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Hermine blieb mehrere Wochen im Krankenflügel. Als die andern aus den Weihnachtsferien zurückkamen, kochte die Gerüchteküche über, denn natürlich glaubten alle, sie wäre angegriffen worden. Auffällig viele schlenderten am Krankenflügel entlang und versuchten einen Blick auf Hermine zu erhaschen, so daß Madam Pomfrey ihren Vorhang wieder auspackte und ihn um Hermines Bett hängte, damit ihr die Schande erspart bleiben sollte, mit einem Fellgesicht gesehen zu werden.
Harry und Ron gingen sie jeden Abend besuchen. Und seit der Unterricht wieder begonnen hatte, brachten sie ihr Tag für Tag die Hausaufgaben mit.
»Wenn mir diese Schnurrhaare gewachsen wären, dann hätte ich mal eine Pause eingelegt«, sagte Ron eines Abends und legte einen Stapel Bücher auf Hermines Nachttisch.
»Red keinen Stuß, Ron, ich darf den Anschluß nicht verpassen«, erwiderte Hermine barsch. Ihre Stimmung hatte sich deutlich gebessert, seit alle Haare aus ihrem Gesicht verschwanden waren und ihre Augen sich allmählich wieder braun färbten.»Ihr habt nicht etwa neue Spuren?«, setzte sie flüsternd hinzu, damit Madam Pomfrey nichts hörte.
»Nichts«, sagte Harry düster.
»Ich war mir so sicher, es sei Malfoy«, sagte Ron ungefähr zum hundertsten Mal.
»Was ist denn das?«, fragte Harry und deutete auf etwas Goldenes, das unter Hermines Kissen hervorlugte.
»Nur eine Gute-Besserung-Karte«, sagte Hermine hastig und versuchte die Karte wegzustecken, doch Ron war schneller. Er zog sie hervor, klappte sie auf und las laut:
»An Miss Granger, der ich eine rasche Genesung wünsche, von ihrem besorgten Lehrer, Professor Gilderoy Lockhart, Orden der Merlin dritter Klasse, Ehrenmitglied der Liga zur Verteidigung gegen die dunklen Kräfte und fünfmaliger Gewinner des Charmantestes-Lächeln-Preises der Hexenwoche.«
Ron sah angewidert zu Hermine auf.
»Mit der Karte unter dem Kissen schläfst du?«
Doch Madam Pomfrey kam mit der abendlichen Dosis Arznei herübergewuselt und ersparte Hermine die Antwort.
»Lockhart ist mit Abstand der größte Schleimer, den man sich vorstellen kann«, sagte Ron zu Harry, als sie den Krankensaal verlassen hatten und die Treppe zum Gryffindor-Turm emporstiegen. Snape hatte ihnen so viele Hausaufgaben aufgehalst, daß Harry meinte, er würde wohl erst im sechsten Schuljahr damit fertig werden. Ron sagte gerade, er hätte Hermine eigentlich fragen wollen, wie viele Rattenschwänze man in einen Haarsträubetrank mischen müsse, als sie aus dem Stockwerk über ihnen jemanden wutentbrannt schreien hörten.
»Das ist Filch«, murmelte Harry. Sie rannten die Treppe hoch, gingen in Deckung und lauschten mit gespitzten Ohren.
»Du glaubst doch nicht etwa, es ist wieder jemand angegriffen worden?«, fragte Ron angespannt.
Sie standen reglos da, die Köpfe zu Filchs Stimme hin geneigt, die ausgesprochen hysterisch klang.
»- noch mehr Arbeit für mich! Die ganze Nacht wischen, als ob ich nicht genug zu tun hätte! Nein, das bringt das Faß zum Überlaufen, ich geh zu Dumbledore -«
Seine Schritte wurden leiser, während er den Gang entlanglief, und in der Ferne hörten sie eine Tür schlagen.
Sie steckten die Köpfe um die Ecke. Filch hatte offenbar an der üblichen Stelle Wache gehalten: Wieder einmal waren sie an dem Ort, wo Mrs Norris angegriffen worden war. Sie sahen auf den ersten Blick, weshalb Filch getobt hatte. Eine große Wasserlache bedeckte den halben Korridor, und es sah so aus, als ob immer noch Wasser unter der Klotür der Maulenden Myrte hervorsickerte. Nun, da Filch aufgehört hatte zu schimpfen, konnten sie Myrtes Klagen von den Klowänden widerhallen hören.
»Was ist denn bloß mit der schon wieder los?«, fragte Ron.
»Laß uns nachsehen«, sagte Harry. Sie zogen die Umhänge über die Knöchel hoch und tapsten durch die große Wasserlache hinüber zur Tür mit dem»Defekt«-Schild, mißachteten es wie üblich und traten ein.
Die Maulende Myrte weinte noch lauter und heftiger als sonst, falls das überhaupt möglich sein konnte. Offenbar versteckte sie sich in ihrer üblichen Kabine. Hier drin war es dunkel, denn die große Wasserflut, von der Wände und Boden pitschnaß waren, hatte auch die Kerzen gelöscht.
»Was ist los, Myrte?«, fragte Harry.
