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»Was geht hier vor? Was ist los?«
Argus Filch, angelockt von Malfoys Geschrei, keilte sich mit den Ellbogen durch die Schülerschar. Als er Mrs Norris erblickte, zuckte er erschrocken zurück und begrub entsetzt das Gesicht in den Händen.
»Meine Katze! Meine Katze! Was ist mit Mrs Norris passiert«, jammerte er.
Und seine hervorquellenden Augen richteten sich auf Harry.
»Du!«, kreischte er,»du! Du hast meine Katze ermordet! Du hast sie getötet! Ich bring dich um! Ich
»Argus!«
Dumbledore hatte den Schauplatz betreten, mit etlichen Lehrern im Schlepptau. Im Nu rauschte er an Harry, Ron und Hermine vorbei und holte Mrs Norris vom Fackelhalter.
»Kommen Sie mit, Argus«, sagte er zu Filch,»und Sie auch, Mr Potter, Mr Weasley, Miss Granger.«
Beflissen trat Lockhart vor.
»Mein Büro ist am nächsten, Direktor – nur die Treppe hoch – bitte seien Sie so frei -«
»Ich danke Ihnen, Gilderoy«, sagte Dumbledore.
Die stumme Menge teilte sich, um sie durchzulassen. Lockhart, aufgeregt und mit gewichtiger Miene, eilte hinter Dumbledore her; und auch die Professoren McGonagall und Snape folgten.
Als sie Lockharts dunkles Büro betraten, gab es ein Gehusche entlang der Wände. Harry sah einige Lockharts mit Lockenwicklern in den Haaren aus den Bildern verschwinden. Der echte Lockhart zündete die Kerzen auf dem Schreibtisch an und trat zurück. Dumbledore legte Mrs Norris auf die polierte Tischplatte und begann sie zu untersuchen. Harry, Ron und Hermine tauschten gespannte Bücke und setzten sich auf Stühle außerhalb des Kerzenscheins.
Die Spitze von Dumbledores langer Hakennase war kaum drei Zentimeter von Mrs Norris' Fell entfernt. Durch seine Halbmondbrille untersuchte er sie genau, wobei er sie mit seinen langen Fingern streichelte und anstupste. Professor McGonagall, die Augen zu Schlitzen verengt, hatte sich fast ebenso nahe zu der Katze herabgebeugt. Hinter ihnen im Halbschatten stand Snape, wachsam und mit einem höchst merkwürdigen Gesichtsausdruck: als ob er angestrengt versuchte nicht zu lächeln. Und Lockhart tänzelte um sie alle herum und gab seine Einschätzungen zum Besten.
»Eindeutig ein Fluch, der sie umgebracht hat – vermutlich die Transmutations-Tortur – ich hab's viele Male mit angesehen, leider war ich hier nicht dabei. Ich kenne nämlich den Gegenfluch, der sie gerettet hätte…«
Während Lockharts Auslassungen waren immer wieder Filchs trockene, markerschütternde Schluchzer zu hören. Er war auf einem Stuhl neben dem Schreibtisch zusammengesunken, das Gesicht in den Händen vergraben und nicht fähig, einen Blick auf Mrs Norris zu werfen. Sosehr er Filch verabscheute, Harry konnte nicht anders, er empfand ein wenig Mitleid für ihn, wenn auch nicht so viel wie für sich selbst. Wenn Dumbledore Filch glaubte, würde er ihn ohne Frage von der Schule weisen.
Dumbledore murmelte jetzt seltsame Worte vor sich hin und tippte Mrs Norris mit seinem Zauberstab an, doch nichts passierte: sie sah weiterhin aus, als wäre sie gerade ausgestopft worden.
»… ich kann mich an einen ganz ähnlichen Vorfall in Ouagadogou erinnern«, sagte Lockhart,»eine Serie von Attacken, nachzulesen in meiner Autobiographie; ich konnte die Dorfbevölkerung mit verschiedenen Amuletten ausstatten, und die Sache war sofort erledigt…«
Die Lockharts an den Wänden nickten allesamt zustimmend. Einer davon hatte vergessen, sein Haarnetz abzunehmen.
Endlich richtete sich Dumbledore auf,
»Sie ist nicht tot, Argus«, sagte er sanft.
Lockhart, der gerade die Zahl der Morde zählte, die er verhindert hatte, verstummte jäh.
