore:»Bitte erklären Sie mir, warum Sie das getan haben.«
Es wäre besser zu ertragen gewesen, wenn er sie angeschrien hätte. Die Enttäuschung, die in Dumbledores Stimme lag, gefiel Harry überhaupt nicht. Aus irgendeinem Grund konnte er Dumbledore nicht in die Augen sehen und er sprach statt dessen zu seinen Knien. Er sagte Dumbledore alles, außer daß der verzauberte Wagen Mr Weasley gehörte, und tat so, als hätten er und Ron ganz zufällig einen fliegenden Wagen vor dem Bahnhof gefunden. Daß Dumbledore diesen Schwindel sofort durchschauen würde, war ihm klar, doch Dumbledore wollte nichts weiter über den Wagen wissen. Als Harry fertig war, sah er sie einfach weiter durch seine Brille hindurch an.
»Wir holen unsere Sachen«, sagte Ron mit matter Stimme.
»Was reden Sie da, Weasley?«, blaffte ihn Professor McGonagall an.
»Sie werfen uns doch raus, oder?«, sagte Ron.
Harry warf Dumbledore einen raschen Blick zu.
»Nicht heute, Mr Weasley«, sagte Dumbledore.»Doch ich muß Ihnen nachdrücklich einschärfen, daß Ihr Handeln ein schwerer Fehler war. Ich werde heute Abend Ihren Familien schreiben. Ich muß Sie auch davor warnen, noch einmal etwas Derartiges zu tun, denn dann werde ich keine andere Wahl haben, als Sie von der Schule zu weisen.«
Snape sah aus, als wäre Weihnachten abgesagt worden. Er räusperte sich und sagte:»Professor Dumbledore, diese Jungen haben die Vorschriften zur Einschränkung der Zauberei Minderjähriger gebrochen und einen wertvollen alten Baum schwer beschädigt… gewiß müssen derlei Taten…«
»Es ist Sache von Professor McGonagall, über die Strafen für die Jungen zu befinden, Severus«, sagte Dumbledore gelassen.»Sie gehören zu ihrem Haus und stehen daher in ihrer Obhut.«Er wandte sich an Professor McGonagall.»Ich muss zurück zur Feier, Minerva, und ein paar Dinge ansagen. Kommen Sie, Severus, da steht eine köstlich aussehende Senftorte, die ich gerne mal probieren möchte…«
Snape warf Harry und Ron einen Blick zu, der reiner Haß war, und ließ sich dann von Dumbledore aus seinem Büro geleiten. Nun waren sie allein mit Professor McGonagall, die sie immer noch wie ein Adler auf Beuteflug beäugte.
»Sie gehen in den Krankenflügel, Weasley, Sie bluten ja.«
»Nicht schlimm«, sagte Ron und fuhr hastig mit dem Ärmel über den Riß an seiner Augenbraue.»Professor, ich wollte eigentlich zusehen, wie meine Schwester den Sprechenden Hut aufsetzt -«
»Die Auswahlfeier ist vorbei«, sagte Professor McGonagall.»Ihre Schwester kommt ebenfalls nach Gryffindor.«
»Oh, gut«, sagte Ron.
»Und da wir gerade von Gryffindor sprechen…«, sagte Professor McGonagall scharf, doch Harry unterbrach sie.»Professor, als wir den Wagen nahmen, hatte das Schuljahr noch gar nicht begonnen, also… also sollten Gryffindor eigentlich keine Punkte abgezogen werden, oder?«, schloß er und blickte sie gespannt an.
Professor McGonagall versetzte ihm einen durchdringenden Blick, doch er war sich sicher, den Anflug eines Lächelns zu erkennen. jedenfalls sah ihr Mund nicht mehr ganz so schmal aus.
»Ich werde Gryffindor keine Punkte abziehen«, sagte sie, und Harry wurde es ganz leicht ums Herz.»Aber ihr werdet beide Strafarbeiten bekommen.«
Das war besser, als Harry befürchtet hatte. Dumbledore wollte den Dursleys schreiben – na wenn schon. Die würden gewiss nur enttäuscht darüber sein, daß die Peitschende Weide ihn nicht zermalmt hatte.
Professor McGonagall hob abermals ihren Zauberstab und richtete ihn auf Snapes Schreibtisch. Mit einem leisen Knall erschienen ein Teller mit belegten Broten, zwei Becher und ein Krug mit eisgekühltem Kürbissaft.
»Ihr eßt hier und geht dann gleich in euren Schlafsaal«, sagte sie.»Ich muß zurück zur Feier.«
Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, kam von Ron ein langer und lauter Pfiff.
»Ich dachte, es wäre aus mit uns«, sagte er und griff nach einem Brot.
»Ich auch«, sagte Harry und bediente sich ebenfalls.
