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Am Tag darauf jedoch hatte Harry kaum etwas zu grinsen. Vom Frühstück in der Großen Halle an ging es bergab. Die vier langen Haustische unter der magischen Decke (heute in wolkig trübem Grau) ächzten unter ihrer Last aus Schüsseln mit Haferbrei, Platten voll geräuchertem Hering, Tellern mit Eiern und Schinken und Bergen von Toastbrot. Harry und Ron setzten sich an den Tisch der Gryffindors, neben Hermine, die Abstecher mit Vampiren aufgeschlagen gegen einen Milchkrug gelehnt hatte. Ihr»Morgen«-Gruß klang ein wenig steif, und Harry spürte, daß sie immer noch die Art und Weise, wie er und Ron nach Hogwarts gelangt waren, missbilligte. Neville Longbottom dagegen grüßte sie fröhlich. Neville war ein rundgesichtiger und unfallträchtiger Junge mit dem schlechtesten Gedächtnis von allen Menschen, die Harry jemals kennen gelernt hatte.
»Die Post müßte gleich kommen. Ich glaube, Oma schickt mir ein paar Sachen, die ich vergessen habe.«
Tatsächlich hatte sich Harry gerade über seinen Haferbrei hergemacht, als auch schon ein Rauschen über ihren Köpfen zu hören war und gut hundert Eulen hereinströmten, in der Halle kreisten und Briefe und Päckchen in die schnatternde Schülerschar fallen ließen. Ein großes, klumpiges Paket prallte von Nevilles Kopf ab und einen Augenblick später fiel etwas Großes und Graues in Hermines Krug und bespritzte sie alle mit Milch und Federn.
»Errol!«, sagte Ron und zog die bedröppelte Eule an den Beinen aus der Milch. Errol sackte ohnmächtig auf dem Tisch zusammen, die Krallen in die Luft gestreckt und einen feuchten roten Umschlag im Schnabel.
»O nein«, seufzte Ron.
»Schon gut, er lebt noch«, sagte Hermine und tätschelte Errol sanft mit den Fingerspitzen.
»Das ist es nicht – sondern das hier.«
Ron deutete auf den roten Brief Harry kam er ganz gewöhnlich vor, doch Ron und Neville sahen ihn an, als würde er gleich explodieren.
»Was ist denn los«, fragte Harry.
»Sie… sie hat mir einen Heuler geschickt«, sagte Ron mit matter Stimme.
»Mach ihn lieber auf, Ron«, flüsterte Neville ängstlich.»Sonst wird es nur noch schlimmer. Meine Oma hat mir mal ein en geschickt, und ich hab ihn nicht beachtet und -«, er Schluckte,»es war schrecklich.«
Harry betrachtete ihre versteinerten Gesichter und dann den Brief
»Was ist ein Heuler?«, fragte er.
Doch Rons Aufmerksamkeit war ganz und gar auf den Brief gerichtet, der an den Ecken zu rauchen begonnen hatte.
»Mach ihn auf«, drängte Neville.»In ein paar Minuten ist alles vorbei…«
Ron streckte zitternd die Hand aus, zog den Umschlag aus Errols Schnabel und schlitzte ihn auf Neville steckte die Finger in die Ohren. Den Bruchteil einer Sekunde später wußte Harry, warum. Einen Moment lang dachte er, der Brief wäre tatsächlich explodiert; ein ohrenbetäubendes Dröhnen erschütterte die riesige Halle und Staub rieselte von der Decke.
»… DEN WAGEN ZU STEHLEN – ES HÄTTE MICH NICHT GEWUNDERT, WENN SIE DICH RAUSGEWORFEN HÄTTEN, WART AB, BIS ICH DICH IN DIE FINGER KRIEGE, NATÜRLICH HAST DU NICHT DARAN GEDACHT, WAS DEIN VATER UND ICH DURCHMACHEN MUSSTEN, ALS WIR SAHEN, DAß ER WEG WAR…«
Mrs Weasleys Geschrei, hundertmal lauter als sonst, ließ Teller und Löffel auf dem Tisch erzittern und hallte gellend laut von den steinernen Wänden wider. Alle Köpfe in der Halle wirbelten herum, neugierig, wer den Heuler bekommen hatte, und Ron versank so tief in seinen Stuhl, daß nur noch seine puterrote Stirn zu sehen war.
»… BRIEF VON DUMBLEDORE GESTERN ABEND, ICH DACHTE, DEIN VATER WÜRDE VOR SCHAM STERBEN, NACH ALLEM, WAS WIR FÜR DICH GETAN HABEN, DU UND HARRY HÄTTET EUCH DEN HALS BRECHEN KÖNNEN…«
Harry hatte sich bereits gefragt, wann sein Name fallen würde. Angestrengt versuchte er den Eindruck zu erwecken, als ob er die Stimme, die in seinen Trommelfellen dröhnte, gar nicht hören würde.