»Nicht tot«, würgte Filch hervor und sah Mrs Norris durch einen Fingerspalt an.»Aber warum ist sie ganz… ganz steif und erstarrt?«
»Sie wurde versteinert«, sagte Dumbledore. (»Ah! Hab ich's mir doch gedacht!«, rief Lockhart.)»Doch wie, kann ich nicht sagen…«
»Fragen sie ihn!«, kreischte Filch und wandte sein fleckiges und tränenverschmiertes Gesicht Harry zu.
»Kein Zweitkläßler hätte das geschafft«, sagte Dumbledore bestimmt.»Dafür wäre schwarze Magie der fortgeschrittensten -«
»Er hat's getan, er hat's getan«, keifte Filch, und sein teigiges Gesicht lief purpurrot an.»Sie haben gesehen, was er an die Wand geschrieben hat! Er hat – in meinem Büro – er weiß, daß ich ein – ich ein -«in Filchs Gesicht trat etwas fürchterlich Gequältes,»er weiß, daß ich ein Squib bin«, stieß er hervor.
»Ich habe Mrs Norris nicht einmal angefasst!«, sagte Harry laut und im Bewusstsein, daß ihn alle ansahen, auch alle Lockharts an den Wänden.»Und ich weiß nicht mal, was ein Squib ist.«
»Unsinn«, schnarrte Filch,»er hat meinen Kwikzaubern-Brief gesehen!«
»Wenn ich etwas dazu sagen darf, Direktor«, sagte Snape aus dem Schatten heraus, und Harrys ungute Vorahnung verstärkte sich; gewiß würde Snape nichts zu sagen haben, was ihm helfen könnte.
»Potter und seine Freunde waren vielleicht nur zur falschen Zeit am falschen Ort«, sagte er, und seine Lippen kräuselten sich in einem Anflug von Häme, als ob er dies bezweifelte,»aber wir haben hier eine Reihe von verdächtigen Umständen. Warum war er überhaupt in diesem Korridor? Warum war er nicht beim Halloween-Fest?«
Harry, Ron und Hermine sprudelten gleichzeitig los, um die Sache mit der Todestagsfeier zu erklären:»… da waren hunderte von Geistern, die werden Ihnen sagen, daß wir dort waren -«
»Aber warum seid ihr hinterher nicht zum Fest gekommen?«, sagte Snape, und seine dunklen Augen glitzerten im Kerzenlicht.»Warum seid ihr hoch in diesen Korridor?«
Ron und Hermine sahen Harry an.
»Weil… weil…«, sagte Harry mit heftig pochendem Herzen, und etwas sagte ihm, es würde weit hergeholt klingen, wenn er ihnen erklärte, daß eine körperlose Stimme, die nur er hören konnte, ihn dorthin gelockt habe.»Weil wir müde waren und ins Bett gehen wollten«, sagte er.
»Ohne noch etwas zu Abend zu essen?«, fragte Snape mit einem triumphierenden Lächeln auf dem hageren Gesicht.»Ich dachte, Geister würden bei ihren Partys keine Speisen servieren, die Lebenden bekömmlich wären.«
»Wir hatten keinen Hunger«, sagte Ron laut, um ein gewaltiges Knurren seines Magens zu übertönen.
Snapes gehässiges Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen.
»Ich denke, daß Potter nicht die ganze Wahrheit sagt«, verkündete er.»Es wäre angeraten, ihm gewisse Vergünstigungen zu entziehen, bis er bereit ist, uns die ganze Geschichte zu erzählen. Ich persönlich meine, er sollte aus dem Quidditch-Team ausgeschlossen werden, bis er sich entschlossen hat, alle Unklarheiten zu beseitigen.«
»Nun mal halblang, Severus«, sagte Professor McGonagall scharf,»ich sehe keinen Grund, dem Jungen das Quidditch zu verbieten. Diese Katze hat keinen Schlag mit dem Besenstiel abbekommen. Es gibt keinerlei Beweise dafür, daß Potter etwas Unrechtes getan hat.«
Dumbledore sah Harry prüfend an. Seine blinkenden hellblauen Augen gaben Harry das Gefühl, geröntgt zu werden.
»Unschuldig bis zum Beweis der Schuld, Severus«, sagte er entschieden.
Snape sah zornig aus, ebenso wie Filch.
