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»Also hat Snape ihm seine Hilfe angeboten? Er hat ihm eindeutig seine Hilfe angeboten?«
»Wenn du mich das noch einmal fragst«, erwiderte Harry, »dann steck ich dir diesen Rosenkohl – «
»Ich wollt ja nur wissen!«, sagte Ron. Sie standen zu zweit am Spülbecken in der Küche des Fuchsbaus und putzten für Mrs Weasley einen Berg Rosenkohl. Draußen vor dem Fenster trieb Schnee vorbei.
»Ja, Snape hat ihm seine Hilfe angeboten!«, sagte Harry. »Er hat angeblich Malfoys Mutter versprochen, ihn zu beschützen, er hat einen Unbrechbaren Eid oder so was geleistet – «
»Einen Unbrechbaren Schwur?«, sagte Ron mit verdutzter Miene. »Ach was, das kann nicht sein … bist du sicher?«
»Ja, allerdings«, sagte Harry. »Wieso, was bedeutet das?«
»Nun, man kann einen Unbrechbaren Schwur nicht brechen …«
»Komisch, aber da wär ich auch selbst drauf gekommen. Also, was passiert, wenn man ihn bricht?«
»Man stirbt«, sagte Ron schlicht. »Als ich fünf war, haben Fred und George mal versucht mich zu so was zu bringen. Ich war auch schon fast so weit, hab Freds Hand gehalten und alles, und in dem Moment hat Dad uns gefunden. Er ist völlig ausgerastet«, sagte Ron, der bei der Erinnerung ein Funkeln in den Augen bekam. »Das einzige Mal, dass ich Dad genauso wütend erlebt habe wie Mum. Fred meint, dass seine linke Pobacke seither nicht mehr die alte ist.«
»Ja, schön, aber Freds linke Pobacke mal beiseite – «
»Wie bitte?«, sagte Freds Stimme, und die Zwillinge betraten die Küche.
»Aaah, George, schau dir das an. Die benutzen Messer und alles. Wie niedlich.«
»In zwei Monaten und 'n paar Tagen werd ich siebzehn«, erwiderte Ron mürrisch, »dann kann ich das mit einem Zauber erledigen!«
»Aber bis dahin«, sagte George, setzte sich an den Küchentisch und legte die Füße darauf, »haben wir das Vergnügen, euch dabei zuzusehen, wie ihr uns den richtigen Gebrauch eines – hoppala.«
»Das warst du!«, sagte Ron zornig und leckte an seinem blutenden Daumen. »Wart nur, wenn ich erst mal siebzehn bin – «
»Ich bin sicher, du wirst uns alle mit bislang ungeahnten magischen Fähigkeiten verblüffen.« Fred gähnte.
»Und wo wir schon bei bislang ungeahnten magischen Fähigkeiten sind, Ronald«, sagte George, »was hören wir da von Ginny über dich und eine junge Dame namens – wenn unsere Informationen nicht falsch sind – Lavender Brown?«
Ron lief leicht rosa an, wirkte aber nicht verstimmt, als er sich wieder dem Rosenkohl zuwandte.
»Kümmert euch doch um euren eigenen Kram.«
»Welch schlagfertige Antwort«, sagte Fred. »Ich weiß wirklich nicht, wie du immer auf so was kommst. Nein, was wir wissen wollten, war … wie ist es passiert?«
»Was meinst du?«
»Hatte sie vielleicht einen Unfall?«
»Was?«
»Na, wie hat sie sich einen so beträchtlichen Hirnschaden zugezogen? – Hör auf damit!«
Mrs Weasley betrat die Küche und bekam gerade noch mit, wie Ron das Rosenkohlmesser nach Fred warf, der es mit einem trägen Schlenker seines Zauberstabs in einen Papierflieger verwandelte.
»Ron!«, sagte sie wütend. »Ich möchte nie wieder sehen, dass du ein Messer wirfst!«
»In Ordnung«, sagte Ron, »ich lass es dich nie wieder sehen«, ergänzte er leise und widmete sich erneut dem Berg Rosenkohl.