»… EINE UNGLAUBLICHE SCHANDE, DEIN VATER HAT EINE UNTERSUCHUNGSKOMMISSION AUF DEM HALS UND WENN DU DIR NOCH EINMAL DEN KLEINSTEN FEHLTRITT ERLAUBST, HOLEN WIR DICH SOFORT NACH HAUSE.«
Grabesstille machte sich breit. Der rote Umschlag, den Ron auf den Tisch hatte fallen lassen, flammte auf und zerschrumpelte zu Asche. Harry und Ron saßen sprachlos da, als wäre eine Flutwelle über sie hinweggegangen. Ein paar Schüler lachten und allmählich stellte sich wieder munteres Geplapper ein.
Hermine klappte Abstecher mit Vampiren zu und sah hinab zu Ron.
»Nun, ich weiß nicht, was du erwartet hast, Ron, aber du -«
»Sag bloß nicht, ich hab es verdient«, fauchte Ron sie an.
Harry schob den Haferbrei beiseite. Seine Eingeweide brannten vor Schuldgefühlen. Mr Weasley mußte im Ministerium eine Untersuchung über sich ergehen lassen. Nach allem, was Mr und Mrs Weasley diesen Sommer für ihn getan hatten…
Doch er hatte keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Professor McGonagall ging am Tisch der Gryffindors entlang und verteilte Stundenpläne. Harry nahm den seinen und stellte fest, daß sie als Erstes eine Doppelstunde Kräuterkunde zusammen mit den Hufflepuffs hatten.
Harry, Ron und Hermine verließen zusammen das Schloß und gingen durch den Gemüsegarten hinüber zu den Gewächshäusern, wo die Zauberpflanzen gezüchtet wurden. Zumindest für eins war der Heuler gut gewesen: Hermine dachte nun offenbar, sie seien genug gestraft worden, und war wieder ausgesprochen freundlich zu ihnen.
Sie näherten sich den Gewächshäusern und sahen schon die anderen aus der Klasse draußen auf Professor Sprout warten. Kaum waren Harry, Ron und Hermine hinzugetreten, kam sie auch schon über den Rasen geschritten – in Begleitung von Gilderoy Lockhart. Professor Sprout trug einen Arm voll Mullbinden, und mit einem erneuten Anflug von Schuldgefühlen erkannte Harry in der Ferne die Peitschende Weide, die nun etliche Zweige in Bandagen hatte.
Professor Sprout war eine untersetzte kleine Hexe mit einem Flickenhut auf ihrem windzerzausten Haar; meist hatte sie eine ganze Menge Erde auf den Kleidern, und beim Anblick ihrer Fingernägel wäre Tante Petunia in Ohnmacht gefallen. Tadellos gekleidet war dagegen Gilderoy Lockhart mit seinem wehenden türkisfarbenen Umhang. Sein goldenes Haar schimmerte unter einem perfekt sitzenden türkisfarbenen Hut mit Goldrand hervor.
»Oh, hallo, hallo!«, rief Lockhart und strahlte die versammelten Schüler an.»Hab eben kurz Professor Sprout erklärt, wie man eine Peitschende Weide richtig verarztet! Aber ich möchte nicht, daß ihr jetzt denkt, ich sei besser in Pflanzenkunde als sie! Auf meinen Reisen sind mir nur zufällig einige dieser Exoten begegnet…«
»Gewächshaus drei heute, Freunde«, sagte Professor Sprout, die nicht wie sonst immer fröhlich, sondern unverkennbar miesepetrig dreinsah.
Ein neugieriges Gemurmel lief durch die Umstehenden. Bisher hatten sie nur in Gewächshaus eins gearbeitet – Gewächshaus drei beherbergte viel interessantere und gefährlichere Pflanzen. Professor Sprout nahm einen großen Schlüssel von ihrem Gürtel und schloß die Tür auf, Der Geruch von feuchter Erde und Dünger drang in Harrys Nase, vermischt mit dem schweren Parfümduft einiger riesiger, schirmartiger Blumen, die von der Decke herabhingen. Er wollte gerade hinter Ron und Hermine eintreten, als Lockhart blitzartig die Hand ausstreckte.
»Harry! Ich wollte kurz mit Ihnen sprechen. Sie haben doch nichts dagegen, wenn er ein paar Minuten später kommt, nicht wahr, Professor Sprout?«
Nach Professor Sprouts Stirnrunzeln zu schließen hatte sie eine ganze Menge dagegen, doch Lockhart sagte:»Wunderbar«, und schlug ihr die Gewächshaustür vor der Nase zu.