»Meine Katze ist versteinert worden!«, kreischte er mit hüpfenden Augenbällen,»ich will eine Bestrafung sehen«
»Wir werden sie heilen können, Argus«, sagte Dumbledore geduldig,»Madam Sprout ist es kürzlich gelungen, einige Alraunen zu züchten. Sobald sie ihre volle Größe erreicht haben, werde ich einen Trank brauen lassen, der Mrs Norris wieder beleben wird.«
»Das erledige ich«, warf Lockhart ein.»Ich muß es schon hundertmal getan haben, ich könnte einen Alraune-Wiederbelebungstrank im Schlaf zusammenbrauen.«
»Verzeihen Sie«, sagte Snape eisig,»doch ich denke, ich bin der Experte für Zaubertränke an dieser Schule.«
Eine peinliche Pause trat ein.
»Sie können gehen«, sagte Dumbledore zu Harry, Ron und Hermine.
Sie gingen so schnell sie konnten, ohne zu rennen. Ein Stockwerk über Lockharts Büro huschten sie in ein leeres Klassenzimmer und schlossen die Tür leise hinter sich. Harry versuchte in der Dunkelheit die Gesichter seiner Freunde auszumachen.
»Meint ihr, ich hätte ihnen von der Stimme erzählen sollen, die ich gehört habe?«
»Nein«, sagte Ron ohne Zögern.»Stimmen zu hören, die niemand sonst hören kann, ist kein gutes Zeichen, nicht einmal in der Zaubererwelt.«
Etwas in Rons Stimme ließ Harry fragen:»Du glaubst mir doch, oder?«
»Natürlich«, sagte Ron rasch.»Aber, du mußt zugeben, es ist unheimlich…«
»Ich weiß, es ist unheimlich«, sagte Harry.»Die ganze Geschichte ist unheimlich. Was stand da an der Wand? Die Kammer wurde geöffnet… Was soll das heißen?«
»Wart mal, da klingelt etwas in meinem Kopf«, sagte Ron langsam.»Ich glaube, jemand hat mir mal eine Geschichte über eine geheime Kammer in Hogwarts erzählt… vielleicht war es Bill…«
»Und was in aller Welt ist eigentlich ein Squib?«, fragte Harry.
Überrascht hörte er, wie Ron verdruckst kicherte.
»Nun ja – eigentlich ist es nicht lustig – aber wenn es um Filch geht«, sagte er,»ein Squib ist jemand, der aus einer Zaubererfamilie stammt, aber keine magischen Kräfte besitzt. Sozusagen das Gegenteil der Zauberer aus den Muggelfamilien, aber Squibs sind ganz selten. Wenn Filch ein wenig Magie in diesem Kwikzaubern-Kurs lernen will, muß er ein Squib sein. Das würde vieles erklären. Zum Beispiel, warum er Schüler so haßt.«Ron lächelte zufrieden.»Er ist verbittert.«
Irgendwo läutete eine Glocke.
»Mitternacht«, sagte Harry.»Wir gehen besser zu Bett, bevor Snape kommt und versucht, uns wegen etwas anderem dranzukriegen.«
Ein paar Tage lang sprachen sie in der Schule von nichts anderem als vom Angriff auf Mrs Norris. Filch erinnerte sie alle immer wieder daran, indem er am Tatort auf und ab marschierte, als ob er glaubte, der Angreifer werde zurückkehren. Harry hatte gesehen, wie er die Schrift an der Wand mit»Mrs Skowers Allzweck-Magische-Sauerei-Entferner«schrubbte, doch ohne Erfolg. Die Worte leuchteten so hell wie zuvor auf der steinernen Wand. Wenn Filch nicht den Schauplatz des Verbrechens bewachte, schlurfte er mit roten Augen durch die Gänge, stürzte sich drohend auf arglose Schüler und versuchte ihnen Nachsitzen aufzubrummen für Dinge wie»lautes Atmen«oder»glückliches Aussehen«.
Ginny Weasley schien über Mrs Norris' Schicksal sehr betrübt zu sein. Ron zufolge war sie eine große Katzenliebhaberin.
»Aber du hast doch Mrs Norris gar nicht richtig kennen gelernt«, meinte Ron aufmunternd.»Ehrlich gesagt sind wir ohne sie viel besser dran.«Ginnys Lippen zitterten.»Solche Geschichten passieren nicht oft in Hogwarts«, versicherte ihr Ron,»sie werden den Verrückten kriegen, der es getan hat, und ihn schnurstracks rauswerfen. Ich hoffe nur, er hat Zeit, Filch zu versteinern, bevor er rausfliegt. – Ich mach nur Witze«, fügte er hastig hinzu, als Ginny erbleichte.