»Fred, George, tut mir Leid, meine Lieben, aber Remus kommt heute Abend, also muss ich Bill bei euch beiden unterbringen!«
»Kein Problem«, sagte George.
»Gut, und da Charlie nicht heimkommt, sind Harry und Ron allein in der Dachkammer, und wenn Fleur bei Ginny schläft …«
»… damit ist Weihnachten für Ginny gelaufen …«, murmelte Fred.
»… sind alle bequem untergebracht. Naja, jedenfalls haben alle ein Bett«, sagte Mrs Weasley und klang leicht erschöpft.
»Percy lässt sein hässliches Gesicht also definitiv nicht blicken?«, fragte Fred.
Mrs Weasley wandte sich ab, ehe sie antwortete.
»Nein, ich nehme an, er hat im Ministerium zu tun.«
»Oder er ist der größte Schwachkopf der Welt«, sagte Fred, als Mrs Weasley die Küche verließ. »Eins von beidem. Also, dann mal los, George.«
»Was habt ihr beiden vor?«, fragte Ron. »Könnt ihr uns nicht mit diesem Rosenkohl helfen? Ihr könntet einfach eure Zauberstäbe benutzen und dann hätten wir auch frei!«
»Nein, ich denke nicht, dass wir das tun können«, sagte Fred ernst. »Es trägt sehr zur Charakterbildung bei, wenn man lernt, Rosenkohl ohne Magie zu putzen, da könnt ihr mal sehen, wie schwierig es für Muggel und Squibs ist …«
»… und wenn du willst, dass dir einer hilft, Ron«, fügte George hinzu und schickte ihm den Papierflieger entgegen, »würde ich nicht mit Messern nach ihm werfen. Nur als kleiner Hinweis. Wir sind dann im Dorf, im Schreibwarenladen arbeitet ein sehr hübsches Mädchen, das meint, dass meine Kartentricks was Wunderbares sind … fast wie richtige Magie …«
»Blödmänner«, sagte Ron finster und sah Fred und George nach, die über den verschneiten Hof davongingen. »Die hätten nur zehn Sekunden gebraucht, und dann hätten wir auch verschwinden können.«
»Ich nicht«, sagte Harry. »Ich hab Dumbledore versprochen, dass ich nicht durch die Gegend ziehe, solange ich hier bin.«
»Oh, na gut«, sagte Ron. Er putzte noch ein wenig Rosenkohl, dann sagte er: »Erzählst du Dumbledore, was Snape und Malfoy miteinander beredet haben?«
»Jep«, sagte Harry. »Ich sag es jedem, der diese Sache aufhalten kann, und Dumbledore ist der Erste auf der Liste. Und mit deinem Dad unterhalte ich mich vielleicht auch noch mal.«
»Schade nur, dass du nicht gehört hast, was Malfoy eigentlich macht.«
»Das konnte ich ja gar nicht, oder? Der Punkt war doch, dass er es Snape nicht erzählen wollte.«
Einige Augenblicke herrschte Schweigen, dann sagte Ron: »Du weißt natürlich, was sie alle sagen werden? Dad und Dumbledore und die andern? Sie werden sagen, dass Snape gar nicht wirklich versucht, Malfoy zu helfen, dass er nur rausfinden wollte, was Malfoy vorhat.«
»Die haben ihn nicht gehört«, sagte Harry tonlos. »So gut kann keiner schauspielern, nicht mal Snape.«
»Ja, trotzdem … ich wollt's dir nur sagen«, erwiderte Ron.
Harry sah sich stirnrunzelnd zu ihm um.
