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Auch in den restlichen Zaubertrankstunden dieser Woche folgte Harry den Anweisungen des Halbblutprinzen, wo immer sie von den Rezepten von Libatius Borage abwichen, mit dem Ergebnis, dass Slughorn sich nach der vierten Stunde schwärmerisch über Harrys Fähigkeiten ausließ und versicherte, er hätte selten einen so talentierten Schüler unterrichtet. Weder Ron noch Hermine waren erfreut darüber. Harry hatte ihnen zwar angeboten, sie in sein Buch schauen zu lassen, doch fiel es Ron schwerer als Harry, die Handschrift zu entziffern, und er konnte Harry nicht dauernd bitten, die Anweisungen laut vorzulesen, weil das Verdacht erregt hätte. Hermine mühte sich unterdessen entschlossen weiter mit dem ab, was sie die »offiziellen« Angaben nannte, bekam allerdings immer üblere Laune, weil sie schlechtere Resultate einbrachten als die des Prinzen.
Harry fragte sich insgeheim, wer der Halbblutprinz gewesen war. Sie hatten zwar so viele Hausaufgaben bekommen, dass er keine Zeit hatte, sein Exemplar der Zaubertränke für Fortgeschrittene ganz durchzulesen, doch er hatte es gründlich genug durchgeblättert, um festzustellen, dass es kaum eine Seite enthielt, wo der Prinz keine zusätzlichen Anmerkungen hinterlassen hatte, die aber nicht alle mit dem Zaubertrankbrauen zu tun hatten. Gelegentlich fanden sich auch Anleitungen für Zauber, die offenbar der Prinz selbst entwickelt hatte.
»Oder sie selbst«, sagte Hermine gereizt, als sie mitbekam, wie Harry am Samstagabend im Gemeinschaftsraum Ron einige davon zeigte. »Es könnte auch ein Mädchen gewesen sein. Die Handschrift kommt mir eher wie die eines Mädchens vor als die eines Jungen.«
»Er hieß der Halbblutprinz«, sagte Harry. »Wie viele Mädchen waren Prinzen?«
Darauf schien Hermine keine Antwort zu haben. Sie blickte nur finster und zog ihren Aufsatz über »Die Prinzipien der Rematerialisierung« von Ron weg, der versucht hatte, den Text über Kopf zu lesen.
Harry warf einen Blick auf seine Uhr und steckte hastig das alte Exemplar von Zaubertränke für Fortgeschrittene zurück in seine Tasche.
»Es ist fünf vor acht, ich geh jetzt besser, sonst komm ich zu spät zu Dumbledore.«
»Ooooh!«, stieß Hermine hervor und blickte sofort auf. »Viel Glück! Wir warten auf dich, wir wollen hören, was er dir beibringt!«
»Hoffentlich läuft's gut«, sagte Ron, und die beiden sahen Harry nach, der durch das Porträtloch verschwand.
Harry lief durch menschenleere Korridore, musste allerdings hastig hinter eine Statue schlüpfen, als Professor Trelawney um eine Ecke gebogen kam, die leise vor sich hin brabbelte, einen Stapel schmutzig aussehender Spielkarten mischte und sie dann im Gehen las.
»Pik-Zwei: Konflikt«, murmelte sie, als sie an der Statue vorbeikam, hinter die Harry sich geduckt hatte. »Pik-Sieben: ein böses Omen. Pik-Zehn: Gewalt. Pik-Bube: ein dunkler junger Mann, möglicherweise verstört, der den Fragesteller nicht leiden kann – «
Sie blieb wie angewurzelt stehen, genau vor Harrys Statue.
»Nein, das kann nicht stimmen«, sagte sie verärgert, und als sie weitergegangen und nichts als einen leichten Geruch nach Kochsherry zurückgelassen hatte, hörte Harry, wie sie die Karten energisch neu mischte. Er wartete, bis er ganz sicher war, dass sie sich entfernt hatte, dann brach er eilig wieder auf, bis er die Stelle im Korridor im siebten Stock erreichte, wo ein einzelner Wasserspeier an der Wand stand.
»Säuredrops«, sagte Harry. Der Wasserspeier sprang beiseite; die Wand hinter ihm teilte sich und glitt auseinander, und eine steinerne Wendeltreppe, die sich bewegte, wurde sichtbar. Harry stieg auf die Stufen, worauf sie ihn in sanften Kreisen hoch zu der Tür mit dem Bronzeklopfer trug, die zu Dumbledores Büro führte.
Harry klopfte.
»Herein«, sagte Dumbledores Stimme.
»Guten Abend, Sir«, sagte Harry und betrat das Büro des Schulleiters.
»Ah, guten Abend, Harry. Setz dich«, erwiderte Dumbledore lächelnd. »Ich hoffe, du hattest eine angenehme erste Woche zurück in der Schule?«
»Ja, danke, Sir«, sagte Harry.
»Du musst fleißig gewesen sein, da du dir bereits einmal Nachsitzen eingehandelt hast!«
»Ähm …«, begann Harry verlegen, aber Dumbledore sah nicht allzu streng aus.
»Ich habe mich mit Professor Snape verständigt, dass du stattdessen nächsten Samstag zum Nachsitzen kommst.«
»Gut«, sagte Harry, den im Augenblick dringendere Dinge beschäftigten als das Nachsitzen bei Snape. Er blickte sich jetzt verstohlen nach irgendeinem Hinweis auf das um, was Dumbledore an diesem Abend mit ihm vorhatte. Das kreisrunde Büro sah genauso aus wie immer: Die empfindlichen silbernen Instrumente standen auf storchbeinigen Tischen, stießen Rauch aus und surrten; Porträts ehemaliger Schulleiter und Schulleiterinnen dösten in ihren Bilderrahmen; und Dumbledores herrlicher Phönix Fawkes saß auf seiner Stange hinter der Tür und beobachtete Harry mit wachem Interesse. Es sah nicht einmal danach aus, als hätte Dumbledore einen Platz für Duellübungen frei geräumt.