»Wer ist da?«, schluchzte Myrte niedergeschlagen.»Willst du noch etwas auf mich werfen?«
Harry watete hinüber zu ihrer Tür und sagte:
»Warum sollte ich dich mit etwas bewerfen?«
»Frag mich nicht«, rief Myrte und tauchte auf, wobei noch eine Wasserwelle auf den schon klitschnassen Boden schwappte.»Da bin ich und kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten, und irgend jemand hält es für witzig, ein Buch nach mir zu schmeißen…«
»Aber es kann dir doch nicht wehtun, wenn jemand dich trifft«, sagte Harry beschwichtigend.»Ich meine, es würde einfach durchfliegen, oder?«
Er hatte etwas Falsches gesagt. Myrte plusterte sich auf und kreischte:
»Laßt uns allesamt Bücher auf Myrte werfen, denn sie spürt es ja nicht! Zehn Punkte, wenn ihr eins durch den Magen kriegt! Fünfzig Punkte, wenn es durch den Kopf geht! Schön, hahaha! Was für ein wunderbares Spiel – finde ich gar nicht!«
»Wo wir schon dabei sind – wer war es eigentlich?«, sagte Harry.
»Ich weiß es nicht… Ich saß im Abflußrohr und dachte über den Tod nach, und es fiel direkt durch meinen Kopf«, sagte Myrte und starrte sie böse an.»Da drüben ist es, es ist ganz naß geworden…«
Harry und Ron sahen unter dem Waschbecken nach, auf das Myrte deutete. Dort lag ein kleines, dünnes Buch. Es hatte einen schäbigen schwarzen Einband und war naß wie alles andere im Klo. Harry trat vor, um es aufzuheben, doch Ron streckte jäh seinen Arm aus, um ihn aufzuhalten.
»Was ist?«, sagte Harry.
»Bist du verrückt geworden?«, sagte Ron.»Es könnte gefährlich sein.«
»Gefährlich?«, sagte Harry und lachte auf.»Weshalb sollte es gefährlich sein?«
»Du würdest Augen machen«, sagte Ron, der das Buch mißtrauisch beäugte.»Manche der Bücher, die das Ministerium beschlagnahmt hat – Dad hat es mir erzählt – eines davon brannte einem die Augen aus. Und jeder, der Sonette eines Zauberers gelesen hatte, sprach für den Rest seines Lebens in Limericks. Und eine alte Hexe in Bath hatte ein Buch, bei dem man nie aufhören konnte zu lesen! Man mußte mit der Nase drin herumlaufen und versuchen alles mit einer Hand zu erledigen. Und -«
»Schon gut, ich hab's kapiert«, sagte Harry.
Das kleine Buch lag auf dem Boden, harmlos und durchweicht.
»Nun, wir kommen nicht weiter, wenn wir es uns nicht anschauen«, sagte er, duckte sich unter Rons Arm hindurch und hob das Buch auf.
Harry sah Sofort, daß es sich um einen Taschenkalender handelte, und die ausgebleichte Jahreszahl auf dem Umschlag sagte ihm, daß er fünfzig Jahre alt war. Neugierig schlug er das Buch auf. Auf der ersten Seite konnte er nur den Namen»T. V. Riddle«in verkleckster Tintenschrift erkennen.
»Wart mal«, sagte Ron, der sich vorsichtig genähert hatte und über Harrys Schulter sah.»Den Namen kenn ich doch gut… T V. Riddle hat vor fünfzig Jahren eine Auszeichnung für besondere Verdienste um die Schule erhalten.«
»Woher zum Teufel weißt du das?«, fragte Harry verblüfft.
»Filch hat mich bei den Strafarbeiten die Medaille ungefähr hundert Mal polieren lassen«, sagte Ron gereizt.»Das war die Medaille, über die ich eine Ladung Schnecken gespuckt hab. Wenn du eine Stunde lang Schleim von einem Namen gewischt hättest, dann würdest du dich auch an ihn erinnern.«
Harry schälte die nassen Seiten auseinander. Sie waren vollkommen leer. Nicht die geringste Spur einer Eintragung war auf ihnen zu entdecken, nicht einmal»Tante Mabels Geburtstag«oder»Zahnarzt, halb vier«.
»Er hat ihn nicht benutzt«, sagte Harry enttäuscht.
»Ich frag mich, warum es dann jemand ins Klo spülen wollte?«, sagte Ron verwundert.
Harry drehte das Buch um und sah auf der Rückseite den Namen eines Zeitungshändlers in der Londoner Vauxhall Road.
»Er muß aus einer Muggelfamilie stammen«, sagte Harry nachdenklich.»Wenn er einen Kalender in der Vauxhall Road gekauft hat…«
»Tja, das nützt dir nicht viel«, sagte Ron. Er senkte die Stimme.»Fünfzig Punkte, wenn du es durch Myrtes Nase kriegst.«
Harry jedoch steckte es in die Tasche.
Hermine konnte Ende Februar den Krankenflügel verlassen. Sie war ihre Schnurrhaare, ihr Fell und ihren Schwanz los. Am ersten Abend im Gryffindor-Turm zeigte ihr Harry T. V. Riddles Taschenkalender und erzählte, wie sie ihn gefunden hatten.
»Oooh, er könnte verborgene Kräfte besitzen«, sagte Hermine begeistert. Sie nahm den Kalender in die Hand und musterte ihn genau.