»Aber du glaubst doch, dass ich Recht habe?«
»Ja, schon!«, sagte Ron hastig. »Ehrlich! Aber die sind alle überzeugt, weil Snape ja im Orden ist, oder?«
Harry sagte nichts. Der Gedanke war ihm bereits gekommen, dass das der wahrscheinlichste Einwand gegen seine neuen Beweise sein würde; er hörte Hermine schon sagen:
»Ganz klar, Harry, er hat so getan, als würde er Hilfe anbieten, damit Malfoy darauf reinfällt und ihm verrät, was er vorhat …«
Doch das spielte sich nur in seiner Phantasie ab, denn er hatte keine Möglichkeit gehabt, Hermine zu erzählen, was er mitgehört hatte. Sie war von Slughorns Party verschwunden, ehe er zurückgekehrt war, zumindest hatte er das von einem wütenden McLaggen erfahren, und als er dann in den Gemeinschaftsraum kam, war sie schon zu Bett gegangen. Da Harry und Ron früh am nächsten Tag zum Fuchsbau abgereist waren, hatte er kaum Zeit gehabt, ihr frohe Weihnachten zu wünschen und ihr zu sagen, dass er nach den Ferien sehr wichtige Neuigkeiten für sie habe. Er war sich jedoch nicht ganz sicher, ob sie ihn gehört hatte; Ron und Lavender hatten sich gerade unmittelbar hinter ihm auf höchst ungesagte Art und Weise verabschiedet.
Dennoch, selbst Hermine würde eines nicht bestreiten können: Malfoy führte ganz bestimmt etwas im Schilde, und Snape wusste es, deshalb fand Harry, dass er mit gutem Recht behaupten konnte: »Ich hab's euch doch gesagt«, was er Ron gegenüber auch schon einige Male getan hatte.
Harry hatte keine Gelegenheit, mit Mr Weasley zu sprechen, der immer erst sehr spät von der Arbeit aus dem Ministerium nach Hause kam, bis es dann schon Heiligabend war. Die Weasleys und ihre Gäste saßen im Wohnzimmer, das Ginny so üppig geschmückt hatte, dass man eher den Eindruck hatte, mitten in einem Vulkanausbruch von Girlanden zu sitzen. Fred, George, Harry und Ron waren die Einzigen, die wussten, dass der Engel an der Spitze des Baums in Wahrheit ein Gartengnom war, der Fred beim Karottenholen für das Weihnachtsabendessen in den Knöchel gebissen hatte. Von einem Schockzauber gebannt, golden angemalt, in ein winziges Ballettröckchen gezwängt und mit angeklebten Flügelchen auf dem Rücken schaute er böse auf sie alle herab, der hässlichste Engel, den Harry je gesehen hatte, mit einem großen kahlen Kartoffelkopf und ziemlich behaarten Füßen.
Eigentlich sollten sie alle einem weihnachtlichen Funkkonzert von Mrs Weasleys Lieblingssängerin, Celestina Warbeck, lauschen, deren Stimme aus dem großen hölzernen Radio trällerte. Doch Fleur, die Celestina offenbar sehr langweilig fand, redete so laut in ihrer Ecke, dass Mrs Weasley mit finsterer Miene immer wieder den Zauberstab auf den Lautstärkeregler richtete und Celestina ständig lauter wurde. Im Schutz einer besonders jazzigen Nummer mit dem Titel »Ein Kessel voller heißer, starker Liebe« begannen Fred und George unbemerkt eine Runde Zauberschnippschnapp mit Ginny. Ron warf Bill und Fleur ständig verstohlene Blicke zu, als hoffte er, etwas abkupfern zu können. Unterdessen saß Remus Lupin, der magerer und zerlumpter aussah denn je, am Feuer und starrte in dessen Tiefen, als könnte er Celestinas Stimme nicht hören.
»Oh, komm und rühr meinen Kessel,
bist du einer, der's richtig macht,
koch ich dir heiße, starke Liebe,
die dich warm hält heute Nacht.«
»Dazu haben wir getanzt, als wir achtzehn waren!«, sagte Mrs Weasley und wischte sich die Augen an ihrem Strickzeug ab. »Weißt du noch, Arthur?«
»Mpff?«, machte Mr Weasley, der über der Mandarine, die er schälte, eingenickt war. »O ja … wundervolles Lied …«
Mit einem Ruck setzte er sich ein wenig aufrechter hin und wandte sich Harry zu, der neben ihm saß.