»Harry«, sagte Lockhart kopfschüttelnd, und seine großen weißen Zähne blitzten.»Harry, Harry, Harry.«
Harry schwieg völlig verdutzt.
»Als ich davon gehört hab – nun, natürlich war alles meine Schuld. Ich hätte mich ohrfeigen können.«
Harry hatte keine Ahnung, wovon er redete. Das wollte er gerade sagen, als Lockhart fortfuhr:»Weiß nicht, ob ich mich jemals so erschrocken habe. Einen Wagen nach Hogwarts zu fliegen! Nun, natürlich wusste ich sofort, warum Sie es getan haben. War eine ganz große Sache. Harry, Harry, Harry.«
Erstaunlicherweise konnte er jeden einzelnen seiner blitzenden Zähne zeigen, selbst wenn er nicht sprach.
»Hab Sie auf den Geschmack gebracht, was öffentliches Aufsehen angeht, nicht wahr?«, sagte Lockhart.»Es hat Sie gepackt. Sie sind mit mir auf die Titelseite gekommen und wollten es gleich noch mal probieren.«
»O nein, Professor, sehen Sie -«
»Harry, Harry, Harry«, sagte Lockhart, streckte die Hand aus und packte ihn an der Schulter.»Ich verstehe. Ist doch nur natürlich, daß man ein wenig mehr will, sobald man davon gekostet hat. Und ich mache mir Vorwürfe, Sie darauf gebracht zu haben, denn es mußte Ihnen ja zu Kopfe steigen – doch sehen Sie mal, junger Mann, Sie können nicht einfach hingehen und mit Autos herumfliegen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Kommen Sie besser wieder auf den Boden. Wenn Sie älter sind, haben Sie noch genug Zeit für derlei. Ja, ja, ich weiß, was Sie denken! >Der hat gut reden, er ist ja schon ein weltberühmter Zauberer!< Aber als ich zwölf war, war ich auch nur ein niemand, genau wie Sie. Und eigentlich noch weniger als ein niemand! Immerhin haben einige Leute schon von Ihnen gehört, oder? Diese ganze Geschichte mit jenem, dessen Name nicht genannt werden darf!«Er betrachtete die blitzförmige Narbe auf Harrys Stirn.»Ich weiß, das ist nichts gegen meine Auszeichnungen – fünfmal in Folge den Charmantestes-Lächeln-Preis der Hexenwoche gewonnen – doch es ist ein Anfang, Harry, ein Anfang.«Er zwinkerte Harry kumpelhaft zu und schritt davon. Harry blieb ein paar Sekunden wie angewurzelt stehen, dann fiel ihm ein, daß er eigentlich im Gewächshaus sein sollte. Er öffnete die Tür und glitt hinein.
Professor Sprout stand hinter einer aufgebockten Holzplatte mitten im Gewächshaus. Darauf lagen etwa zwanzig Paar verschiedenfarbiger Ohrschützer. Harry stellte sich zwischen Ron und Hermine.»Heute werden wir Alraunen umtopfen. Nun, wer kann mir die Eigenschaften der Alraune nennen?«
Hermine streckte als Erste den Finger in die Höhe, worüber sich niemand wunderte.
»Die Alraune, oder Mandragora, ist eine mächtige Rückverwandlerin«, sagte Hermine und klang wie üblich, als hätte sie das Lehrbuch geschluckt.»Sie wird verwendet, um Verwandelte oder Verfluchte in ihren ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen.«
»Glänzend. Zehn Punkte für Gryffindor«, sagte Professor Sprout.»Die Alraune bildet einen wesentlichen Bestandteil der meisten Gegengifte. Freilich ist auch sie gefährlich. Wer kann mir sagen, warum?«
Hermines Hand schoß wieder hoch und verfehlte dabei knapp Harrys Brille.
»Der Schrei der Alraune ist tödlich für jeden, der ihn hört«, antwortete sie blitzschnell.
»Genau. Weitere zehn Punkte«, sagte Professor Sprout.»Nun sind die Alraunen, die wir hier haben, noch sehr jung.«
Sie deutete auf eine Reihe tiefer Kästen und alle hasteten mit neugierigem Blick nach vorn. Dort wuchsen aufgereiht etwa hundert kleine, büschelige Pflanzen von grüner Farbe mit einem Hauch Purpurrot. Harry, der nicht die geringste Ahnung hatte, was Hermine mit dem»Schrei«der Alraune meinte, fand die Gewächse recht unscheinbar.
»Jetzt nimmt sich jeder ein Paar Ohrenschützer«, sagte Professor Sprout.
Es gab ein Gerangel, weil alle versuchten ein Paar zu bekommen, das nicht rosa und flauschig war.