»Also, Harry«, sagte Dumbledore in sachlichem Ton. »Du fragst dich sicher, was ich mit dir in diesen – in Ermangelung eines besseren Wortes – Unterrichtsstunden zu tun gedenke.«
»Ja, Sir.«
»Nun, ich habe beschlossen, dass es an der Zeit ist, dir gewisse Informationen mitzuteilen, jetzt, da du weißt, was Lord Voldemort vor fünfzehn Jahren zu dem Versuch veranlasst hat, dich zu töten.«
Eine Weile herrschte Stille.
»Sie sagten am Ende des letzten Schuljahrs, Sie würden mir alles erzählen«, bemerkte Harry. Es fiel ihm schwer zu vermeiden, dass seine Stimme vorwurfsvoll klang. »Sir«, fügte er hinzu.
»Und das habe ich auch getan«, sagte Dumbledore ruhig. »Ich habe dir alles erzählt, was ich weiß. Von jetzt an werden wir den festen Boden der Tatsachen verlassen und gemeinsam durch die trüben Sümpfe der Erinnerung in das Dickicht wildester Spekulation wandern. Von hier an, Harry, könnte ich mich genauso erbärmlich irren wie Humphrey Belcher, der glaubte, die Zeit sei reif für einen Käsekessel.«
»Aber Sie denken, dass Sie sich nicht irren?«, fragte Harry.
»Natürlich, aber wie ich dir bereits bewiesen habe, mache ich Fehler wie jeder andere. Genau genommen sind meine Fehler, da ich – verzeih mir – eher klüger bin als die meisten Menschen, in der Regel auch entsprechend größer.«
»Sir«, sagte Harry zaghaft, »hat das, was Sie mir erzählen werden, irgendetwas mit der Prophezeiung zu tun? Wird es mir helfen … zu überleben?«
»Es hat sehr viel mit der Prophezeiung zu tun«, erwiderte Dumbledore, so beiläufig, als ob Harry ihn nach dem morgigen Wetter gefragt hätte, »und ich hoffe zweifellos, dass es dir helfen wird, zu überleben.«
Dumbledore erhob sich und ging um den Schreibtisch herum, an Harry vorbei, der sich gespannt auf seinem Platz umdrehte und Dumbledore zusah, wie er sich in den Schrank neben der Tür beugte. Als er sich aufrichtete, hielt er eine vertraute flache Steinschale in den Händen, auf deren Rand merkwürdige Zeichen eingeprägt waren. Er stellte das Denkarium vor Harry auf den Schreibtisch.
»Du siehst beunruhigt aus.«
Harry hatte das Denkarium tatsächlich etwas besorgt ins Auge gefasst. Seine bisherigen Erfahrungen mit der merkwürdigen Vorrichtung, die Gedanken und Erinnerungen speicherte und offenbarte, waren zwar höchst aufschlussreich, aber auch unangenehm gewesen. Als er zum letzten Mal seinen Inhalt aufgewirbelt hatte, hatte er viel mehr gesehen, als ihm eigentlich lieb war. Aber Dumbledore lächelte.
»Diesmal trittst du mit mir zusammen in das Denkarium ein … und was sogar noch ungewöhnlicher ist – mit Erlaubnis.«
»Wohin gehen wir, Sir?«
»Auf eine Reise auf Bob Ogdens Straße der Erinnerung«, sagte Dumbledore und zog eine Kristallflasche aus seiner Tasche, die eine wirbelnde, silbrig weiße Substanz enthielt.
»Wer war Bob Ogden?«
»Er hat in der Abteilung für Magische Strafverfolgung gearbeitet«, sagte Dumbledore. »Er ist vor einiger Zeit gestorben, aber ich konnte ihn noch rechtzeitig ausfindig machen und ihn überreden, mir diese Erinnerungen anzuvertrauen. Wir werden ihn gleich bei einem Besuch begleiten, den er von Amts wegen gemacht hat. Wenn du bitte aufstehen würdest, Harry …«
Aber Dumbledore hatte Schwierigkeiten, den Stöpsel der Kristallflasche herauszuziehen: Seine verletzte Hand war offenbar steif und schmerzte.
»Soll – soll ich, Sir?«
»Kein Problem, Harry.«
Dumbledore richtete seinen Zauberstab auf die Flasche und der Korken flog heraus.
»Sir – wie haben Sie sich die Hand verletzt?«, fragte Harry erneut und blickte mit einer Mischung aus Abscheu und Mitleid auf die geschwärzten Finger.
»Es ist noch nicht Zeit für diese Geschichte, Harry. Noch nicht. Wir haben eine Verabredung mit Bob Ogden.«
Dumbledore kippte den silbrigen Inhalt der Flasche in das Denkarium, wo er, weder Flüssigkeit noch Gas, schimmernd umherwirbelte.
»Nach dir«, sagte Dumbledore und wies auf die Schale.
Harry beugte sich vor, holte tief Luft und tauchte sein Gesicht in die silbrige Substanz. Er spürte, wie seine Füße vom Boden des Büros abhoben; er fiel und fiel, durch schwirrende Dunkelheit, und dann, ganz plötzlich, blinzelte er in blendendem Sonnenlicht. Ehe seine Augen sich daran gewöhnt hatten, landete Dumbledore neben ihm.
Sie standen auf einer Landstraße, die von hohen, verschlungenen Hecken gesäumt war, unter einem Sommerhimmel, so hell und blau wie ein Vergissmeinnicht. Etwa drei Meter vor ihnen stand ein kleiner, rundlicher Mann mit enorm dicken Brillengläsern, die seine Augen zu leberfleckartigen Pünktchen verkleinerten. Er blickte auf ein hölzernes Straßenschild, das aus den Brombeersträuchern am linken Straßenrand ragte. Harry wusste, das musste Ogden sein; er war der einzige Mensch weit und breit, und er trug auch das seltsame Durcheinander von Kleidern, für das sich unerfahrene Zauberer oft entschieden, wenn sie wie Muggel aussehen wollten: Bei ihm waren es ein Gehrock und Gamaschen über einem gestreiften Badeanzug. Doch ehe Harry zu etwas anderem fähig war, als diese bizarre Erscheinung zur Kenntnis zu nehmen, ging Ogden bereits mit zügigen Schritten die Straße hinunter.