»Wenn er welche hat, dann verbirgt er sie ganz gut«, sagte Ron.»Vielleicht ist er schüchtern. Ich weiß nicht, warum du ihn nicht wegwirfst.«
»Ich würde zu gern wissen, warum jemand versucht hat, ihn loszuwerden«, sagte Harry.»Und ich hätte auch nichts dagegen, wenn ich wüßte, für welche besonderen Verdienste um Hogwarts Riddle seine Auszeichnung bekommen hat.«
»Könnte alles Mögliche gewesen sein«, sagte Ron.»Vielleicht hatte er den dreißigsten ZAG geschafft oder einen Lehrer vor einem Riesenkraken gerettet. Vielleicht hat er Myrte umgebracht, da hätte er allen einen Gefallen getan…«
Doch Harry schloß aus der unbewegten Miene Hermines, daß sie das Gleiche dachte wie er.
»Was ist?«, sagte Ron und sah die beiden abwechselnd an.
»Nun, die Kammer des Schreckens wurde vor fünfzig Jahren geöffnet, oder?«, sagte Harry.»Das hat Malfoy gesagt.«
»Jaa…«, sagte Ron langsam.
»Und dieser Kalender ist fünfzig Jahre alt«, sagte Hermine, aufgeregt mit den Fingern darauf trommelnd.
»Na und?«
»Ach Ron, wach auf«, herrschte ihn Hermine an.»Wir wissen, daß die Person, die die Kammer das letzte Mal geöffnet hat, vor fünfzig Jahren von der Schule verwiesen wurde. Wir wissen, daß T. V. Riddle seine Auszeichnung für besondere Verdienste um die Schule vor fünfzig Jahren bekommen hat. Nun, was wäre, wenn Riddle seine besondere Auszeichnung bekam, weil er den Erben von Slytherin gefangen hat? Sein Kalender, als eine Art Tagebuch benutzt, würde uns wahrscheinlich alles sagen – wo die Kammer ist und wie man sie öffnet und was für eine Kreatur darin lebt -, die Person, die diesmal hinter den Angriffen steckt, würde so ein Buch lieber nicht hier rumliegen sehen, oder?«
»Das ist eine geniale Theorie, Hermine«, sagte Ron,»mit nur einem kleinen Fehler. In dem Buch steht nichts.«
Doch Hermine zog den Zauberstab aus der Tasche.
»Vielleicht ist es unsichtbare Tinte!«, flüsterte sie.
Sie tippte dreimal sanft gegen den Kalender und sagte:»Aparecium!«
Nichts geschah. Unverzagt griff Hermine erneut in ihre Tasche und zog einen leuchtend roten Radiergummi hervor.
»Das ist ein Enthüller, hab ich in der Winkelgasse gekauft«, sagte sie.
Sie rubbelte kräftig über»Erster Januar«. Nichts geschah.
»Ich sag euch doch, dadrin ist nichts«, sagte Ron.»Riddle hat eben einen Kalender zu Weihnachten bekommen und hatte einfach keine Lust, darin zu schreiben.«
Harry konnte nicht erklären, auch nicht sich selbst, warum er Riddles Buch nicht einfach wegwarf. Nicht nur das. Obwohl er wusste, daß der Taschenkalender leer war, nahm er ihn ständig gedankenverloren in die Hand und durchblätterte ihn, als ob er eine Geschichte enthielte, die er zu Ende lesen wollte. Und obwohl sich Harry sicher war, daß er den Namen T. V. Riddle nie vorher gehört hatte, schien er dennoch etwas für ihn zu bedeuten, fast als ob Riddle ein Freund gewesen wäre, als er noch sehr klein war, ein Freund, den er fast vergessen hatte. Doch das war Unsinn. Bevor er nach Hogwarts kam, hatte er keine Freunde gehabt, dafür hatte Dudley schon gesorgt.
Dennoch war Harry entschlossen, mehr über Riddle herauszufinden, und so machte er sich tags darauf in der großen Pause auf den Weg ins Pokalzimmer, um sich Riddles besondere Auszeichnung anzusehen. Eine neugierige Hermine begleitete ihn nebst einem zutiefst ungläubigen Ron, der zudem verkündete, er habe von Pokalzimmern für sein Leben lang die Nase voll.
Riddles blank polierte Goldmedaille war in einem Eckschrank verstaut. Warum er sie bekommen hatte, stand nicht darauf (»Besser ist's, denn sonst wäre sie noch größer gewesen und ich würd sie immer noch polieren«, sagte Ron). Allerdings fanden sie Riddles Namen darüber hinaus noch auf einer alten Medaille für Magische Meriten und auf einer Liste ehemaliger Schulsprecher.
»Klingt wie Percy«, sagte Ron und kräuselte angewidert die Nase.»Vertrauensschüler, Schulsprecher… wahrscheinlich immer Klassenbester -«
»Du hörst dich an, als ob das was Schlechtes wäre«, sagte Hermine in leicht beleidigtem Ton.
Die Sonne warf inzwischen wieder die ersten schwachen Strahlen auf Hogwarts. Im Schloss war die Stimmung hoffnungsvoller geworden. Seit den Angriffen auf Justin und den Fast Kopflosen Nick war nichts mehr passiert und Professor Sprout konnte erfreut berichten, daß die Alraunen launisch und geheimnistuerisch wurden, was hieß, daß sie die Kindheit nun rasch hinter sich ließen.