»Wenn ich sage, ihr sollt sie aufsetzen, dann Paßt auf, daß eure Ohren vollständig bedeckt sind«, sagte Professor Sprout.»Wenn ihr sie gefahrlos wieder abnehmen könnt, zeige ich mit dem Daumen nach oben. Also, Ohrenschützer aufsetzen.«
Harry klemmte sich die Ohrenschützer über den Kopf, Sie ließen keinerlei Geräusch durch. Professor Sprout setzte ein rosafarbenes, flauschiges Paar auf die Ohren, rollte die Ärmel ihres Umhangs hoch, packte mit festem Griff eine der büscheligen Pflanzen und zog kräftig daran.
Harry entfuhr vor Überraschung ein kleiner Aufschrei, den natürlich niemand hören konnte.
Statt einer Wurzel kullerte ein kleines, schlammüberzogenes und äußerst häßliches Baby aus der Erde. Die Blätter wuchsen aus seinem Kopf heraus. Es hatte eine blaßgrüne, gefleckte Haut und schrie ganz eindeutig aus Leibeskräften.
Professor Sprout zog einen großen Blumentopf unter dem Tisch hervor, steckte die Alraune hinein und begrub sie mit dunkler, feuchter Komposterde, bis nur noch die büscheligen Blätter zu sehen waren. Dann rieb sie sich Erdkrümel von den Händen, zeigte mit dem Daumen nach oben und nahm ihre Ohrenschützer ab.
»Da unsere Alraunen noch Setzlinge sind, würden ihre Schreie euch noch nicht umbringen«, sagte sie gelassen, als ob sie gerade nichts weiter Aufregendes getan hätte als eine Begonie zu gießen.»Allerdings würden sie euch mehrere Stunden lang außer Gefecht Setzen, und da sicher keiner von euch den ersten Schultag im neuen Jahr verpassen will, achtet darauf, daß eure Ohrenschützer richtig sitzen, während ihr arbeitet. Ich gebe euch ein Zeichen, wenn es an der Zeit ist, einzupacken.
Jeweils vier von euch an einen Kasten – hier sind genug Töpfe – Komposterde ist in den Säcken dort drüben – und paßt auf die Venemosa Tentacula auf, sie beißt.«
Bei diesen Worten versetzte sie einer dornigen, dunkelroten Pflanze, deren lange Fühler sich still und leise über ihre Schulter gestohlen hatten, einen heftigen Klaps, und die Fühler wichen rasch zurück.
Zu Harry, Ron und Hermine trat ein lockenköpfiger Junge von den Hufflepuffs, den Harry nur vom Sehen her kannte.
»Justin Finch-Fletchley«, sagte er gut gelaunt und schüttelte Harry die Hand.»Weiß natürlich, wer du bist, der berühmte Harry Potter… und du bist Hermine Granger – in allem immer Spitze…«(Hermine strahlte, da er auch ihr die Hand schüttelte)»… und Ron Weasley. War das nicht dein fliegendes Auto?«
Ron lächelte nicht. Der Heuler ging ihm offenbar immer noch im Kopf herum.
»Dieser Lockhart ist schon ein toller Hecht, nicht wahr?«, sagte Justin munter, während sie ihre Blumentöpfe mit Drachendungkompost füllten.»Unglaublich mutiger Kerl. Habt ihr seine Bücher gelesen? Ich wär ja vor Angst gestorben, wenn mich ein Werwolf in einer Telefonzelle belagert hätte, aber er ist ruhig geblieben und – zapp – einfach phantastisch.
Mein Name war schon auf der Liste für Eton, müßt ihr wissen, und ich kann euch nicht sagen, wie froh ich bin, daß ich dann doch hierher kam. Natürlich war Mutter ein wenig enttäuscht, aber seit ich ihr die Lockhart-Bücher empfohlen habe, hat sie wohl eingesehen, wie nützlich es ist, wenn man einen gründlich ausgebildeten Zauberer in der Familie hat…«
Danach hatten sie nicht mehr viel Gelegenheit zum Reden. Sie setzten ihre Ohrenschützer auf und mussten sich auf die Alraunen konzentrieren. Bei Professor Sprout hatte es ganz einfach ausgesehen, doch das war es nicht. Die Alraunen mochten zwar überhaupt nicht gerne aus der Erde, doch zurück in die Erde wollten sie dann schon gar nicht. Sie wanden und krümmten sich, ballten ihre spitzen kleinen Fäuste, schlugen um sich und knirschten mit den Zähnen. Harry brauchte ganze zehn Minuten, um endlich eine besonders fette Alraune in einen Topf zu zwängen.