Dumbledore und Harry folgten ihm. Als sie an dem hölzernen Wegweiser vorbeikamen, blickte Harry zu dessen zwei Armen hoch. Der eine wies in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren, und darauf stand: »Great Hangleton, 5 Meilen«. Auf dem anderen, der in Ogdens Richtung deutete, stand: »Little Hangleton, 1 Meile«.
Sie legten eine kurze Strecke zurück, auf der nichts zu sehen war außer Hecken, der weite blaue Himmel über ihnen und die wuselnde Gestalt im Gehrock vor ihnen, dann machte die Straße eine Kurve nach links, neigte sich und führte sehr steil einen Hügel hinunter, und mit einem Mal bot sich ihnen ein unerwarteter Blick über ein ganzes Tal, das sich vor ihnen erstreckte. Harry konnte ein Dorf sehen, zweifellos Little Hangleton, es lag gemütlich zwischen zwei steilen Hügeln, und seine Kirche und sein Friedhof waren deutlich zu erkennen. Jenseits des Tales, auf dem Hügel gegenüber, stand ein schönes Gutshaus, inmitten einer weitläufigen, samtig grünen Rasenfläche.
Wegen des steilen Gefälles war Ogden in einen unfreiwilligen Trab verfallen. Dumbledore schritt nun weiter aus, und Harry beeilte sich, um nicht den Anschluss zu verlieren. Er dachte, es ginge nach Little Hangleton, und wie in der Nacht, in der sie Slughorn aufgesucht hatten, fragte er sich, warum sie sich ihrem Ziel aus solcher Entfernung nähern mussten. Bald jedoch stellte er fest, dass er sich geirrt hatte, denn es ging keineswegs ins Dorf. Die Straße bog nach rechts, und als sie um die Kurve kamen, sahen sie gerade noch Ogdens Gehrock durch eine Lücke in der Hecke verschwinden.
Dumbledore und Harry folgten ihm auf einen schmalen Feldweg, der von noch höheren und wilderen Hecken gesäumt war. Der Weg war uneben, steinig und voller Schlaglöcher, er neigte sich wie die Straße zuvor hügelabwärts und führte offenbar zu einer Waldung mit dunklen Bäumen ein Stück weiter unten. Und tatsächlich, bald erreichte der Weg das Wäldchen, und Dumbledore und Harry blieben hinter Ogden stehen, der innegehalten und seinen Zauberstab gezogen hatte.
Der Himmel war wolkenlos, doch die alten Bäume vor ihnen warfen tiefe, dunkle, kühle Schatten, und es dauerte einige Sekunden, bis Harrys Augen mitten im Dickicht der Stämme das halb verborgene Gebäude erkennen konnten. Es kam ihm äußerst sonderbar vor, dass jemand einen solchen Platz für ein Haus gewählt hatte, zumindest war es ein merkwürdiger Entschluss, die Bäume daneben weiter wachsen zu lassen, die alles Licht verschluckten und die Sicht hinunter auf das Tal versperrten. Er fragte sich, ob es wohl bewohnt war; seine Mauern waren moosbewachsen und vom Dach waren so viele Ziegel heruntergefallen, dass man an manchen Stellen die Sparren sehen konnte. Rundum wuchsen Brennnesseln, deren Spitzen bis zu den winzigen, stark verschmutzten Fenstern reichten. Gerade als er zu dem Schluss gekommen war, dass hier unmöglich jemand leben konnte, wurde klappernd eines der Fenster aufgeworfen, und eine dünne Dampf- oder Rauchfahne drang heraus, als sei gerade jemand beim Kochen.
Ogden ging ruhig weiter, recht vorsichtig, wie es Harry schien. Als die dunklen Schatten der Bäume über ihn glitten, blieb er erneut stehen und blickte gebannt auf die Haustür, an die jemand eine tote Schlange genagelt hatte.
Dann war ein Rascheln und Knacken zu hören, und ein Mann in Lumpen fiel vom nächsten Baum und landete direkt vor Ogden auf beiden Füßen. Ogden sprang so schnell rückwärts, dass er auf die Schöße seines Gehrocks trat und strauchelte.
»Du bist hier unerwünscht.«
Der Mann, der vor ihnen stand, hatte dichtes Haar, so verfilzt mit Schmutz, dass die Farbe nicht zu erkennen war. Etliche Zähne fehlten ihm. Seine Augen waren klein und dunkel und starrten in entgegengesetzte Richtungen. Er hätte komisch aussehen können, aber das tat er nicht; der Eindruck war erschreckend, und Harry konnte es Ogden nicht verdenken, dass er noch einige Schritte weiter zurückwich, ehe er sprach.
»Ähm – guten Morgen. Ich bin vom Zaubereiministerium – «
»Du bist hier unerwünscht.«
»Ähm – Verzeihung – ich verstehe Sie nicht«, sagte Ogden nervös.
Harry dachte, Ogden müsse äußerst schwer von Begriff sein; der Fremde drückte sich seiner Meinung nach sehr klar aus, zudem fuchtelte er mit einem Zauberstab in der einen und einem kurzen und ziemlich blutigen Messer in der anderen Hand herum.
»Du verstehst ihn sicher, Harry?«, sagte Dumbledore leise.
»Ja, natürlich«, erwiderte Harry ein wenig verdutzt. »Warum kann Ogden ihn nicht –?«
Doch als sein Blick von neuem auf die tote Schlange an der Tür fiel, begriff er plötzlich.
»Er spricht Parsel?«
»Sehr gut.« Dumbledore nickte und lächelte.
Der Mann in Lumpen ging nun auf Ogden zu, das Messer in der einen, den Zauberstab in der anderen Hand.
»Nun hören Sie –«, fing Ogden an, aber zu spät: Ein Knall ertönte, Ogden lag am Boden und hielt sich krampfhaft die Nase, und eine ekelhafte gelbliche Schmiere spritzte zwischen seinen Fingern hervor.
»Morfin!«, sagte eine laute Stimme.