Der Vorfall hatte auch seine Wirkung auf Hermine. Es war durchaus üblich, daß sie viel Zeit mit Lesen verbrachte, doch jetzt tat sie fast nichts anderes mehr. Harry und Ron brachten mit ihrer Frage, was sie denn aushecke, auch nicht viel aus ihr heraus, und erst am folgenden Mittwoch erfuhren sie es.
Snape hatte Harry nach der Zaubertrankstunde zurückbehalten und ihn Ringelwürmer von den Tischen kratzen lassen. Nachdem er hastig sein Mittagessen hinuntergeschlungen hatte, ging er nach oben, um Ron in der Bibliothek zu treffen. Da kam Justin Finch-Fletchley, der Hufflepuffjunge aus der Kräuterkunde, auf ihn zu. Harry hatte gerade den Mund aufgemacht, um hallo zu sagen, als Justin ihn bemerkte, abrupt kehrtmachte und floh.
Harry fand Ron weit hinten in der Bibliothek, wo er seine Hausaufgaben in Geschichte der Zauberei erledigte. Professor Binns hatte ihnen einen meterlangen Aufsatz über»Die Versammlung europäischer Zauberer im Mittelalter«aufgegeben.
»Ich glaub's einfach nicht, ich hab immer noch zwanzig Zentimeter zu wenig«, sagte Ron aufgebracht und ließ sein Pergament los, das sich im Nu wieder zusammenrollte.»Und Hermine hat anderthalb Meter in ihrer Bonsai-Schrift geschafft.«
»Wo ist sie?«, fragte Harry, griff sich das Maßband und entrollte seine eigene Hausarbeit.
»Irgendwo dort drüben«, sagte Ron und deutete zu den Regalen hinüber.»Sucht ständig Bücher. Ich glaube, sie will die ganze Bibliothek noch vor Weihnachten auslesen.«
Harry erzählte Ron, daß Justin Finch-Fletchley vor ihm Reißaus genommen habe.
»Weiß nicht, weshalb dich das überhaupt beschäftigt, er kam mir ein wenig dumm vor«, sagte Ron, während er so groß wie möglich aufs Pergament krakelte.»Der ganze Unsinn über Lockhart, den sie so großartig findet -«
Hermine tauchte zwischen den Bücherregalen auf. Sie sah verärgert aus und schien endlich bereit, mit ihnen zu reden.
»Alle Exemplare der Geschichte von Hogwarts sind ausgeliehen«, sagte sie und setzte sich neben Harry und Ron.»Es gibt eine zweiwöchige Warteliste. Hätte ich doch mein Exemplar nicht zu Hause gelassen, aber es hat bei den vielen Lockhart-Büchern einfach nicht mehr in den Koffer gepasst.«
»Warum willst du es?«, fragte Harry.
»Aus dem gleichen Grund wie alle andern auch«, sagte Hermine,»um die Legende von der Kammer des Schreckens nachzulesen.«
»Was ist das?«, sagte Harry rasch.
»Das ist es ja. Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Hermine und biß sich auf die Lippe.»Und anderswo kann ich die Geschichte auch nicht finden -«
»Hermine, laß mich deinen Aufsatz lesen«, sagte Ron, verzweifelt auf die Uhr blickend.
»Nein, das möchte ich nicht«, sagte Hermine plötzlich in strengem Ton,»du hast doch zehn Tage Zeit gehabt.«
»Ich brauch doch nur noch sechs Zentimeter, nun komm schon -«
Es läutete. Ron und Hermine gingen zankend in Geschichte der Zauberei.
Das war das langweiligste Fach auf ihrem Stundenplan. Professor Binns war der einzige Geist, den sie als Lehrer hatten, und daß er einmal das Klassenzimmer durch die Tafel betreten hatte, war das Aufregendste, was je in seinem Unterricht passiert war. Er war uralt und schrumplig, und viele Leute sagten, er habe nicht bemerkt, daß er tot sei. Er war eines Tages einfach aufgestanden, um zum Unterricht zu gehen, und hatte seinen Körper in einem Sessel vor dem Kamin im Lehrerzimmer zurückgelassen; sein Tagesablauf hatte sich seither nicht im Mindesten geändert.
Heute war es noch langweiliger als sonst. Professor Binns öffnete seine Unterlagen und begann dumpf dröhnend wie ein Staubsauger zu lesen, bis fast alle in der Klasse in einen Wachschlaf verfallen waren, nur gelegentlich aufmerkend, um einen Namen oder ein Datum zu notieren. Hermine hob die Hand.