»Sobald ihre Akne zurückgeht, kann man sie wieder eintopfen«, hörte Harry sie eines Nachmittags mit freundlicher Stimme Filch erklären.»Und danach dauert es nicht mehr lange, bis wir sie zerschneiden und schmoren. Ihre Mrs Norris haben Sie dann im Nu zurück.«
Vielleicht hat der Erbe von Slytherin die Nerven verloren, dachte Harry. Wenn die Schule so wachsam und mißtrauisch war, mußte es immer riskanter werden, die Kammer des Schreckens zu öffnen. Vielleicht ließ sich das Monster, was immer es war, gerade jetzt nieder, um weitere fünfzig Jahre Winterschlaf zu halten…
Ernie Macmillan von den Hufflepuffs teilte diese hoffnungsvolle Überzeugung nicht. Er war immer noch der Ansicht, daß Harry der Schuldige war und sich im Duellierclub»verraten«habe. Peeves war da auch nicht hilfreich; ständig tauchte er in überfüllten Korridoren auf und sang:»Ach Potter, du Schwein…«, inzwischen mit einem dazu passenden Tänzchen.
Für Gilderoy Lockhart stand außer Frage, daß er persönlich bewirkt habe, daß die Angriffe aufgehört hatten. Während sich die Gryffindors für Verwandlung bereitmachten, hörte Harry, wie er dies Professor McGonagall erklärte.
»Ich denke nicht, daß es noch irgendwelche Schwierigkeiten geben wird, Minerva«, sagte er augenzwinkernd und sich ahnungsvoll gegen die Nase tippend.»Ich glaube, die Kammer des Schreckens ist jetzt endgültig verschlossen. Der Schurke muß gewußt haben, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis ich ihn erwischen würde. Ganz vernünftig von ihm, jetzt aufzuhören, bevor ich ihn mir zur Brust nehmen konnte.
Wissen Sie, was die Schule jetzt braucht, ist einen Stimmungsheber. Etwas, das die Erinnerungen an diese Geschichte fortwäscht! Ich will jetzt nicht weiter darüber reden, aber ich denke, ich weiß genau das Richtige…«
Er tippte sich erneut an die Nase und schritt davon.
Was sich Lockhart unter einem Stimmungsheber vorstellte, wurde beim Frühstück am vierzehnten Februar deutlich. Harry hatte wegen eines bis spätabends dauernden Quidditch-Trainings nicht viel geschlafen und ein wenig verspätet rannte er hinunter in die Große Halle. Einen Moment lang dachte er, sich in der Tür geirrt zu haben.
Alle Wände waren mit großen, blaßrosa Blumen bedeckt. Schlimmer noch, herzförmiges Konfetti schneite vom fahlblauen Himmel herab. Harry ging hinüber zum Gryffindor-Tisch. Ron hockte da, als ob ihm schlecht wäre, und Hermine schien in recht kichriger Stimmung.
»Was ist denn hier los?«, fragte Harry die beiden und schnippte Konfetti von seinem Schinken.
Ron deutete auf den Lehrertisch, offenbar zu angewidert, um zu sprechen. Lockhart, mit einem zur Dekoration passenden blaßrosa Umhang, gebot armfuchtelnd Schweigen. Die Lehrer neben ihm saßen mit versteinerten Gesichtern da. Von seinem Platz aus konnte Harry auf Professor McGonagalls Wange einen Muskel zucken sehen. Snape sah aus, als hätte ihm soeben jemand einen großen Becher Skele-Wachs eingeflößt.
»Einen glücklichen Valentinstag!«, rief Lockhart.»Und danken möchte ich den inwischen sechsundvierzig Leuten, die mir Karten geschickt haben. ja, ich habe mir die Freiheit genommen, diese kleine Überraschung für Sie alle vorzubereiten – und es kommt noch besser«
Lockhart klatschte in die Hände und durch das Portal zur Eingangshalle marschierte ein Dutzend griesgrämig dreinschauender Zwerge. Freilich nicht irgendwelche Zwerge. Lockhart hatte sie alle mit goldenen Flügeln und Harfen ausstaffiert.
»Meine freundlichen Liebesboten«, strahlte Lockhart.»Sie werden heute durch die Schule streifen und ihre Valentinsgrüße überbringen. Und damit ist der Spaß noch nicht zu Ende! Ich bin sicher, meine Kollegen werden sich dem Geist der Stunde nicht verschließen wollen. Warum bitten wir nicht Professor Snape, uns zu zeigen, wie man einen Liebestrank mischt! Und wenn wir schon dabei sind, Professor Flitwick weiß mehr als jeder Hexenmeister, den ich je getroffen habe, darüber, wie man jemanden in Trance zaubert, der durchtriebene alte Hund!«
Professor Flitwick begrub das Gesicht in den Händen. Snape sah aus, als ob er den Ersten, der ihn nach einem Liebestrank fragte, vergiften würde.
»Bitte, Hermine, sag mir, daß du keine von den sechsundvierzig bist«, flehte Ron, als sie die Große Halle verließen und zum Unterricht gingen. Hermine war plötzlich vollauf damit beschäftigt, in ihrer Tasche nach dem Stundenplan zu kramen, und antwortete nicht.
Den ganzen Tag über platzten die Zwerge zum Ärger der Lehrer in die Unterrichtsstunden und überbrachten Valentinsgrüße, und spät am Nachmittag, die Gryffindors waren gerade auf dem Weg hoch zur Zauberkunststunde, holte einer von ihnen Harry ein.
»Ei, du! Arry Potter!«, rief ein besonders grimmig aussehender Zwerg und räumte sich mit dem Ellbogen den Weg zu Harry frei.
Harry war die Vorstellung ein Gräuel, vor den Augen einer Schar von Erstklässlern, zu der zufällig auch Ginny Weasley gehörte, einen Valentinsgruß empfangen zu müssen, und versuchte zu entkommen. Doch der Zwerg schlug sich schienbeintretend durch die Menge und holte ihn ein, bevor er auch nur zwei Schritte getan hatte.