Ein älterer Mann war aus dem Haus gehastet und hatte die Tür so heftig hinter sich zugeschlagen, dass die tote Schlange kläglich hin- und herschwang. Dieser Mann war kleiner als der erste und hatte seltsame Proportionen; seine Schultern waren sehr breit und seine Arme überlang, was ihm zusammen mit seinen hellbraunen Augen, dem kurzen Stoppelhaar und dem runzligen Gesicht das Aussehen eines kräftigen, in die Jahre gekommenen Affen verlieh. Er blieb neben dem Mann mit dem Messer stehen, der angesichts des am Boden liegenden Ogden in keckerndes Gelächter ausgebrochen war.
»Ministerium, ja?«, sagte der ältere Mann und sah zu Ogden hinunter.
»Korrekt«, sagte Ogden zornig und tastete sein Gesicht ab. »Und Sie sind, wie ich annehme, Mr Gaunt?«
»Richtig«, sagte Gaunt. »Er hat Sie wohl im Gesicht erwischt, was?«
»Ja, hat er!«, fauchte Ogden.
»Sie hätten sich ankündigen sollen, oder?«, sagte Gaunt angriffslustig. »Das hier ist Privatgelände. Können nicht einfach hier reinspazieren und erwarten, dass mein Sohn sich nicht verteidigt.«
»Gegen was verteidigt, Mann?«, fragte Ogden und rappelte sich hoch.
»Topfgucker. Eindringlinge. Muggel und Abschaum.«
Ogden richtete seinen Zauberstab auf seine eigene Nase, aus der immer noch große Mengen einer gelben, eiterartigen Masse hervorquollen, und der Strom versiegte augenblicklich. Mr Gaunt redete aus dem Mundwinkel mit Morfin.
»Ins Haus mit dir. Keine Widerrede.«
Diesmal war Harry vorbereitet und erkannte, dass es Parsel war; er konnte verstehen, was gesagt wurde, und nahm gleichzeitig das unheimliche Zischen wahr, das Einzige, was Ogden hören konnte. Morfin schien gerade im Begriff zu sein zu widersprechen, doch als sein Vater ihm einen drohenden Blick zuwarf, besann er sich anders, schleppte sich in einem merkwürdigen wiegenden Gang zum Haus hinüber und schlug die Tür hinter sich zu, so dass die Schlange erneut traurig hin- und herschwang.
»Ich bin wegen Ihres Sohnes hier, Mr Gaunt«, sagte Ogden, während er den letzten Rest Eiter vom Revers seines Gehrocks wischte. »Das war Morfin, nicht wahr?«
»Ah, das war Morfin«, sagte der alte Mann gleichgültig. »Sind Sie Reinblüter?«, fragte er, mit einem Mal aggressiv.
»Das spielt keine Rolle«, sagte Ogden nüchtern, und Harry empfand wachsenden Respekt für ihn.
Offenbar empfand Gaunt etwas völlig anderes. Er starrte Ogden mit zusammengekniffenen Augen an und murmelte in einem Ton, der offensichtlich beleidigend klingen sollte: »Wenn ich's mir recht überlege, hab ich Nasen wie Ihre schon unten im Dorf gesehen.«
»Das bezweifle ich nicht, wenn Ihr Sohn auf sie losgelassen wurde«, sagte Ogden. »Vielleicht können wir diese Unterhaltung drinnen fortsetzen?«
»Drinnen?«
»Ja, Mr Gaunt. Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Ich bin wegen Morfin hier. Wir haben eine Eule geschickt – «
»Ich kann mit Eulen nichts anfangen«, sagte Gaunt. »Ich öffne keine Briefe.«
»Dann können Sie sich wohl kaum beschweren, dass Ihre Besucher sich nicht ankündigen«, sagte Ogden scharf. »Ich bin hier infolge einer schwer wiegenden Verletzung des Zaubereigesetzes, die heute in den frühen Morgenstunden hier verübt – «
»Schon gut, schon gut, schon gut!«, bellte Gaunt. »Dann kommen Sie eben in das verdammte Haus und sehen, was es Ihnen nützt!«
Das Haus hatte offenbar drei kleine Räume. Zwei Türen führten vom Hauptraum weg, der gleichzeitig als Küche und Wohnzimmer diente. Morfin saß in einem schmutzigen Sessel neben dem rauchenden Kaminfeuer, ließ eine lebendige Natter durch seine dicken Finger schlängeln und sang ihr leise auf Parsel zu:
»Zischle, zischle, kleine Schlange,
schlängle dich am Boden hier.
Bist du nicht gut zu deinem Morfin,
nagelt er dich an die Tür.«
Aus der Ecke neben dem offenen Fenster kam ein schlurfendes Geräusch, und Harry bemerkte, dass noch jemand im Raum war, ein Mädchen, dessen verschlissenes graues Kleid genau die gleiche Farbe hatte wie die schmutzige Steinmauer hinter ihm. Das Mädchen stand an einem verrußten schwarzen Herd, auf dem ein Topf dampfte, und machte sich an dem Regal mit verwahrlost wirkenden Töpfen und Pfannen darüber zu schaffen. Ihr Haar war dünn und stumpf und sie hatte ein unscheinbares, blasses, recht plumpes Gesicht. Ihre Augen starrten wie die ihres Bruders in entgegengesetzte Richtungen. Sie schien ein wenig gepflegter als die beiden Männer, aber Harry meinte, noch nie einen Menschen gesehen zu haben, der erbärmlicher wirkte.
»Meine Tochter, Merope«, sagte Gaunt widerwillig, als Ogden fragend zu ihr hinüberblickte.
»Guten Morgen«, sagte Ogden.
Sie gab keine Antwort, sondern warf ihrem Vater einen erschrockenen Blick zu, wandte sich ab und schob wieder die Töpfe auf dem Regal hinter ihr hin und her.
»Nun, Mr Gaunt«, sagte Ogden, »um gleich zur Sache zu kommen, wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihr Sohn Morfin gestern spät in der Nacht vor einem Muggel Zauber ausgeführt hat.«
Ein ohrenbetäubendes Scheppern war zu hören. Merope hatte einen der Töpfe fallen lassen.