»Ich kann leider nichts dafür«, sagte er, und sein Kopf zuckte in Richtung Radio, als Celestina den Refrain anstimmte. »Ist bald zu Ende.«
»Kein Problem«, sagte Harry grinsend. »War sehr viel los im Ministerium?«
»Allerdings«, sagte Mr Weasley. »Das würde mir ja nichts ausmachen, wenn wir nur irgendwie vorankämen, doch ich bezweifle, dass einer von den drei Leuten, die wir in den letzten paar Monaten verhaftet haben, ein echter Todesser ist – aber erzähl das bloß nicht weiter, Harry«, fügte er rasch hinzu und wirkte plötzlich viel wacher.
»Halten die etwa immer noch Stan Shunpike fest?«, fragte Harry.
»Ich fürchte, ja«, sagte Mr Weasley. »Ich weiß, dass Dumbledore versucht hat, bei Scrimgeour persönlich ein Wort für Stan einzulegen … ich meine, jeder, der Stan selbst befragt hat, gibt zu, dass er ungefähr so viel von einem Todesser hat wie diese Mandarine … aber in der Führungsetage will man den Eindruck vermitteln, dass es gewisse Fortschritte gibt, und ›drei Leute verhaftet‹ klingt besser als ›drei Leute irrtümlich verhaftet und wieder freigelassen‹ … aber noch mal, das ist alles streng geheim …«
»Ich werd nichts ausplaudern«, sagte Harry. Er zögerte einen Moment, weil er nicht wusste, wie er am besten mit seinem Thema anfangen sollte; während er seine Gedanken ordnete, stimmte Celestina Warbeck eine Ballade an: »Dein Zauber riss mir das Herz aus der Brust«.
»Mr Weasley, erinnern Sie sich noch, was ich Ihnen am Bahnhof gesagt habe, als wir zur Schule gefahren sind?«
»Ich habe nachgeforscht, Harry«, antwortete Mr Weasley sofort. »Ich hab das Haus der Malfoys tatsächlich durchsucht. Da war nichts, was nicht hätte dort sein dürfen, weder was Kaputtes noch was Ganzes.«
»Ja, ich weiß, ich hab im Propheten gelesen, dass Sie nachgesehen haben … aber ich hab da noch etwas anderes … also, das ist schon was Handfestes …«
Und Harry erzählte Mr Weasley alles, was er von Malfoys und Snapes Unterhaltung mitbekommen hatte. Während er sprach, sah er, wie Lupin den Kopf ein wenig zu ihm drehte und jedem Wort lauschte. Als er fertig war, trat eine Stille ein und nur noch Celestinas Schmachtgesang war zu hören.
»Oh, mein arm Herz, wo ist es hin?
Verlassen hat es mich für einen Zauber…«
»Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, Harry«, sagte Mr Weasley, »dass Snape vielleicht einfach nur so getan hat – «
»Dass er so getan hat, als würde er Hilfe anbieten, um herauszufinden, was Malfoy vorhat?«, sagte Harry rasch. »Ja, ich dachte mir, dass Sie das sagen würden. Aber wie wollen wir das rauskriegen?«
»Es ist nicht unsere Sache, das herauszukriegen«, sagte Lupin unerwartet. Er hatte dem Feuer nun den Rücken zugewandt und sah an Mr Weasley vorbei zu Harry. »Das ist Dumbledores Sache. Dumbledore vertraut Severus, und das sollte uns allen genügen.«
»Aber«, sagte Harry, »angenommen – nur angenommen, Dumbledore irrt sich bei Snape – «
»Das wird immer wieder behauptet. Es geht letztendlich darum, ob man Dumbledores Urteil vertraut oder nicht. Ich tue es; deshalb vertraue ich Severus.«
»Aber Dumbledore kann Fehler machen«, wandte Harry ein. »Er sagt es selber. Und Sie …«
Er blickte Lupin direkt in die Augen.