»Aber wir hatten doch wirklich unglaubliches Pech«, schmatzte Ron durch einen Mund voll Hühnchen und Schinken.»Fred und George müssen dieses Auto fünf oder sechs Mal geflogen haben und kein Muggel hat die je gesehen.«Er schluckte und nahm einen weiteren gewaltigen Bissen.»Warum sind wir nicht durch die Absperrung gekommen?«
Harry zuckte die Achseln.»Von jetzt an müssen wir jedenfalls aufpassen«, sagte er und nahm einen kräftigen Schluck Kürbissaft.»Wünschte, wir könnten hoch zur Feier…«
»Sie wollte nicht, daß wir mit der Geschichte angeben«, sagte Ron weise.»Will nicht, daß die andern glauben, es sei eine tolle Sache, mit einem fliegenden Auto aufzutauchen.«
Als sie so viele Brote verspeist hatten, wie sie konnten (der Teller füllte sich immer wieder nach), standen sie auf und verließen das Büro. Sie gingen den vertrauten Weg zum Turm der Gryffindors hinauf. Im Schloss war es ruhig; die Feier schien vorüber zu sein. Sie gingen an murmelnden Porträts und quietschenden Rüstungen vorbei und stiegen die schmalen Steintreppen empor. Endlich erreichten sie den Korridor, an dessen Ende der geheime Eingang zum Gryffindor-Turm versteckt war – hinter dem Ölgemälde einer sehr fetten Dame in einem rosa Seidenkleid.
»Passwort?«, fragte sie, als sie näher kamen.
»Ähm -«, sagte Harry.
Sie kannten das Passwort für das neue Schuljahr nicht, weil sie noch keinen Vertrauensschüler der Gryffindors getroffen hatten. Doch fast im gleichen Moment nahte auch schon Hilfe; hinter sich hörten sie Fußgetrappel, und als sie sich umdrehten, sahen sie Hermine auf sie zurennen.
»Da seid ihr ja! Wo wart ihr denn? Es gab die lächerlichsten Gerüchte – jemand meinte, ihr seid rausgeflogen, weil ihr ein fliegendes Auto geschrottet habt.«
»Nun, wir sind nicht rausgeflogen«, versicherte ihr Harry.
»Sagt bloß, ihr seid tatsächlich hergeflogen?«, sagte Hermine und klang dabei fast so streng wie Professor McGonagall.
»Spar dir den Vortrag«, sagte Ron unwirsch,»und sag uns das neue Passwort.«
»Es ist >Bartvogel«<, sagte Hermine ungeduldig,»aber darum geht's jetzt nicht -«
Sie wurde jedoch unterbrochen, denn das Porträt der fetten Dame klappte zur Seite und plötzlich brach ein Beifallssturm los. Es schien, als wären alle Gryffindors noch wach: dicht gedrängt standen sie in ihrem kreisrunden Gemeinschaftsraum, auf Tischen und knuddeligen Sesseln verteilt, und warteten auf ihre Ankunft. Arme streckten sich durch das Porträtloch, um Harry und Ron hineinzuziehen, und Hermine mußte hinter ihnen herklettern.
»Klasse gemacht«, schrie Lee Jordan.»Genial! Was für ein Auftritt! Einen Wagen mitten in die Peitschende Weide hineinzufliegen, darüber wird man noch in Jahren reden«
»Gut gemacht!«, sagte ein Fünftklässler, mit dem Harry noch nie gesprochen hatte; jemand klopfte ihm auf die Schulter, als ob er gerade einen Marathonlauf gewonnen hätte. Fred und George drängten sich zu ihnen durch und sagten gleichzeitig:»Warum zum Teufel habt ihr uns denn nicht zurückgerufen?«Ron war scharlachrot im Gesicht und grinste verlegen, doch Harry erblickte einen Jungen in der Schar der Köpfe, der gar nicht glücklich aussah. Hinter einigen aufgeregten Erstklässlern erkannte er Percy, der offenbar nahe genug heranzukommen versuchte, um ihnen eine Strafpredigt zu halten. Harry stieß Ron in die Rippen und nickte in Percys Richtung. Ron verstand sofort.
»Müssen jetzt nach oben – sind ein wenig müde«, sagte er, und sie bahnten sich einen Weg zur Tür gegenüber, die zu einer Wendeltreppe und in die Schlafsäle hochführte.
»Nacht«, rief Harry noch Hermine zu, die genau den gleichen vorwurfsvollen Blick aufgesetzt hatte wie Percy.
Immer noch unter Schulterklopfen der Umstehenden schafften sie es auf die andere Seite des Gemeinschaftsraums und hinaus in die Stille des Treppenaufgangs. Eilends stiegen sie empor, bis an die Spitze, und standen nun endlich vor der Tür ihres alten Schlafsaals, auf dem jetzt ein Schild mit der Aufschrift»Zweitkläßler«angebracht war. Sie betraten das vertraute runde Turmzimmer mit den fünf samtbehangenen Himmelbetten und den hohen, schmalen Fenstern. Ihre Koffer waren schon hochgebracht worden und standen vor den Betten.
Schuldbewußt grinste Ron Harry an.
»Ich weiß, das hätte ich nicht genießen sollen, aber -«
Die Schlafsaaltür flog auf und herein kamen die anderen Jungen der zweiten Klasse von Gryffindor, Seamus Finnigan, Dean Thomas und Neville Longbottom.
»Unglaublich«, rief Seamus strahlend.
»Cool«, sagte Dean.
»Phantastisch«, sagte Neville ehrfurchtsvoll.
Harry konnte nicht anders. Auch er grinste.