»Aufheben!«, brüllte Gaunt sie an. »Ja, genau, grapsch auf dem Boden rum wie ein dreckiger Muggel, wozu hast du deinen Zauberstab, du nutzloser Mistsack?«
»Mr Gaunt, bitte!«, sagte Ogden und klang schockiert. Merope, die den Topf schon aufgehoben hatte, bekam scharlachrote Flecken im Gesicht, sie ließ den Topf wieder fallen, zog bebend ihren Zauberstab aus der Tasche, richtete ihn auf den Topf und murmelte einen hastigen, unhörbaren Zauberspruch, worauf der Topf von ihr weg über den Boden schlitterte, an die Wand gegenüber schlug und entzweibrach.
Morfin ließ ein verrücktes keckerndes Lachen los. Gaunt schrie: »Mach ihn wieder ganz, du nichtsnutziges Stück, mach ihn wieder ganz!«
Merope wankte durch den Raum, doch ehe sie ihren Zauberstab heben konnte, hatte Ogden bereits seinen gezückt und sagte entschlossen: »Reparo.« Der Topf setzte sich augenblicklich wieder zusammen.
Gaunt machte kurz den Eindruck, als wollte er Ogden gleich anschreien, dann aber überlegte er es sich offenbar anders; er verhöhnte stattdessen seine Tochter: »Ein Glück, dass der nette Mann vom Ministerium da ist, oder? Vielleicht holt er dich von mir weg, vielleicht hat er nichts gegen dreckige Squibs …«
Ohne jemanden anzusehen oder sich bei Ogden zu bedanken, hob Merope den Topf auf und stellte ihn mit zitternden Händen wieder auf sein Regal. Dann stand sie völlig reglos da, den Rücken an die Wand zwischen dem schmutzigen Fenster und dem Herd gelehnt, als wäre es ihr sehnlichster Wunsch, in den Stein zu versinken und zu verschwinden.
»Mr Gaunt«, begann Ogden erneut, »wie bereits gesagt: Der Grund für meinen Besuch – «
»Das hab ich schon verstanden!«, fauchte Gaunt. »Na und wenn schon? Morfin hat einem Muggel ein bisschen verpasst, was er ohnehin verdient hat – was ist schon dabei?«
»Morfin hat das Zaubereigesetz gebrochen«, sagte Ogden streng.
»Morfin hat das Zaubereigesetz gebrochen«, äffte Gaunt Ogdens Stimme nach und machte daraus einen schwülstigen Singsang. Morfin lachte wieder keckernd. »Er hat einem dreckigen Muggel eine Lektion erteilt, und das soll jetzt gesetzwidrig sein?«
»Ja«, sagte Ogden. »Ich fürchte, das ist so.«
Er zog eine kleine Pergamentrolle aus einer Innentasche und breitete sie aus.
»Was ist das denn, sein Urteilsspruch?«, sagte Gaunt mit zornig anschwellender Stimme.
»Es ist eine Vorladung ins Ministerium zu einer Anhörung – «
»Vorladung! Vorladung? Für wen halten Sie sich eigentlich, dass Sie meinen Sohn irgendwohin vorladen könnten?«
»Ich bin der Leiter des Magischen Strafverfolgungskommandos«, sagte Ogden.
»Und Sie denken, wir sind Abschaum, ja?«, schrie Gaunt, näherte sich jetzt Ogden und richtete einen schmutzigen Finger mit gelbem Nagel auf seine Brust. »Abschaum, der angelaufen kommt, wenn das Ministerium es ihm befiehlt? Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie reden, Sie dreckiger kleiner Schlammblüter, wissen Sie das?«
»Ich hatte bisher den Eindruck, mit Mr Gaunt zu sprechen«, sagte Ogden, der vorsichtig wirkte, aber nicht zurückwich.
»Das ist richtig!«, donnerte Gaunt. Einen Moment lang dachte Harry, Gaunt würde eine obszöne Geste mit der Hand machen, doch dann wurde ihm klar, dass er Ogden den hässlichen Ring mit dem schwarzen Stein zeigte, den er am Mittelfinger trug, indem er ihn vor Ogdens Augen hin und her schwenkte. »Sehen Sie den? Sehen Sie den? Wissen Sie, was das ist? Wissen Sie, woher der kommt? Jahrhundertelang war er im Besitz unserer Familie, so weit zurück reicht unser Stammbaum, und wir haben immer das reine Blut bewahrt! Wissen Sie, wie viel man mir dafür geboten hat, mit dem Peverell-Wappen, das in den Stein graviert ist?«
»Ich habe wirklich keine Ahnung«, sagte Ogden und blinzelte, während der Ring wenige Zentimeter vor seiner Nase herumschwebte, »und das tut hier überhaupt nichts zur Sache, Mr Gaunt. Ihr Sohn hat sich – «
Mit einem wütenden Schrei rannte Gaunt auf seine Tochter zu. Für einen kurzen Augenblick dachte Harry, er würde sie erdrosseln, da er ihr mit der Hand an die Gurgel fuhr; doch gleich darauf zerrte er sie an einer Goldkette, die um ihren Hals hing, zu Ogden hin.
»Sehen Sie das?«, brüllte er Ogden an und schüttelte ein schweres goldenes Medaillon in seine Richtung, während Merope würgte und nach Atem rang.
»Ich sehe es, ich sehe es!«, gab Ogden hastig zurück.
»Von Slytherin!«, rief Gaunt. »Von Salazar Slytherin! Wir sind seine letzten lebenden Nachfahren, was sagen Sie dazu, he?«
»Mr Gaunt, Ihre Tochter!«, sagte Ogden in heller Aufregung, aber Gaunt hatte Merope schon losgelassen; sie taumelte von ihm weg, zurück in ihre Ecke, rieb sich den Hals und schnappte nach Luft.
»Also!«, sagte Gaunt triumphierend, als hätte er soeben einen komplizierten Sachverhalt unstrittig bewiesen. »Sprechen Sie nicht weiter mit uns, als ob wir Dreck an Ihren Schuhen wären! Generationen von Reinblütern – allesamt Zauberer – mit Sicherheit mehr, als Sie von sich behaupten können!«
Er spuckte auf den Boden vor Ogdens Füße. Morfin keckerte erneut. Merope, die mit gesenktem Kopf, das Gesicht von ihrem dünnen Haar verborgen, neben dem Fenster kauerte, sagte nichts.