»… mögen Sie Snape wirklich?«
»Ich mag Severus nicht, aber er ist mir auch nicht zuwider«, sagte Lupin. »Nein, Harry, ich sage es ganz ehrlich«, fügte er hinzu, da Harry eine ungläubige Miene aufsetzte. »Wir werden vielleicht nie Busenfreunde werden, nach all dem, was zwischen James und Sirius und Severus geschehen ist, da liegt zu viel Bitterkeit drin. Aber ich vergesse nicht, dass Severus in dem Jahr, als ich in Hogwarts unterrichtet habe, jeden Monat den Wolfsbann-Trank für mich zubereitet hat, und zwar tadellos, so dass ich nicht wie sonst bei Vollmond zu leiden hatte.«
»Aber es ist ihm ›zufällig‹ rausgerutscht, dass Sie ein Werwolf sind, und deshalb mussten Sie gehen!«, sagte Harry zornig.
Lupin zuckte die Achseln.
»Das wäre ohnehin durchgesickert. Wir wissen beide, dass er meine Stelle wollte, aber er hätte mir viel mehr schaden können, wenn er den Zaubertrank verpfuscht hätte. Er hat dafür gesorgt, dass ich gesund blieb. Ich muss ihm dankbar sein.«
»Vielleicht hat er es nicht gewagt, irgendwas mit dem Zaubertrank anzustellen, weil Dumbledore ihn beobachtet hat!«, sagte Harry.
»Du willst ihn unbedingt hassen, Harry«, sagte Lupin mit einem schwachen Lächeln. »Und ich verstehe das; mit James als deinem Vater und Sirius als deinem Paten hast du ein altes Vorurteil geerbt. Erzähl unbedingt Dumbledore, was du Arthur und mir erzählt hast, aber erwarte nicht, dass er deine Auffassung in dieser Sache teilt; erwarte nicht mal, dass er von dem, was du ihm erzählst, überrascht ist. Möglicherweise hat Severus Draco auf Dumbledores Befehl hin befragt.«
»… mein Herz, du hast es ganz zerrissen,
gib's mir zurück, ich will's nicht missen!«
Celestina beendete ihr Lied mit einem sehr langen hohen Ton, und als lauter Beifall aus dem Radio drang, stimmte Mrs Weasley begeistert ein.
»Ist es su Ende?«, sagte Fleur laut. »Gütiger 'immel, was für eine schrecklische – «
»Wie wär's noch mit einem kleinen Schlummertrunk?«, fragte Mr Weasley laut und sprang auf. »Wer möchte Eierflip?«
»Was haben Sie in letzter Zeit gemacht?«, fragte Harry Lupin, während Mr Weasley davonwuselte, um den Eierflip zu holen, und alle anderen sich streckten und anfingen sich zu unterhalten.