»Ich hab eine musikalische Nachricht an)Arry Potter persönlich(zu überbringen«, sagte er und zupfte Unheil verkündend an seiner Harfe herum.
»Nicht hier«, zischte Harry und rannte erneut los.
»Stillgestanden!«, raunzte der Zwerg, packte Harrys Tasche und zog ihn zurück.
»Laß mich los!«, knurrte Harry.
Mit einem lauten Reißen ging seine Tasche entzwei. Bücher, Zauberstab, Pergament und Federkiel flogen zu Boden und über dem ganzen Durcheinander zerbrach auch noch sein gläsernes Tintenfaß.
Harry hastete umher und versuchte seine Sachen aufzusammeln, bevor der Zwerg zu singen begann. Im Korridor entstand ein kleiner Menschenauflauf.
»Was geht hier vor?«, ertönte die kalte, schleppende Stimme von Draco Malfoy. Fieberhaft stopfte Harry alles in seine zerrissene Tasche, verzweifelt darauf aus, zu entkommen, bevor Malfoy den musikalischen Valentinsgruß hören konnte.
»Was ist denn das für ein Durcheinander?«, sagte eine andere vertraute Stimme, die von Percy Weasley.
Harry verlor den Kopf und wollte losrennen, doch der Zwerg packte ihn um die Knie und er stürzte polternd zu Boden.
»Schön«, sagte der Zwerg und setzte sich auf Harrys Fußgelenke.»Hier ist dein Valentinslied:
>Seine Augen, so grün wie frisch gepökelte Kröte
Sein Haar, so schwarz wie Ebenholz
Ich wünscht', er wär mein, denn göttlich muss sein
Der die Macht des Dunklen Lords schmolz.<«
Harry hätte alles Gold in Gringotts dafür gegeben, sich auf der Stelle in Luft auflösen zu können. Er mühte sich vergeblich zu lachen wie die anderen und rappelte sich auf, Seine Füße waren taub vom Gewicht des Zwerges. Unterdessen tat Percy Weasley sein Bestes, um die Schar der Schüler zu zerstreuen, von denen einige zu Tränen gerührt waren.
»Weitergehen, weitergehen, es hat vor fünf Minuten geläutet, ab in die Klassenzimmer jetzt«, sagte er und schubste ein paar der jüngeren Schüler mit sanfter Gewalt weiter.»Auch du, Malfoy!«
Harry sah zu Malfoy hinüber und bemerkte, wie er jäh innehielt und etwas vom Boden auflas. Höhnisch grinsend zeigte er es Crabbe und Goyle, und Harry erkannte, daß er Riddles Kalender in der Hand hielt.
»Gib das zurück«, sagte Harry mit ruhiger Stimme.
»Was Potter wohl da reingeschrieben hat?«, sagte Malfoy, der die Jahreszahl auf dem Umschlag offenbar nicht bemerkt hatte und glaubte, es wäre Harrys Kalender. Die Umstehenden verstummten. Ginny starrte mit entsetztem Blick abwechselnd auf das Buch und auf Harry.
Percy hob an:»Als Vertrauensschüler -«, doch Harry hatte die Geduld verloren. Er zückte seinen Zauberstab und rief»Expelliarmus!«Und genau wie Snape Lockhart entwaffnet hatte, mußte Malfoy zusehen, wie ihm das Buch in hohem Bogen aus der Hand flog. Ron, über das ganze Gesicht grinsend, fing es auf.
»Harry!«, sagte Percy laut.»Keine Zauberei in den Korridoren. Ich muß das berichten, das weißt du!«
Doch Harry war es egal. Er hatte Malfoy eins ausgewischt, und das war die fünf Punkte Abzug für Gryffindor allemal wert. Malfoy sah wütend aus, und als Ginny an ihm vorbei in ihr Klassenzimmer ging, rief er ihr hämisch nach:
»Ich glaube nicht, daß Potter deinen Valentinsgruß besonders gemocht hat!«
Ginny bedeckte das Gesicht mit den Händen und verschwand durch die Tür. Schnaubend zog Ron seinen Zauberstab hervor, doch Harry hielt ihn zurück. Schließlich sollte Ron nicht unbedingt während des ganzen Zauberkunstunterrichts Schnecken spucken.
Erst als sie Professor Flitwicks Klassenzimmer erreicht hatten, bemerkte Harry etwas ziemlich Merkwürdiges an Riddles Kalender. All seine anderen Bücher waren mit scharlachroter Tinte durchtränkt. Der Taschenkalender jedoch war so Sauber, wie er gewesen war, bevor das Tintenfaß darüber zerbrochen war. Er wollte ihn Ron zeigen, doch Ron hatte wieder einmal Probleme mit seinem Zauberstab. Aus der Spitze traten große purpurne Blasen, was Rons Aufmerksamkeit ganz und gar im Bann hielt.
An diesem Abend ging Harry früher als alle andern zu Bett. Zum einen würde er es nicht ertragen, Fred und George noch einmal»Seine Augen, so grün wie frisch gepökelte Kröte«singen zu hören, zum andern wollte er sich Riddles Kalender genau ansehen, und er wußte, daß Ron dies für Zeitverschwendung hielt.
Harry saß auf seinem Himmelbett und blätterte durch die leeren Seiten. Auf keiner einzigen war auch nur eine Spur scharlachroter Tinte. Dann zog er eine neues Fäßchen aus seinem Nachtschrank, tauchte die Feder hinein und ließ einen Tropfen auf die erste Seite des Tagebuchs fallen.