»Mr Gaunt«, sagte Ogden hartnäckig, »ich fürchte, weder Ihre noch meine Vorfahren haben mit der anhängigen Sache etwas zu tun. Ich bin wegen Morfin hier, wegen Morfin und des Muggels, den er gestern spät in der Nacht angepöbelt hat. Unseren Informationen nach«, er warf einen Blick auf seine Pergamentrolle, »hat Morfin einen Fluch oder Zauber gegen besagten Muggel ausgeführt, wodurch dieser einen höchst schmerzhaften Nesselausschlag bekam.«
Morfin kicherte.
»Sei still, Junge«, knurrte Gaunt auf Parsel, und Morfin verstummte wieder.
»Und was, wenn er es tatsächlich getan hätte?«, sagte Gaunt herausfordernd zu Ogden. »Ich schätze, Sie haben dem Muggel sein dreckiges Gesicht sauber gewischt, und sein Gedächtnis noch dazu – «
»Darum geht es wohl kaum, nicht wahr, Mr Gaunt?«, sagte Ogden. »Dies war ein nicht provozierter Angriff auf einen wehrlosen – «
»Ach, ich hab doch gleich gesehen, dass Sie ein Muggelfreund sind«, höhnte Gaunt und spuckte wieder auf den Boden.
»Diese Diskussion bringt uns nicht weiter«, sagte Ogden bestimmt. »Aus dem Verhalten Ihres Sohnes geht eindeutig hervor, dass er keine Reue für seine Taten empfindet.« Er warf noch einen Blick auf seine Pergamentrolle. »Morfin wird am vierzehnten September zu einer Anhörung erscheinen und zu der Anklage Stellung nehmen, dass er in Anwesenheit eines Muggels Magie eingesetzt hat und besagtem Muggel Schaden und Leid –«
Ogden brach ab. Das Klirren und Getrappel von Pferden und laute, lachende Stimmen wehten durch das offene Fenster herein. Anscheinend führte die gewundene Straße zum Dorf ganz dicht an dem Wäldchen vorbei, in dem das Haus stand. Gaunt erstarrte und lauschte mit aufgerissenen Augen. Morfin zischte und wandte sich mit gieriger Miene in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Merope hob den Kopf. Harry sah, dass ihr Gesicht ganz weiß war.
»Mein Gott, was für ein Schandfleck!«, erklang die Stimme eines Mädchens, die so deutlich durch das offene Fenster zu hören war, als hätte das Mädchen neben ihnen im Raum gestanden. »Hätte dein Vater diese Bruchbude nicht abreißen lassen können, Tom?«
»Die gehört nicht uns«, sagte die Stimme eines jungen Mannes. »Alles auf der anderen Seite des Tals gehört uns, aber dieses Haus gehört einem alten Landstreicher namens Gaunt und seinen Kindern. Der Sohn ist völlig verrückt, du solltest mal hören, was sie im Dorf so erzählen – «
Das Mädchen lachte. Das Klirren und Getrappel wurde immer lauter. Morfin machte Anstalten, aus seinem Sessel aufzustehen.
»Bleib sitzen«, mahnte ihn sein Vater auf Parsel.
»Tom«, sagte die Mädchenstimme erneut, jetzt so nahe, dass sie offenbar direkt am Haus waren, »vielleicht täusche ich mich – aber hat da jemand eine Schlange an die Tür genagelt?«
»Guter Gott, du hast Recht!«, erwiderte die Stimme des Mannes. »Das wird der Sohn gewesen sein, ich hab dir ja gesagt, er ist nicht ganz richtig im Kopf. Sieh nicht hin, Cecilia, Liebling.«
Das Klirren und Getrappel wurde nun wieder schwächer.
»›Liebling‹«, flüsterte Morfin auf Parsel und sah seine Schwester an. »›Liebling‹ hat er sie genannt. Also will er dich ohnehin nicht haben.«
Merope war so weiß, dass Harry sicher war, sie würde gleich in Ohnmacht fallen.
»Was soll das heißen?«, sagte Gaunt schneidend, ebenfalls auf Parsel, und blickte nacheinander seinen Sohn und seine Tochter an. »Was hast du gesagt, Morfin?«
»Sie schaut diesen Muggel gerne an«, sagte Morfin mit gehässiger Miene, während er seine Schwester anstarrte, der jetzt die Angst im Gesicht stand. »Immer im Garten, wenn er vorbeikommt, stiert ihn durch die Hecke an, stimmt's? Und gestern Abend – «
Merope schüttelte flehend ruckartig den Kopf, aber Morfin fuhr umbarmherzig fort: »Hat sich aus dem Fenster gehängt und gewartet, dass er nach Hause reitet, nicht wahr?«
»Aus dem Fenster gehängt, um einen Muggel anzuschauen?«, sagte Gaunt leise.
Alle drei Gaunts schienen Ogden vergessen zu haben, der verwirrt und auch verärgert dreinblickte, als sie wieder in unverständliches Zischen und Schnarren ausbrachen.
»Ist das wahr?«, sagte Gaunt mit drohender Stimme und machte ein, zwei Schritte auf das verängstigte Mädchen zu. »Meine Tochter – reinblütiger Nachkomme von Salazar Slytherin – sehnt sich nach einem schmutzigen, dreckblütigen Muggel?«
Merope schüttelte verzweifelt den Kopf und drückte sich an die Wand, offenbar unfähig zu sprechen.
»Aber ich hab's ihm gezeigt, Vater!«, keckerte Morfin. »Ich hab's ihm gezeigt, als er hier vorbeikam. Und mit dem Ausschlag überall hat er gar nicht hübsch ausgesehen, oder, Merope?«
»Du widerliche kleine Squib, du dreckige kleine Blutsverräterin!«, brüllte Gaunt, der nun völlig die Beherrschung verlor, und seine Hände schlossen sich um die Kehle seiner Tochter.