Am Ende der Stunde war Harry wie alle anderen schweißnaß, voller Erde, und die Arme taten ihm weh. Sie trotteten hinüber zum Schloß, wuschen sich rasch, und dann ging es für die Gryffindors auch schon weiter mit Verwandlung.
Der Unterricht von Professor McGonagall war immer harte Arbeit, doch heute war es besonders anstrengend. Alles, was Harry letztes Jahr gelernt hatte, schien während des Sommers aus seinem Kopf verdunstet zu sein. Er sollte einen Käfer in einen Knopf verwandeln, doch es gelang ihm nur, seinen Käfer außer Atem zu bringen, denn der krabbelte ständig über den Tisch, um Harrys Zauberstab zu entkommen.
Ron erging es noch schlimmer. Er hatte seinen Zauberstab mit einem Stück geborgtem Zauberband geflickt, doch er schien nachhaltig beschädigt zu sein. In den unpassendsten Momenten stieß er prasselnd Funken aus. Und immer wenn Ron seinen Käfer verwandeln wollte, hüllte er ihn in dicken grauen Rauch, der nach faulen Eiern stank. Ron, der nicht mehr sah, was er tat, zerquetschte aus Versehen seinen Käfer mit dem Ellbogen und mußte um einen neuen bitten. Professor McGonagall war alles andere als begeistert.
Harry war sehr erleichtert, als die Glocke zum Mittagessen schellte. Sein Hirn fühlte sich wie ein ausgedrückter Schwamm an. Das Klassenzimmer leerte sich, zurück blieben nur er und Ron, der mit seinem Zauberstab wütend auf den Tisch schlug.
»Blödes… nutzloses… Teil
»Schreib deinen Eltern, sie sollen dir einen neuen schicken«, schlug Harry vor, als leuchtende Kugeln in hohem Bogen aus dem Zauberstab hervorschossen und wie bei einem Feuerwerk zerknallten.
»Ja, natürlich, und zurück kommt dann noch ein Heuler«, sagte Ron und stopfte den inzwischen fauchenden Zauberstab in seine Schulmappe.»Es ist dein Fehler, wenn der Zauberstab angeknackst ist -«
Sie gingen hinunter zum Mittagessen, wo Rons Stimmung durch Hermine nicht gerade gehoben wurde. Sie zeigte ihnen eine Hand voll Mantelknöpfe, die sie in Verwandlung zustande gebracht hatte.
»Was haben wir heute Nachmittag?«, sagte Harry, um rasch das Thema zu wechseln.
»Verteidigung gegen die dunklen Künste«, sagte Hermine sofort.
»Sag mal«, meinte Ron und schnappte sich ihren Stundenplan,»warum hast du eigentlich alle Stunden bei Lockhart mit Herzchen umkringelt?«
Hermine riß ihm den Stundenplan aus der Hand und wurde knallrot.
Nach dem Essen gingen sie hinaus in den Hof Der Himmel war bedeckt. Hermine setzte sich auf eine steinerne Stufe und vergrub sich wieder in Abstecher mit Vampiren, Harry und Ron unterhielten sich ein wenig über Quidditch, doch nach einigen Minuten beschlich Harry das Gefühl, daß jemand ihn beobachtete. Er blickte auf und sah den sehr kleinen Jungen mit mausgrauen Haaren, den er schon gestern Abend gesehen hatte, als er den Sprechenden Hut aufsetzte. Er starrte Harry an, als stünde er unter einem Bann. In den Händen hielt er etwas, das aussah wie eine gewöhnliche Muggelkamera, und in dem Moment, als Harry ihn anschaute, lief er hellrot an.
»Hallo, Harry, Ich bin… ich bin Colin Creevey«, sagte er atemlos und machte einen schüchternen Schritt auf ihn zu.»Ich bin auch in Gryffindor. Meinst du – wäre es für dich in Ordnung, wenn – kann ich ein Bild von dir machen?«, fragte er und hob hoffnungsvoll die Kamera.
»Ein Bild?«, wiederholte Harry tonlos.
»Damit ich beweisen kann, daß ich dich getroffen hab«, sagte Colin Creevey begierig und kam langsam näher.»Ich weiß alles über dich. jeder erzählt es. Wie du überlebt hast, als Du-weißt-schon-wer dich umbringen wollte, und wie er verschwunden ist und alles und daß du immer noch eine Blitznarbe auf der Stirn hast«(er besah sich prüfend Harrys Haaransatz),»und ein Junge in meinem Schlafsaal hat gesagt, wenn ich den Film im richtigen Gebräu entwickle, dann bewegen sich die Bilder.«Colin holte vor Begeisterung tief Luft und sagte:»Es ist einfach klasse hier, oder? Ich wußte nie, daß Zaubern alles ist, was ich kann, bis der Brief von Hogwarts kam. Mein Vater ist Milchmann, er konnte es auch nicht fassen. Also mach ich eine Menge Fotos und schick sie ihm. Und es wär echt gut, wenn ich eins von dir hätte -«er sah Harry flehentlich bittend an»- vielleicht könnte dein Freund es schießen und ich stelle mich neben dich? Und könntest du dann deinen Namen draufschreiben?«
»Autogrammkarten? Du verteilst Autogrammkarten, Potter?«
Laut und schneidend hallte Draco Malfoys Stimme im ganzen Hof wider. Er hatte sich direkt hinter Colin gestellt, flankiert, wie immer in Hogwarts, von seinen grobschlächtigen und brutalen Spießgesellen Crabbe und Goyle.