Eine Sekunde lang leuchtete die Tinte hell auf dem Papier, und dann, als würde sie in das Blatt hineingesaugt, verschwand sie. Aufgeregt tunkte Harry die Feder ein zweites Mal ein und schrieb:»Mein Name ist Harry Potter.«
Die Worte leuchteten sekundenlang auf dem Blatt und dann verschwanden auch sie spurlos. Dann, endlich, geschah etwas.
Aus dem Blatt heraus drangen, in seiner eigenen Tinte, Wörter, die Harry nicht geschrieben hatte.
»Hallo, Harry Potter. Mein Name ist Tom Riddle. Wie kommst du an mein Tagebuch?«
Auch diese Worte verblaßten, doch nicht bevor Harry zurückgekritzelt hatte.
»Jemand hat versucht, es ins Klo zu spülen.«
Gespannt wartete er auf Riddles Antwort.
»Ein Glück, daß ich meine Erinnerungen auf dauerhaftere Weise als mit Tinte festgehalten habe. Aber ich wußte immer, daß es einige gibt, die nicht wollen, daß dieses Tagebuch gelesen wird.«
»Was meinst du damit?«, krakelte Harry und bekleckste vor Aufregung die Seite.
»Ich will sagen, daß dieses Tagebuch Erinnerungen an schreckliche Dinge enthält. Dinge, die vertuscht wurden. Dinge, die an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei geschahen.«
»Da bin ich gerade«, schrieb Harry rasch.»Ich bin in Hogwarts und furchtbare Sachen sind passiert. Weißt du etwas über die Kammer des Schreckens?«
Sein Herz hämmerte. Riddles Antwort kam schnell, seine Schrift wurde schludriger, als wollte er eilends alles erzählen, was er wußte.
»Natürlich weiß ich von der Kammer des Schreckens. Zu meiner Zeit haben sie uns erzählt, es sei nur eine Legende und es gebe sie nicht. Aber das war eine Lüge. In meinem fünften Jahr wurde die Kammer geöffnet und das Monster hat mehrere Schüler angegriffen und schließlich einen getötet. Ich habe die Person erwischt, die die Kammer geöffnet hat, und sie wurde verstoßen. Doch der Schulleiter, Professor Dippet, schämte sich, daß so etwas in Hogwarts geschehen war, und verbot mir, die Wahrheit zu sagen. Sie haben ein Märchen erfunden, wonach das Mädchen bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen sei. Sie haben 'mir eine hübsche, glänzende Medaille mit eingeprägter Widmung gegeben und mich ermahnt, den Mund zu halten. Doch ich wusste, daß es wieder geschehen konnte. Das Monster lebte weiter und derjenige, der die Macht hatte, es loszulassen, kam nicht ins Gefängnis.«
Harry stieß fast sein Tintenfaß um, so eilig hatte er es mit der Antwort.
»Es geschieht jetzt wieder. Es gab drei Angriffe und keiner scheint zu wissen, wer dahinter steckt. Wer war es das letzte Mal?«
»Ich kann es dir zeigen, wenn du willst«, antwortete Riddle.»Du brauchst meinen Worten nicht zu glauben. Ich kann dich in mein Gedächtnis von jener Nacht, in der ich ihn gefangen habe, hereinholen.«
Harry zögerte und hielt die Feder über das Tagebuch. Was meinte Riddle damit? Wie konnte er in das Gedächtnis eines anderen gelangen? Nervös blickte er zur Tür des Schlafsaals, in dem es nun dunkel wurde. Als sein Blick wieder auf das Buch fiel, sah er, wie sich neue Worte bildeten.
»Ich will es dir zeigen.«
Harry hielt für den Bruchteil einer Sekunde inne und schrieb dann ein Wort.
»Okay.«
Die Blätter des Tagebuchs begannen zu flattern, als ob ein Wind sie erfaßt hätte. Als sich der Wirbel legte, waren die Seiten für Mitte Juni aufgeschlagen. Mit offenem Mund sah Harry, daß sich das kleine Quadrat für den dreizehnten Juni offenbar in einen winzigen Bildschirm verwandelt hatte. Mit leicht zitternden Händen hob er das Buch und drückte ein Auge gegen das kleine Fenster, und bevor er wußte, wie ihm geschah, kippte er nach vorn; das Fenster weitete sich, er spürte, wie sein Körper das Bett verließ und er kopfüber durch die Öffnung gezogen wurde, hinein in einen Wirbel aus Farbe und Schatten.
Seine Füße berührten festen Grund. Am ganzen Körper zitternd richtete er sich auf und die verschwommenen Formen um ihn her nahmen plötzlich Gestalt an.
Sofort wußte er, wo er war. Dieser kreisrunde Raum mit den schlafenden Porträts war Dumbledores Büro – doch hinter dem Schreibtisch saß nicht Dumbledore. Ein verhutzelter, gebrechlich aussehender Zauberer, kahlköpfig mit Ausnahme einiger Strähnen weißen Haares, las bei Kerzenlicht einen Brief Harry hatte diesen Mann noch nie gesehen.