Harry und Ogden schrien gleichzeitig »Nein!«; Ogden hob seinen Zauberstab und rief: »Relaschio!« Gaunt wurde rücklings von seiner Tochter weggerissen; er stolperte über einen Stuhl und fiel flach auf den Rücken. Brüllend vor Zorn sprang Morfin aus seinem Sessel und stürmte auf Ogden zu, schwang dabei sein blutiges Messer und feuerte wahllos Flüche aus seinem Zauberstab ab.
Ogden rannte um sein Leben. Dumbledore gab Harry ein Zeichen, dass sie ihm folgen sollten, und Harry gehorchte, während ihm Meropes Schreie noch in den Ohren klangen.
Ogden stürmte den Feldweg hoch und sprang, die Arme über dem Kopf, auf die Landstraße, wo er mit einem glänzenden, fuchsroten Pferd zusammenstieß, auf dem ein sehr gut aussehender, dunkelhaariger junger Mann saß. Der Mann und das hübsche Mädchen, das auf einem grauen Pferd an seiner Seite ritt, brachen in Gelächter aus, als sie Ogden sahen, der von der Flanke des Pferdes abprallte, sich wieder aufmachte und mit wehendem Gehrock und von Kopf bis Fuß voller Staub überstürzt die Straße hochrannte.
»Ich denke, das genügt, Harry«, sagte Dumbledore. Er fasste Harry am Ellbogen und zog daran. Einen Moment später schwebten sie beide schwerelos durch die Dunkelheit, bis sie in Dumbledores inzwischen dämmrigem Büro wieder sicher auf den Füßen landeten.
»Was ist mit dem Mädchen in dem Waldhaus passiert?«, fragte Harry sofort, während Dumbledore mit einem Schlenker seines Zauberstabs zusätzliche Lampen entzündete. »Merope oder wie sie hieß?«
»Oh, sie hat überlebt«, sagte Dumbledore, setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und bedeutete Harry, ebenfalls Platz zu nehmen. »Ogden apparierte zurück ins Ministerium und kehrte fünfzehn Minuten später mit Verstärkung zurück. Morfin und sein Vater versuchten zu kämpfen, wurden aber beide überwältigt, von dem Haus weggebracht und anschließend vom Zaubergamot verurteilt. Morfin, der bereits wegen Angriffen auf Muggel vorbestraft war, wurde zu drei Jahren in Askaban verurteilt. Vorlost, der außer Ogden noch mehrere andere Ministeriumsangestellte verletzt hatte, bekam sechs Monate.«
»Vorlost?«, wiederholte Harry verwundert.
»Richtig«, sagte Dumbledore und lächelte anerkennend. »Ich freue mich, dass du folgen kannst.«
»Der alte Mann war –?«
»Voldemorts Großvater, ja«, sagte Dumbledore. »Vorlost, sein Sohn Morfin und seine Tochter Merope waren die Letzten der Gaunts, einer sehr alten Zaubererfamilie, bekannt für ihre labile und gewalttätige Veranlagung, die über die Generationen hinweg immer stärker wurde, weil sie an der Gewohnheit festhielten, ihre eigenen Cousins und Cousinen zu heiraten. Mangel an Vernunft, gepaart mit einer ausgeprägten Prunksucht, führte dazu, dass das Familiengold schon mehrere Generationen vor Vorlosts Geburt verschwendet war. Ihm blieben nur Verwahrlosung und Armut, wie du gesehen hast, dazu ein hässliches Naturell, unglaubliche Arroganz und großer Stolz und ein paar Familienerbstücke, die er genauso schätzte wie seinen Sohn, und um einiges mehr als seine Tochter.«
»Merope war also«, sagte Harry, beugte sich in seinem Stuhl vor und starrte Dumbledore an, »Merope war also … Sir, heißt das, sie war … Voldemorts Mutter?«
»In der Tat«, sagte Dumbledore. »Und zufälligerweise bekamen wir auch Voldemorts Vater kurz zu sehen. Ist es dir vielleicht aufgefallen?«
»Der Muggel, den Morfin angegriffen hat? Der Mann auf dem Pferd?«
»Sehr gut, wirklich«, sagte Dumbledore strahlend. »Ja, das war Tom Riddle senior, der gut aussehende Muggel, der beim Ausreiten oft am Haus der Gaunts vorbeikam und für den Merope Gaunt eine heimliche, glühende Leidenschaft hegte.«
»Und sie haben am Ende geheiratet?«, fragte Harry ungläubig, denn er konnte sich keine zwei Menschen vorstellen, bei denen es unwahrscheinlicher war, dass sie sich ineinander verliebten.
»Ich glaube, du vergisst«, sagte Dumbledore, »dass Merope eine Hexe war. Ich nehme an, dass ihre magischen Kräfte nicht besonders gut zur Geltung kamen, solange sie von ihrem Vater terrorisiert wurde. Sobald Vorlost und Morfin in sicherem Gewahrsam in Askaban saßen, sobald sie zum ersten Mal in ihrem Leben allein und frei war, konnte sie, da bin ich überzeugt, ihre Fähigkeiten ungehindert entfalten und ihre Flucht aus dem elenden Leben planen, das sie achtzehn Jahre lang geführt hatte.
Fällt dir nichts ein, was Merope hätte verwenden können, damit Tom Riddle seine Muggelgefährtin vergaß und sich stattdessen in sie verliebte?«
»Der Imperius-Fluch?«, schlug Harry vor. »Oder ein Liebestrank?«
»Sehr gut. Ich persönlich denke eher, dass sie einen Liebestrank benutzt hat. Ich bin sicher, das muss ihr romantischer vorgekommen sein, und ich glaube, es kann nicht sonderlich schwierig gewesen sein, Riddle, als er an einem heißen Tag alleine nach Hause ritt, zu einem Schluck Wasser zu überreden. Jedenfalls erfreute sich das Dorf Little Hangleton ein paar Monate nach dem Vorfall, dessen Zeuge wir eben wurden, an einem gewaltigen Skandal. Du kannst dir vorstellen, wie viel Klatsch es gab, als der Sohn des Gutsherrn mit Merope, der Tochter des Landstreichers, durchbrannte.