»Oh, ich war im Untergrund«, sagte Lupin. »Fast buchstäblich. Deshalb konnte ich nicht schreiben, Harry; wenn ich dir Briefe geschickt hätte, dann hätte ich mich praktisch verraten.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich habe unter meinen Artgenossen gelebt, unter meinesgleichen«, sagte Lupin. »Werwölfe«, fügte er hinzu, als er Harrys verständnisloses Gesicht sah. »Sie sind fast alle auf Voldemorts Seite. Dumbledore brauchte einen Spion, und da war ich … wie geschaffen für die Aufgabe.«
Er klang ein wenig bitter und merkte es wohl auch, denn als er fortfuhr, lächelte er freundlicher. »Ich will mich nicht beklagen; diese Arbeit ist notwendig, und wer kann sie besser erledigen als ich? Doch es war schwierig, ihr Vertrauen zu gewinnen. Ich trage die unverkennbaren Zeichen eines Mannes, der versucht hat unter Zauberern zu leben, verstehst du, während sie sich von der normalen Gesellschaft fern halten und am Rande leben, stehlen – und manchmal töten –, um zu überleben.«
»Wie kommt es, dass sie Voldemort mögen?«
»Sie glauben, dass sie unter seiner Herrschaft ein besseres Leben haben werden«, sagte Lupin. »Und es ist schwierig, dagegen anzukommen, solange Greyback da draußen ist …«
»Wer ist Greyback?«
»Du hast noch nicht von ihm gehört?« Lupins Hände verkrampften sich jäh in seinem Schoß. »Fenrir Greyback ist vielleicht der blutrünstigste Werwolf, der heute lebt. Er betrachtet es als seine Mission, so viele Leute wie möglich zu beißen und anzustecken; er will so viele Werwölfe hervorbringen, dass er die Zauberer besiegen kann. Voldemort hat ihm als Gegenleistung für seine Dienste Beute angeboten. Greyback ist auf Kinder spezialisiert … beiß sie, wenn sie noch jung sind, sagt er, und zieh sie fern von ihren Eltern auf, erziehe sie zum Hass auf normale Zauberer. Voldemort droht Leuten damit, ihn auf ihre Söhne und Töchter loszulassen; mit dieser Drohung ist er meistens erfolgreich.«
Lupin hielt inne, dann sagte er: »Es war Greyback, der mich gebissen hat.«
»Was?«, sagte Harry erstaunt. »Als – als Sie noch ein Kind waren, meinen Sie?«
»Ja. Mein Vater hatte ihn beleidigt. Sehr lange Zeit kannte ich die Identität des Werwolfs nicht, der mich angegriffen hatte; ich hatte sogar Mitleid mit ihm, weil ich dachte, er hätte keine Kontrolle über sich gehabt, da ich inzwischen wusste, wie es sich anfühlt, wenn man sich verwandelt. Aber Greyback ist nicht so. Bei Vollmond legt er sich in der Nähe von Opfern auf die Lauer, dicht genug dran, um zuschlagen zu können. Er plant das alles. Und das ist der Mann, den Voldemort benutzt, um die Werwölfe hinter sich zu bringen. Ich kann nicht behaupten, dass meine Art, vernünftig zu argumentieren, gegen Greybacks Parolen viel ausrichtet, wenn er sagt, dass wir Werwölfe Blut verdient haben, dass wir uns an normalen Menschen rächen sollten.«
»Aber Sie sind doch normal«, sagte Harry heftig. »Sie haben nur ein – ein Problem – «
Lupin lachte laut auf.
»Manchmal erinnerst du mich sehr an James. Er hat es mein ›pelziges kleines Problem‹ genannt, wenn wir unter Leuten waren. Viele nahmen an, dass ich ein unartiges Kaninchen besitze.«
Er nahm dankend ein Glas Eierflip von Mr Weasley entgegen und wirkte jetzt eine Spur fröhlicher. Harry jedoch überkam plötzlich Aufregung: Als der Name seines Vaters eben gefallen war, hatte er sich daran erinnert, dass er Lupin unbedingt etwas fragen wollte.
»Haben Sie schon mal von jemandem gehört, der Halbblutprinz heißt?«
»Halbblut- was?«
»Prinz«, sagte Harry und beobachtete ganz genau, ob er irgendein Zeichen des Wiedererkennens zeigte.