Professor Binns, inmitten eines sterbenslangweiligen Vortrags über die Internationale Zaubererversammlung von 1289, schaute verdutzt auf.
»Miss – ähm -«
»Granger, Professor. Ich frage mich, ob Sie uns nicht etwas über die Kammer des Schreckens erzählen könnten«, sagte Hermine mit heller Stimme.
Dean Thomas, der mit herabhängendem Unterkiefer dagesessen und aus dem Fenster gestarrt hatte, schreckte aus seiner Trance; Lavender Brown riß den Kopf von ihren Armen und Nevilles Ellbogen rutschte vom Tisch.
Professor Binns blinzelte.
»Mein Fach ist Geschichte der Zauberei«, sagte er mit seiner trockenen, pfeifenden Stimme.»Ich habe es mit Tatsachen zu tun, Miss Granger, nicht mit Mythen und Legenden.«Er räusperte sich, was sich anhörte wie zerbrechende Kreide, und fuhr fort:»im September jenes Jahres hat ein Unterausschuss zyprischer Zauberer -«
Er verhaspelte sich und brach ab. Wieder ruderte Hermines Hand durch die Luft.
»Miss Grant?«
»Bitte, Sir, gehen Legenden nicht auf immer Tatsachen zurück?«
Professor Binns sah sie derart irritiert an, daß Harry sich sicher war, daß noch kein Schüler ihn je zuvor unterbrochen hatte, weder zu seinen Lebzeiten noch danach.
»Nun«, sagte Professor Binns langsam,»ja, so könnte man argumentieren, denke ich.«Er spähte zu Hermine hinüber, als ob er noch nie zuvor eine leibhaftige Schülerin gesehen hätte.»Allerdings ist die Legende, von der Sie sprechen, eine derart reißerische, geradezu lächerliche Geschichte -«
Doch nun hing die ganze Klasse an Professor Binns' Lippen. Er sah sie mit verhangenem Blick an und aller Augen waren auf ihn gerichtet. Harry konnte sehen, daß derart ungewöhnliches Interesse Binns völlig aus dem Häuschen brachte.
»Oh, wie Sie wünschen«, sagte er langsam.»Lassen Sie mich überlegen… die Kammer des Schreckens…
Sie alle wissen natürlich, daß Hogwarts vor über tausend Jahren gegründet wurde – das genaue Datum ist nicht bekannt -, und zwar von den vier größten Hexen und Zauberern des damaligen Zeitalters. Die vier Häuser der Schule sind nach ihnen benannt: Godric Gryffindor, Helga Hufflepuff, Rowena Ravenclaw und Salazar Slytherin. Sie haben dieses Schloß gemeinsam erbaut, fern von neugierigen Muggelaugen, denn es war ein Zeitalter, als das einfache Volk die Zauberei fürchtete und Hexen und Zauberer unter grausamer Verfolgung zu leiden hatten.«
Er hielt inne, schaute sich mit trüben Augen im Raum um und fuhr dann fort.
»Ein paar Jahre lang arbeiteten die Zauberer einträchtig zusammen. Sie suchten sich junge Leute, denen sie magische Kräfte ansahen, und brachten sie auf das Schloß, um sie auszubilden. Doch dann kam es zum Streit. Zwischen Slytherin und den andern tat sich eine wachsende Kluft auf. Slytherin wollte die Schüler, die in Hogwarts aufgenommen wurden, strenger auslesen. Er glaubte, das Studium der Zauberei müsse den durch und durch magischen Familien vorbehalten sein. Schüler mit Muggeleltern wollte er nicht aufnehmen, denn sie seien nicht vertrauenswürdig. Nach einiger Zeit kam es darüber zu einem heftigen Streit zwischen Slytherin und Gryffindor, und Slytherin verließ die Schule.«
Wieder machte Professor Binns eine Pause, schürzte die Lippen und sah dabei aus wie eine schrumplige alte Schildkröte.
»Zuverlässige historische Quellen sagen uns jedenfalls so viel«, sagte er.»Doch diese klaren Tatsachen werden überwuchert durch die phantasiereiche Legende von der Kammer des Schreckens. Dieser zufolge hat Slytherin eine Geheimkammer in das Schloß eingebaut, von der die anderen Gründer nichts wußten.