Aber der Schreck der Dorfbewohner war nichts im Vergleich zu dem von Vorlost. Er kehrte aus Askaban zurück und dachte, seine Tochter würde ihn pflichtbewusst mit einer warmen Mahlzeit auf dem Tisch erwarten. Stattdessen fand er eine zentimeterdicke Staubschicht und ihren Abschiedsbrief vor, in dem sie ihm erklärte, was sie getan hatte.
Nach allem, was ich herausfinden konnte, hat er von da an nie mehr ihren Namen oder ihre Existenz erwähnt. Der Schock über ihr Fortgehen mag zu seinem frühen Tod beigetragen haben – oder vielleicht hatte er auch einfach nie gelernt, für sich zu sorgen. Askaban hatte Vorlost außerordentlich geschwächt und er erlebte Morfins Rückkehr in sein Haus nicht mehr.«
»Und Merope? Sie … sie ist gestorben, oder? Ist Voldemort nicht in einem Waisenhaus aufgewachsen?«
»Ja, richtig«, sagte Dumbledore. »Wir sind hier auf einige Vermutungen angewiesen, allerdings glaube ich, dass sich leicht erschließen lässt, was geschah. Du musst wissen, wenige Monate nachdem sie durchgebrannt waren und geheiratet hatten, tauchte Tom Riddle wieder im Gutshaus in Little Hangleton auf, ohne seine Frau. Es gab wilde Gerüchte in der Nachbarschaft, dass er davon spreche, er sei ›hinters Licht geführt‹ und ›reingelegt‹ worden. Ich bin sicher, dass er eigentlich sagen wollte, er habe unter einem magischen Bann gestanden, der sich nun gelöst habe, vermutlich wagte er es aber nicht, genau diese Worte zu gebrauchen, aus Angst, man würde ihn für verrückt halten. Als sie hörten, was er sagte, nahmen die Dorfbewohner jedoch an, Merope habe Tom Riddle angelogen und so getan, als würde sie ein Kind von ihm bekommen, und er habe sie aus diesem Grund geheiratet.«
»Aber sie hat wirklich ein Kind von ihm bekommen.«
»Ja, aber erst ein Jahr nachdem sie geheiratet hatten. Tom Riddle verließ sie, während sie noch schwanger war.«
»Was ist schief gelaufen?«, fragte Harry. »Warum hat der Liebestrank aufgehört zu wirken?«
»Auch darüber können wir nur mutmaßen«, sagte Dumbledore, »aber ich glaube, dass Merope, die ihren Mann innig liebte, es nicht über sich brachte, ihn weiterhin mit magischen Mitteln zu versklaven. Ich glaube, sie hat beschlossen, ihm den Trank nicht länger zu verabreichen. Vernarrt wie sie war, hat sie sich vielleicht eingeredet, dass auch er sich inzwischen in sie verliebt hätte. Womöglich dachte sie, er würde um des Kindes willen bei ihr bleiben. Wenn es so war, dann hat sie sich in beiden Punkten geirrt. Er hat sie verlassen, hat sie nie mehr wiedergesehen und sich nie die Mühe gemacht herauszufinden, was aus seinem Sohn geworden ist.«
Der Himmel draußen war pechschwarz und die Lampen in Dumbledores Büro schienen heller zu leuchten als zuvor.
»Ich denke, das genügt für heute Abend, Harry«, sagte Dumbledore nach wenigen Augenblicken.
»Ja, Sir«, erwiderte Harry.
Er stand auf, ging aber nicht hinaus.
»Sir … ist es wichtig, all das über Voldemorts Vergangenheit zu wissen?«
»Sehr wichtig, denke ich«, sagte Dumbledore.
»Und hat es … hat es etwas mit der Prophezeiung zu tun?«
»Es hat alles mit der Prophezeiung zu tun.«
»Klar«, sagte Harry, ein wenig verwirrt, aber dennoch beruhigt.
Er wandte sich zum Gehen, da fiel ihm noch eine Frage ein, und er drehte sich wieder um.
»Sir, darf ich Ron und Hermine alles erzählen, was Sie mir gesagt haben?«
Dumbledore betrachtete ihn einen Moment lang, dann sagte er: »Ja, ich denke, Mr Weasley und Miss Granger haben sich als vertrauenswürdig erwiesen. Aber, Harry, ich muss dich bitten, ihnen zu sagen, dass sie nichts davon irgendjemand anderem weitererzählen dürfen. Es wäre nicht gut, wenn bekannt würde, wie viel ich über Lord Voldemorts Geheimnisse weiß oder ahne.«
»Nein, Sir, ich seh zu, dass nur Ron und Hermine davon erfahren. Gute Nacht.«
Er drehte sich erneut um und war schon fast an der Tür, als er ihn sah. Auf einem der kleinen storchbeinigen Tische, auf denen so viele zerbrechlich wirkende silberne Instrumente standen, lag ein hässlicher Goldring mit einem großen, zerbrochenen schwarzen Stein.
»Sir«, sagte Harry und starrte darauf. »Dieser Ring – «
»Ja?«, sagte Dumbledore.
»Sie trugen ihn in der Nacht, als wir Professor Slughorn besuchten.«
»Allerdings«, bestätigte Dumbledore.
»Aber ist das nicht … Sir, ist das nicht derselbe Ring, den Vorlost Gaunt damals Ogden gezeigt hat?«
Dumbledore neigte den Kopf.
»Genau derselbe.«
»Aber wie kommt es –? Haben Sie ihn die ganze Zeit gehabt?«
»Nein, ich habe ihn erst vor kurzem erworben«, sagte Dumbledore. »Genauer gesagt, einige Tage bevor ich dich von deiner Tante und deinem Onkel abholte.«
»Das war also ungefähr, als Sie sich die Hand verletzt haben, Sir?«
»Ungefähr, ja, Harry.«
Harry zögerte. Dumbledore lächelte.
»Sir, wie genau –?«
»Zu spät, Harry! Du wirst die Geschichte ein andermal hören. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Sir.«