»Es tut mir Leid«, sagte er zitternd,»ich wollte hier nicht reinplatzen.«
Doch der Zauberer sah nicht auf. Ein wenig stirnrunzelnd las er weiter. Harry trat näher an den Schreibtisch heran und stammelte:
»Ähm, ich gehe einfach, oder?«
Der Zauberer beachtete ihn immer noch nicht. Er schien ihn nicht einmal gehört zu haben. Harry überlegte, ob er vielleicht schwerhörig sei, und hob die Stimme.
»Tut mir Leid, daß ich Sie gestört habe, ich gehe jetzt«, schrie er beinahe.
Der Zauberer faltete mit einem Seufzer den Brief zusammen, stand auf. ging an Harry vorbei, ohne ihm auch nur einen Blick zuzuwerfen, und zog die Vorhänge am Fenster auf
Der Himmel draußen war rubinrot; offenbar war Sonnenuntergang. Der Zauberer ging zum Schreibtisch zurück, setzte sich und beobachtete Däumchen drehend die Tür.
Harry sah sich im Büro um. Kein Phönix, keine surrenden Gerätschaften. Dies war Hogwarts, wie Riddle es kennen gelernt hatte, und dieser unbekannte Zauberer war der Schulleiter, nicht Dumbledore, und er, Harry, war ein für die Menschen vor fünfzig Jahren unsichtbares Phantom.
Es klopfte an der Tür.
»Herein«, sagte der alte Zauberer mit schwacher Stimme. Ein Junge von etwa sechzehn Jahren trat ein und nahm seinen Spitzhut ab. Auf seiner Brust schimmerte das silberne Abzeichen des Vertrauensschülers. Er war viel größer als Harry, doch auch er hatte rabenschwarzes Haar.
»Ah, Riddle«, sagte der Schulleiter.
»Sie wollten mich sprechen, Professor Dippet?«, sagte Riddle. Er sah nervös aus.
»Setzen Sie sich«, sagte Dippet.»Ich habe eben Ihren Brief gelesen.«
»Oh«, sagte Riddle. Er setzte sich und klammerte die Hände fest zusammen.
»Mein lieber Junge«, sagte Dippet freundlich,»ich kann Sie unmöglich den Sommer über hier in der Schule lassen. Gewiß möchten Sie in den Ferien nach Hause?«
»Nein«, sagte Riddle sofort.»Ich würde viel lieber in Hogwarts bleiben als in dieses… in dieses…«
»Sie leben in einem Waisenhaus der Muggel, nicht wahr?«, sagte Dippet neugierig.
»ja, Sir«, sagte Riddle und errötete leicht.
»Sie stammen aus einer Muggelfamilie?«
»Halbblüter, Sir«, sagte Riddle.»Vater Muggel, Mutter Hexe.«
»Und beide Eltern sind -?«
»Meine Mutter starb, kurz nachdem ich geboren wurde, Sir. Im Waisenhaus haben sie mir gesagt, sie habe mir noch meinen Namen geben können – Tom nach meinem Vater, Vorlost nach meinem Großvater.«
Mitfühlend schnalzte Dippet mit der Zunge.
»Die Sache ist die, Tom«, seufzte er.»Man hätte für Sie vielleicht eine Ausnahme machen können, aber unter den gegenwärtigen Umständen…«
»Sie meinen all diese Angriffe, Sir?«, sagte Riddle und Harrys Herz begann zu pochen. Er trat näher, aus Angst, es könne ihm etwas entgehen.
»Genau«, sagte der Schulleiter.»Mein lieber Junge, Sie müssen einsehen, wie dumm es von mir wäre, wenn ich Sie nach Ende des Schuljahres im Schloß bleiben ließe. Besonders im Licht der jüngsten Tragödie… des Todes dieses armen kleinen Mädchens… In Ihrem Waisenhaus sind Sie bei weitem sicherer. Übrigens überlegt man im Zaubereiministerium gerade, ob man die Schule schließen soll. Wir sind der – ähm – Quelle dieser Unannehmlichkeiten bisher keinen Schritt näher gekommen…«
Riddles Augen hatten sich geweitet.
»Sir, wenn diese Person gefangen würde – wenn alles aufhören würde -«
»Was meinen Sie damit?«, sagte Dippet mit einem Quieken in der Stimme und richtete sich in seinem Stuhl auf.»Riddle, wollen Sie sagen, daß Sie etwas über diese Angriffe wissen?«
»Nein, Sir«, sagte Riddle rasch.
Doch Harry war sich sicher, daß es das gleiche»nein«war, mit dem er Dumbledore geantwortet hatte.
Dippet sank zurück und wirkte ein wenig enttäuscht.
»Sie können gehen, Tom…«
Riddle stand auf und ging aus dem Zimmer. Harry folgte ihm.
Sie ließen sich von der Wendeltreppe hinabtragen und kamen beim Wasserspeier im nun fast dunklen Korridor heraus. Riddle hielt inne, und Harry, ihn unverwandt ansehend, tat es ihm gleich. Er konnte erkennen, daß Riddle angestrengt nachdachte. Riddle biß sich auf die Unterlippe, die Stirn in Falten gelegt.
Dann, als hätte er plötzlich eine Entscheidung getroffen, stürmte er los. Harry glitt geräuschlos neben ihm her. Sie sahen niemand anderen, bis sie die Eingangshalle erreicht hatten, wo ein großer Zauberer mit langem, wehendem, kastanienbraunem Haar und Bart von der Marmortreppe aus rief:
»Was streunen Sie so spät hier herum, Tom?«
Harry starrte den Zauberer mit offenem Mund an. Er war kein anderer als der fünfzig Jahre jüngere Dumbledore.