Und die Legende sagt weiter, daß Slytherin diese Kammer versiegelt hat, so daß keiner sie öffnen kann, bis sein eigener wahrer Erbe zur Schule kommt. Der Erbe allein soll in der Lage sein, die Kammer des Schreckens zu entsiegeln, den Schrecken im Innern zu entfesseln und mit seiner Hilfe die Schule von all jenen zu säubern, die es nicht wert seien, Zauberei zu studieren.«
Ein Schweigen trat ein, als er zu Ende erzählt hatte, doch es war nicht das übliche, schläfrige Schweigen, das Professor Binns' Unterricht erfüllte. Die Stimmung war unangenehm gespannt, denn alle sahen ihn an und warteten auf mehr. Professor Binns sah ein wenig ungehalten aus.
»Die ganze Geschichte ist natürlich blühender Unsinn«, sagte er.»Natürlich haben die gelehrtesten Hexen und Zauberer die Schule nach einer solchen Kammer durchsucht, viele Male. Es gibt sie nicht. Eine Mär, die dazu taugt, den Leichtgläubigen Furcht einzujagen.«
Hermines Hand war schon wieder oben.
»Sir – was genau meinen Sie mit dem >Schrecken(in der Kammer?«
»Das soll eine Art Monster sein, das nur der Erbe von Slytherin im Griff hau, sagte Professor Binns mit seiner trockenen, schrillen Stimme.
Die Klasse tauschte beunruhigte Blicke aus.
»Ich versichere Ihnen, dieses Wesen existiert nicht«, sagte Professor Binns und blätterte durch seine Unterlagen.»Es gibt weder eine Kammer noch ein Monster.«
»Aber Sir«, sagte Seamus Finnigan,»wenn die Kammer nur von Slytherins wahrem Erben geöffnet werden kann, dann kann sie ja kein anderer finden, nicht wahr?«
»Unsinn, Flaherty«, sagte Professor Binns nun in ernsterem Ton.»Wenn eine lange Reihe von Schulleitern und Schulleiterinnen in Hogwarts das Ding nicht gefunden hat -«
»Aber, Professor«, piepste Parvati Patil,»man braucht wahrscheinlich schwarze Magie, um sie zu öffnen -«
»Wenn ein Zauberer keine schwarze Magie gebraucht, heißt das noch lange nicht, daß er sie nicht auch beherrscht, Miss Pennyfeather«, antwortete Professor Binns barsch.»Ich wiederhole, wenn Leute wie Dumbledore -«
»Aber vielleicht muß man mit Slytherin verwandt sein, also konnte Dumbledore nicht -«, begann Dean Thomas, doch Professor Binns hatte genug.
»Das reicht jetzt«, sagte er scharf»Es ist ein Mythos! Die Kammer existiert nicht! Es gibt rächt den Zipfel eines Beweises, daß Slytherin auch nur einen geheimen Besenschrank gebaut hat! Ich bereue es, Ihnen eine so hanebüchene Legende erzählt zu haben! Wir werden jetzt, wenn Sie erlauben, zur Geschichte zurückkehren, zu den harten, glaubhaften und nachprüfbaren Tatsachen!«
Und fünf Minuten später war die Klasse wieder in ihren üblichen Wachschlaf gesunken.
»Ich hab immer gewusst, daß Salazar Slytherin ein verrückter alter Schwachkopf war«, sagte Ron zu Harry und Hermine, als sie sich nach Ende der Stunde durch die dicht gedrängten Gänge kämpften, um ihre Taschen vor dem Abendessen nach oben zu bringen.»Aber ich hab nicht gewusst, daß er diesen ganzen Unsinn mit dem reinen Blut angefangen hat. Ich wollte nicht in seinem Haus sein, und wenn man mich dafür bezahlte. Ehrlich gesagt, wenn der Sprechende Hut versucht hätte, mich nach Slytherin zu stecken, hätte ich gleich wieder den Zug nach Hause genommen…«
Hermine nickte eifrig, doch Harry sagte kein Wort. In seinem Inneren hatte sich gerade etwas schmerzhaft verkrampft.
Harry hatte Ron und Hermine nie erzählt, daß der Sprechende Hut ernsthaft erwogen hatte, ihn nach Slytherin zu stecken. Als ob es erst gestern gewesen wäre, konnte er sich noch an die leise Stimme erinnern, die in sein Ohr gesprochen hatte, als er vor einem Jahr den Hut aufgesetzt hatte.