»Alle anstellen!«, dröhnte Malfoy in die Menge hinein.»Harry Potter verteilt Autogrammkarten«
»Nein, tu ich nicht«, sagte Harry wütend und ballte die Fäuste.»Halt den Mund, Malfoy.«
»Du bist doch nur neidisch«, piepste Colin, dessen ganzer Körper etwa so dick war wie Crabbes Hals.
»Neidisch?«, sagte Malfoy, der jetzt nicht mehr zu schreien brauchte; der halbe Schulhof hörte zu.»Worauf denn? Ich will doch keine ekelhafte Narbe quer über mein Gesicht haben, nein danke. Wenn du den halben Kopf aufgeschlitzt kriegst, macht dich das noch lange nicht zu was Besonderem, wenn du mich fragst.«
Crabbe und Goyle kicherten dümmlich.
»Friß Schnecken, Malfoy«, sagte Ron zornig. Crabbe hörte auf zu lachen und begann drohend seine kastaniengroßen Faustknöchel zu reiben.
»Sieh dich vor, Weasley«, höhnte Malfoy.»Du willst doch nicht etwa Ärger machen, denn dann muß deine Mami kommen und dich von der Schule holen.«Mit durchdringend schriller Stimme rief er:»Wenn du dir noch einmal den kleinsten Fehltritt erlaubst -«
Ein Haufen Fünftkläßler von Slytherin lachte laut auf.
»Weasley hätte gern eine Autogrammkarte, Potter«, spottete Malfoy,»sie wäre mehr wert als das ganze Haus seiner Familie -«
Blitzschnell zog Ron seinen geflickten Zauberstab hervor, doch Hermine schlug Abstecher mit Vampiren knallend zu und flüsterte:
»Schau mal, wer da kommt!«
»Um was geht es denn, Herrschaften?«Gilderoy Lockhart schritt auf sie zu, sein türkisfarbener Umhang flatterte im Winde.»Wer verteilt hier Autogrammkarten?«
Harry wollte gerade den Mund aufmachen, doch Lockhart patschte ihm den Arm auf die Schulter und dröhnte gönnerhaft:
»Dumme Frage! Wieder mal unser Harry!«
Harry, wie mit einem Schraubstock an Lockhart gepreßt, sah Malfoy mit spöttischem Blick in der Menge verschwinden.
»Nun denn, Mr Creevey«, sagte Lockhart und strahlte zu Colin hinüber.»Ein Doppelporträt, was für ein Angebot, und wir unterschreiben es beide für Sie.«
Colin fummelte an seiner Kamera und schoß das Bild in dem Augenblick, als die Glocke hinter ihnen läutete und zum Nachmittagsunterricht rief
»So, die Herrschaften, verkrümelt euch«, rief Lockhart den Umstehenden zu und ging mit Harry, den er immer noch an sich gepreßt hatte, auf das Schloßtor zu. Wenn ich nur einen guten Verschwindezauber kennen würde, dachte Harry.
»Unter uns gesagt, Harry«, sagte Lockhart Väterlich, als sie das Gebäude durch eine Seitentür betraten.»Ich hab Ihnen da mit dem jungen Creevey ein wenig geholfen – weil er mich auch fotografiert hat, werden Ihre Schulkameraden nicht denken, daß Sie sich zu sehr ins Rampenlicht rücken…«Unter den neugierigen Blicken der anderen Schüler schleifte er ihn durch einen Gang und eine Treppe empor.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, daß es zu diesem Zeitpunkt Ihrer Laufbahn nicht klug ist, Autogrammkarten zu verteilen – wirkt doch leicht übertrieben, um ehrlich zu sein. Irgendwann mag durchaus die Zeit kommen, da Sie immer einen Stapel griffbereit haben sollten, wie ich, aber -«er gab ein leises Gackern von sich,»ich glaube nicht, daß Sie schon so weit sind.«
Sie waren zu Lockharts Klassenzimmer gelangt und endlich ließ er Harry los. Harry zupfte seinen Umhang zurecht und suchte sich einen Platz ganz hinten, wo er sich damit beschäftigte, alle sieben Bücher von Lockhart vor sich aufzustapeln, so daß er den leibhaftigen Lockhart nicht anzusehen brauchte.