»Der Schulleiter wollte mich sprechen, Sir«, sagte Riddle.
»Gut, nun aber rasch ins Bett«, sagte Dumbledore und starrte Riddle genauso durchdringend an, wie es Harry schon von ihm kannte.»Jetzt sollte man lieber nicht in den Gängen umherwandern. Nicht, seit…«
Er seufzte tief, wünschte Riddle eine gute Nacht und schritt davon. Riddle wartete, bis er außer Sicht war, und ging dann mit raschen Schritten die steinernen Treppen zu den Kerkern hinunter, Harry dicht auf seinen Fersen.
Doch zu Harrys Enttäuschung führte ihn Riddle nicht in einen versteckten Gang oder einen Geheimtunnel, sondern in eben den Kerker, in dein Harry Zaubertrankunterricht bei Snape hatte. Die Fackeln waren nicht entzündet worden, und als Riddle die Tür bis auf einen Spaltbreit zuschob, konnte Harry nur noch Riddle sehen, der reglos an der Tür stand und den Gang draußen beobachtete.
Harry hatte das Gefühl, sie hatten mindestens eine Stunde lang so dagestanden. Alles, was er sehen konnte, war die Gestalt Riddles an der Tür, die durch den Spalt lugte und wie versteinert wartete. Und gerade als Harrys Neugier und Spannung nachgelassen hatten und er sich allmählich wünschte, wieder in die Gegenwart zurückzukehren, hörte er, wie sich vor der Tür etwas bewegte.
Jemand kroch den Gang entlang. Er hörte ihn, wer immer es war, an dem Kerker vorbeigehen, in dem er und Riddle sich versteckt hatten. Stumm wie ein Schatten glitt Riddle durch die Tür und schlich ihm nach, und Harry, der ganz vergessen hatte, daß niemand ihn hören konnte, ging auf Zehenspitzen hinterher.
Etwa fünf Minuten lang folgten sie den Schritten, bis Riddle plötzlich anhielt und den Kopf neigte. Neue Geräusche drangen an ihre Ohren. Harry hörte eine Tür knarrend aufgehen und dann eine rauhe flüsternde Stimme:
»Komm… muß dich hier rausbringen… komm jetzt… in die Kiste…«
Etwas an dieser Stimme kam ihm vertraut vor…
Plötzlich machte Riddle einen Sprung um die Ecke und Harry konnte den dunklen Umriß eines riesigen Jungen erkennen, der vor einer offenen Tür kauerte, neben ihm eine große Kiste.
»Schönen Abend, Rubeus«, sagte Riddle mit schneidender Stimme.
Der Junge schlug die Tür zu und richtete sich auf.
»Was machst du denn hier, Tom?«
Riddle trat näher.
»Es ist aus«, sagte er.»Ich muß dich anzeigen, Rubeus. Man spricht schon darüber, Hogwarts zu schließen, wenn die Angriffe nicht aufhören.«
»Was m-meinst -«
»Ich glaube nicht, daß du jemanden töten wolltest. Aber Monster geben keine guten Haustiere ab. Ich denke, du hast es nur zum Üben rausgelassen und -«
»Es hat nie keinen umgebracht!«, sagte der riesige Junge und wich gegen die geschlossene Tür zurück. Hinter der hörte Harry ein merkwürdiges Rascheln und Klicken.
»Mach schon, Rubeus«, sagte Riddle und trat noch näher.»Die Eltern des toten Mädchens kommen morgen. Das Mindeste, was Hogwarts tun kann, ist, dafür zu sorgen, daß das Wesen, das sie getötet hat, geschlachtet wird…«
»Er war es nicht!«, polterte der Junge, und seine Stimme hallte in dem dunklen Gang wider.»Er – würd's nie tun! Er nie!«
»Geh zur Seite«, sagte Riddle und zückte seinen Zauberstab.
Sein Zauberspruch tauchte den Gang jäh in flammendes Licht. Die Tür hinter dem riesigen Jungen flog mit solcher Wucht auf, daß sie ihn an die Wand gegenüber warf Und heraus drang etwas, das Harry einen langen, durchdringenden Schrei entfahren ließ, den niemand hören konnte -
Ein riesiger, lang gezogener, haariger Körper und ein Gewirr schwarzer Beine; ein Glimmen vieler Augen und ein Paar rasiermesserscharfer Greifzangen – noch einmal hob Riddle seinen Zauberstab, doch es war zu spät. Das Wesen warf ihn zu Boden und krabbelte den Gang entlang davon und verschwand. Riddle rappelte sich auf und sah ihm nach, doch der riesige Junge stürzte sich auf ihn, packte seinen Zauberstab und warf ihn laut schreiend erneut zu Boden:»NEIIIIIIIN!«
Und vor Harrys Augen begann sich alles zu drehen, nun war alles schwarz, Harry hatte das Gefühl zu fallen und hart aufzuprallen. Er landete, alle Viere von sich gestreckt, auf seinem Bett im Schlafsaal der Gryffindors, Riddles Tagebuch aufgeschlagen auf seinem Bauch.
Noch bevor er wieder ruhig Luft holen konnte, ging die Schlafsaaltür auf und Ron kam herein.
»Da bist du ja«, sagte er.
Harry setzte sich auf, Er schwitzte und zitterte.
»Was ist los?«, sagte Ron und sah ihn besorgt an.
»Es war Hagrid, Ron. Hagrid hat die Kammer des Schreckens vor fünfzig Jahren geöffnet.«