»Du könntest groß sein, weißt du, es ist alles da in deinem Kopf, und Slytherin wird dir auf dem Weg zur Größe helfen. Kein Zweifel…«
Doch Harry, der schon gehört hatte, daß das Haus Slytherin in dem Ruf stand, schwarze Magier hervorzubringen, hatte verzweifelt gedacht:»Nicht Slytherin!«, und der Hut hatte gesagt:»Nun, wenn du dir sicher bist – dann besser nach Gryffindor…«
Während der Schülerstrom sie in die eine Richtung trug, schwamm in der Gegenrichtung Colin Creevey vorbei.
»Hi, Harry!«
»Hallo, Colin«, sagte Harry beiläufig.
»Harry – Harry – ein Junge in meiner Klasse hat gesagt, daß du -«
Doch Colin war so klein, daß er nicht gegen die Welle von Schülern ankämpfen konnte, die ihn zur Großen Halle trug; sie hörten ihn noch quieken:»Bis nachher, Harry«, und dann war er verschwunden.
»Was sagt ein Junge in seiner Klasse über dich?«, fragte Hermine.
»Daß ich der Erbe von Slytherin bin, vermute ich«, sagte Harry, und sein Magen machte eine Umdrehung, als ihm plötzlich einfiel, wie Justin Finch-Fletchley am Mittag vor ihm Reißaus genommen hatte.
»Die Leute hier glauben auch alles«, sagte Ron angewidert. Die Menge verlor sich allmählich und die nächste Treppe nahmen sie ohne Mühe.
»Glaubst du wirklich, daß es eine Kammer des Schreckens gibt?«, fragte Ron Hermine.
»Ich weiß nicht«, sagte sie stirnrunzelnd.»Dumbledore konnte Mrs Norris nicht heilen, und deshalb denke ich, was immer sie angegriffen hat, ist vielleicht kein – nun ja -menschliches Wesen.«
Während sie sprach, bogen sie um eine Ecke und fanden sich nun ganz am Ende jenes Korridors, in dem der Angriff geschehen war. Sie hielten inne und sahen sich um. Der Schauplatz sah genauso aus wie in jener Nacht, nur hing keine steife Katze vom Fackelhalter, und ein leerer Stuhl stand an der Wand, auf der immer noch zu lesen war:»Die Kammer wurde geöffnet.«
»Da hat Filch Wache gehalten«, murmelte Ron.
Sie sahen sich an. Der Korridor war menschenleer.
»Kann nicht schaden, wenn wir uns ein wenig umsehen«, sagte Harry. Er stellte seine Tasche ab, ging auf die Knie und kroch nach Spuren suchend auf dem Boden umher.
»Brandflecken!«, sagte er,»hier – und hier -«
»Komm und schau dir das an«, sagte Hermine,»das ist merkwürdig…«
Harry stand auf und ging hinüber zum Fenster neben der Schrift an der Wand. Hermine deutete auf die oberste Fensterscheibe, wo sich etwa zwanzig Spinnen auf einem Haufen drängten und offenbar mit aller Kraft versuchten durch einen kleinen Riß zu kommen. Ein langer silberner Faden pendelte hin und her wie ein Seil, als ob sie alle schnell daran hochgekrabbelt wären, um hinauszugelangen.
»Hast du jemals so etwas bei Spinnen gesehen?«, sagte Hermine kopfschüttelnd.
»Nein«, sagte Harry,»und du, Ron? Ron?«
Er wandte den Kopf. Ron hielt weiten Abstand zu ihnen und schien gegen den Drang anzukämpfen, einfach wegzulaufen.
»Was ist los?«, sagte Harry.
»Ich mag keine Spinnen«, sagte Ron gepreßt.
»Das hab ich nicht gewußt«, sagte Hermine und sah Ron überrascht an.»Du hast doch so oft Spinnen in Zaubertränke gemischt…«
»Gegen tote hab ich ja nichts«, sagte Ron, der sorgfältig den Blick aufs Fenster vermied.»Ich mag nur nicht, wie sie sich bewegen…«
Hermine kicherte.