Der Rest der Klasse kam hereingetröpfelt und Ron und Hermine setzten sich neben Harry.
»Auf deinem Gesicht hätte man Spiegeleier braten können«, sagte Ron.»Kannst nur beten, daß Creevey nicht Ginny über den Weg läuft, die würden auf der Stelle einen Harry-Potter-Fanclub gründen.«
»Hör auf«, fauchte ihn Harry an. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war, daß Lockhart etwas vom einem»Harry-Potter-Fanclub«aufschnappte.
Als alle saßen, räusperte sich Lockhart laut und es trat Stille ein. Er griff nach Neville Longbottoms Exemplar von Trips mit Trollen und hielt es hoch, um sein eigenes zwinkerndes Bild auf der Titelseite zu zeigen.
»Ich«, sagte er, deutete darauf und zwinkerte ebenfalls,»Gilderoy Lockhart, Orden der Merlin dritter Klasse, Ehrenmitglied der Liga zur Verteidigung gegen die dunklen Kräfte und fünfmaliger Gewinner des Charmantestes-Lächeln-Preises der Hexenwoche – aber das ist nicht der Rede wert. Die Todesfee von Bandon bin ich schließlich nicht losgeworden, indem ich sie angelächelt habe«
Er hielt inne, um ihnen Gelegenheit zum Lachen zu geben; ein paar lächelten matt.
»Wie ich sehe, habt ihr alle die komplette Ausgabe meiner Werke erworben – gut so. Ich dachte, wir könnten heute mit einem kleinen Quiz beginnen. Was ganz Leichtes, keine Sorge – wollte nur sehen, wie gründlich ihr sie gelesen habt, wie viel ihr behalten habt -«
Er verteilte die Aufgabenblätter und ging dann wieder nach vorn:»Ihr habt dreißig Minuten – los geht's!«
Harry sah auf sein Blatt und las:
1. Was ist Gilderoy Lockharts Lieblingsfarbe?
2. Wie lautet Gilderoy Lockharts geheimer Wunsch?
3. Was ist Ihrer Meinung nach Gilderoy Lockharts größte Leistung bisher?
So ging es weiter, über drei Seiten hinweg, bis zur letzten Frage:
54. Wann hat Gilderoy Lockhart Geburtstag und was wäre das ideale Geschenk für ihn?
Eine halbe Stunde später sammelte Lockhart die Zettel ein und blätterte sie vor der Klasse durch.
»Tjaja – kaum einer von euch weiß noch, daß meine Lieblingsfarbe Lila ist. Das schreibe ich in Einjahr bei einem Yeti. Und ein paar von euch müssen Wanderungen mit Werwölfen sorgfältiger lesen – dort mache ich in Kapitel zwölf deutlich, daß mein ideales Geburtstagsgeschenk die Harmonie zwischen allen magischen und nichtmagischen Menschen wäre – auch wenn ich zu einer großen Flasche Ogdens Old Firewhisky nicht nein sagen würde!«
Er zwinkerte ihnen erneut schalkhaft zu. Ron starrte Lockhart inzwischen mit ungläubiger Miene an; Seamus Finnigan und Dean Thomas, die in der ersten Reihe saßen, schüttelten sich vor unterdrücktem Lachen. Hermine hingegen lauschte Lockhart mit verzückter Aufmerksamkeit und zuckte zusammen, als er ihren Namen nannte.
»… doch Miss Hermine Granger kennt meinen geheimen Wunsch, die Welt von allem Bösen zu befreien und meine eigene Serie von Haarpflegeprodukten zu vermarkten. Gutes Mädchen! Tatsächlich -«er überflog ihre Arbeit,»die volle Punktzahl! Wo ist Miss Hermine Granger?«
Hermine hob eine zitternde Hand.
»Hervorragend!«, strahlte Lockhart,»ganz hervorragend! Nehmen Sie zehn Punkte für Gryffindor! Und nun zu den ernsten Dingen«
Er beugte sich hinter seinen Tisch, hob einen großen, tuchbedeckten Käfig hoch und stellte ihn auf die Tischplatte.
»Ich muss euch warnen! Es ist meine Aufgabe, euch gegen die heimtückischsten Geschöpfe zu wappnen, die die Zauberer-welt kennt! Und es mag durchaus sein, daß ihr in diesem Raum euren schlimmsten Ängsten ins Gesicht sehen müsst. Ihr sollt jedoch wissen, daß euch nichts passieren kann, solange ich hier bin. Alles, was ich verlange, ist, daß ihr ruhig bleibt.«
Widerwillig beugte sich Harry zur Seite, um an seinem Bücherstapel vorbei den Käfig besser sehen zu können. Lockhart legte eine Hand auf die Abdeckung. Dean und Seamus hatten jetzt aufgehört zu lachen. Neville vorn in der ersten Reihe kauerte sich in seinem Stuhl zusammen.