»Das ist nicht komisch«, sagte Ron beleidigt.»Wenn du's wissen willst: Als ich drei war, hat Fred meinen… meinen Teddybären in eine eklige große Spinne verwandelt, weil ich seinen Spielzauberstab zerbrochen hatte… Du würdest sie auch nicht ausstehen können, wenn du deinen Bären geknuddelt hättest, und der hätte plötzlich zu viele Beine…«
Erschaudernd brach er ab. Hermine bemühte sich offenbar immer noch, sich das Lachen zu verkneifen. Harry hatte das dringende Gefühl, sie sollten lieber das Thema wechseln, und sagte:»Erinnert ihr euch an das viele Wasser auf dem Boden? Wo kam das her? jemand hat es aufgewischt.«
»Es war ungefähr hier«, sagte Ron, der sich wieder gesammelt hatte, und ging ein paar Schritte an Filchs Stuhl vorbei:»Auf Höhe dieser Tür.«
Er streckte die Hand nach dem bronzenen Türknopf aus, zog sie aber jäh wieder zurück, als ob er sich verbrannt hätte.
»Was ist denn jetzt wieder los?«, wollte Harry wissen.
»Ich kann da nicht rein«, sagte Ron grantig.»Das ist ein Mädchenklo.«
»Ach Ron, da wird niemand drin sein«, sagte Hermine. Sie richtete sich auf und kam zu ihm herüber.»Da lebt die Maulende Myrte. Komm, lass uns mal nachsehen.«
Sie setzte sich über das große»Defekt«-Schild hinweg und öffnete die Tür. Es war der düsterste und trostloseste Toilettenraum, den Harry je betreten hatte. Unter einem riesigen gesplitterten und fleckigen Spiegel zog sich eine Reihe angeschlagener Waschbecken entlang. Der Boden war feucht und spiegelte trübe das Licht einiger Kerzenstummel wider, die in ihren Haltern ausbrannten; von den zerkratzten Holztüren der Kabinen schälte sich die Farbe ab und eine hing in den Angeln.
Hermine drückte die Finger an die Lippen und schlich hinüber zur hintersten Kabine. Dort angelangt, sagte sie:»Hallo, Myrte, wie geht es dir?«
Harry und Ron traten neugierig hinzu. Die Maulende Myrte schwebte über der Kloschüssel und drückte an einem Pickel auf ihrem Kinn herum.
»Das ist ein Mädchenklo«, sagte sie und musterte Ron und Harry mißtrauisch.»Das sind keine Mädchen.«
»Nein«, stimmte ihr Hermine zu,»ich wollte ihnen nur zeigen, wie – ähm – nett du es hier hast.«
Mit einer Armbewegung deutete sie auf den schmutzigen alten Spiegel und den feuchten Boden.
»Frag sie, ob sie etwas gesehen hat«, hauchte Harry in Hermines Ohr.
»Was flüsterst du da?«, fragte Myrte und starrte ihn an.
»Nichts«, sagte Harry rasch.»Wir wollten nur fragen -«
»Ich wünschte, die Leute würden aufhören, hinter meinem Rücken zu reden!«, sagte Myrte mit tränenerstickter Stimme.»Ich hab auch Gefühle, müßt ihr wissen, obwohl ich tot bin -«
»Myrte, niemand will dich ärgern«, sagte Hermine,»Harry wollte nur -«
»niemand will mich ärgern! Guter Witz«, heulte Myrte.»Mein Leben hier drin war nichts als das reine Elend, und nun kommen auch noch Leute, die mir den Tod ruinieren!«
»Wir wollten dich fragen, ob du in letzter Zeit etwas Merkwürdiges gesehen hast«, sagte Hermine rasch.»Denn direkt vor der Tür wurde an Halloween eine Katze angegriffen.«
»Hast du an diesem Abend jemanden hier gesehen?«, fragte Harry.
»Ich hab nicht drauf geachtet«, sagte Myrte aufbrausend.»Peeves hat mich derart zur Verzweiflung getrieben, daß ich hierher geflüchtet bin und versucht habe, mich umzubringen. Dann ist mir natürlich eingefallen, daß ich… daß ich…«
»Daß du schon tot bist«, half Ron ihr weiter.
Myrte stieß ein dramatisches Schluchzen aus, stieg hoch in die Luft, drehte sich um und stürzte sich, die drei mit Wasser bespritzend, kopfüber in die Kloschüssel, wo sie verschwand; ihren dumpfen Schluchzern nach zu schließen war sie irgendwo im Abflußrohr zur Ruhe gekommen.
Harry und Ron standen mit offenen Mündern da, doch Hermine zuckte matt die Achseln und meinte:»Offen gestanden war das für Myrtes Verhältnisse eine fast fröhliche Unterhaltung… kommt, gehen wir.«
Harry hatte kaum die Tür hinter Myrtes gurgelnden Schluchzern zugeschlagen, als eine laute Stimme die drei zusammenzucken ließ.