»Ich muß euch bitten, nicht zu schreien«, sagte Lockhart mit leiser Stimme,»das könnte sie reizen.«
Die ganze Klasse hielt die Luft an und Lockhart zog die Decke vom Käfig.
»Ja«, sagte er mit theatralischer Stimme,»frisch gefangene Wichtel aus Cornwall.«
Seamus Finnigan konnte nicht mehr an sich halten. Er prustete los und selbst Lockhart konnte dieses Lachen nicht mit einem Entsetzensschrei verwechseln.
Ja?«, sagte er lächelnd zu Seamus.
»Nun, sie sind nicht – sie sind nicht sehr – gefährlich, oder?«, sagte er mit verschluckter Stimme.
»Da wär ich mir nicht so sicher!«, sagte Lockhart und fuchtelte lästig mit dem Finger vor Seamus' Nase herum.»Teuflisch trickreiche kleiner Biester können das sein«
Die Wichtel waren leuchtend blau und etwa zwanzig Zentimeter groß, mit spitzen Gesichtern und so schrillen Stimmen, daß man meinen konnte, einen Haufen streitender Wellensittiche vor sich zu haben. Kaum war die Abdeckung weg, begannen sie auch schon zu plappern und umherzuflitzen, sie rüttelten an den Käfigstäben und zogen den Schülern in der Nähe häßliche Grimassen.
»Nun gut«, sagte Lockhart laut.»Sehen wir mal, wie ihr mit ihnen klarkommt!«Und er öffnete den Käfig.
Es war, als hätte er das Tor zur Hölle aufgestoßen. Pfeilschnell schossen die Wichtel heraus und in alle Richtungen davon. Zwei von ihnen packten Neville bei den Ohren und hoben ihn in die Luft. Einige brachen geradewegs durchs Fenster und ließen einen Hagel aus Glassplittern über die hinteren Reihen niederprasseln. Der Rest machte sich daran, das Klassenzimmer gründlicher zu verwüsten als ein rasendes Nilpferd. Sie packten Tintenfässer und spritzten damit in der Klasse herum, zerfetzten Bücher und Papiere, rissen Bilder von den Wänden, stülpten den Papierkorb um, packten Taschen und Bücher und warfen sie aus dem zerborstenen Fenster; nach ein paar Minuten nahmen die Schüler unter ihren Tischen Deckung und Neville pendelte vom Kronleuchter an der Decke.
»Na kommt schon! – treibt sie zusammen, zeigt es ihnen! Es sind doch bloß Wichtel«, rief Lockhart.
Er rollte die Ärmel hoch, fuchtelte mit seinem Zauberstab und brüllte:»Peskiwichteli Pesternomi!«
Nichts passierte, außer daß einer der Wichtel Lockharts Zauberstab packte und ihn aus dem Fenster warf. Lockhart schluckte vor Schreck und tauchte ab unter seinen Tisch, wobei er gerade noch Glück hatte, nicht von Neville zerquetscht zu werden, der eine Sekunde später mitsamt dem Kronleuchter herunterkrachte.
Die Glocke läutete und alle rannten in wilder Hast zum Ausgang. Nun trat ein wenig Ruhe ein. Lockhart richtete sich auf, sah Harry, Ron und Hermine, die fast an der Tür waren, und sagte:
»Nun, ich bitte euch drei, den Rest von ihnen einfach wieder in den Käfig zu sperren.«Er huschte an ihnen vorbei und schloß rasch die Tür hinter sich.
»Das ist doch unglaublich!«, brüllte Ron, als einer der verbliebenen Wichtel ihn ins Ohr biß.
»Er will doch nur, daß wir ein wenig praktische Erfahrung sammeln«, sagte Hermine, legte mit einem pfiffigen Erstarrungszauber zwei Wichtel auf einmal lahm und stopfte sie zurück in den Käfig.
»Praktische Erfahrung?«, sagte Harry und versuchte einen Wichtel zu packen, der jedoch tänzelnd entwich und ihm die Zunge rausstreckte.»Hermine, der hatte doch keinen blassen Schimmer von dem, was er da hätte tun sollen -«
»Unsinn«, sagte Hermine,»du hast doch seine Bücher gelesen – überleg doch mal, was für tolle Sachen er gemacht hat -«
»Die er angeblich gemacht hat«, murmelte Ron.