»Es gibt keine Prinzen in der Zaubererwelt«, sagte Lupin und lächelte jetzt. »Willst du dir diesen Titel zulegen? Ich hätte gedacht, der ›Auserwählte‹ zu sein würde genügen.«
»Das hat nichts mit mir zu tun!«, sagte Harry ungehalten. »Der Halbblutprinz ist jemand, der früher mal Schüler in Hogwarts war, ich hab sein altes Zaubertrankbuch. Er hat es mit Zaubersprüchen voll geschrieben, die er selbst erfunden hat. Einer davon war Levicorpus.«
»Oh, der war zu meiner Zeit in Hogwarts ziemlich beliebt«, erinnerte sich Lupin. »Es gab ein paar Monate in meinem fünften Jahr, in denen man sich kaum bewegen konnte, weil man ständig an den Knöcheln in die Luft gerissen wurde.«
»Mein Dad hat ihn verwendet«, sagte Harry. »Ich hab ihn im Denkarium gesehen, er hat ihn gegen Snape eingesetzt.«
Er wollte eigentlich beiläufig klingen, als wäre es eine unbedeutende, eher belanglose Bemerkung, aber er war nicht sicher, ob er die richtige Wirkung erzielt hatte; Lupin lächelte eine Spur zu verständnisvoll.
»Ja«, sagte er, »aber er war nicht der Einzige. Wie gesagt, der Zauber war sehr populär … du weißt ja, wie die auftauchen und wieder verschwinden …«
»Aber mir kommt es vor, als wäre er während Ihrer Schulzeit erfunden worden«, beharrte Harry.
»Nicht zwangsläufig«, sagte Lupin. »Zauber kommen und gehen mit der Mode, wie alles andere auch.« Er sah Harry ins Gesicht, und dann sagte er leise: »James war ein Reinblüter, Harry, und ich versichere dir, er hat uns nie aufgefordert, ihn ›Prinz‹ zu nennen.«
Harry verstellte sich nicht länger, als er fragte: »Und es war nicht Sirius? Und Sie waren es auch nicht?«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Oh.« Harry starrte ins Feuer. »Ich dachte nur – also, er hat mir im Zaubertrankunterricht sehr geholfen, dieser Prinz.«
»Wie alt ist das Buch, Harry?«
»Keine Ahnung, ich hab nicht nachgeschaut.«
»Nun, vielleicht gibt dir das einen Hinweis darauf, wann der Prinz in Hogwarts war«, sagte Lupin.
Wenig später beschloss Fleur, Celestina nachzueifern, und sang »Ein Kessel voller 'eißer, starker Liebe«, was von allen, sobald sie einen Blick auf Mrs Weasleys Miene geworfen hatten, als Signal verstanden wurde, schlafen zu gehen. Harry und Ron stiegen hinauf in Rons Dachzimmer, wo für Harry ein Feldbett aufgestellt worden war.
Ron schlief fast sofort ein, doch Harry grub in seinem Koffer und zog sein Zaubertränke für Fortgeschrittene heraus, ehe er zu Bett ging. Dort blätterte er und suchte auf jeder Seite, bis er schließlich vorne im Buch das Datum fand, an dem es veröffentlicht worden war. Es war fast fünfzig Jahre alt. Weder sein Vater noch die Freunde seines Vaters waren vor fünfzig Jahren in Hogwarts gewesen. Enttäuscht warf Harry das Buch wieder in den Koffer, löschte die Lampe und drehte sich auf die Seite, während er an Werwölfe und Snape, Stan Shunpike und den Halbblutprinzen dachte, und dann endlich sank er in einen unruhigen Schlaf voller kriechender Schatten und Schreie gebissener Kinder …
»Das muss wohl ein Scherz von ihr sein …«
Harry schreckte aus dem Schlaf hoch und sah am Fußende seines Bettes einen prall gefüllten Strumpf. Er setzte seine Brille auf und schaute sich um; das winzige Fenster war vom Schnee fast völlig verdunkelt, und davor saß Ron kerzengerade im Bett und musterte etwas, das offenbar eine dicke Goldkette war.
»Was ist das?«, fragte Harry.
»Das ist von Lavender«, sagte Ron und klang empört. »Die kann doch nicht im Ernst glauben, dass ich das trage …«
Harry sah genauer hin und lachte laut auf. In großen goldenen Buchstaben baumelten von der Kette die Worte »Mein Herzblatt«.
»Nett«, sagte er. »Hat richtig Klasse. Du solltest das unbedingt vor Fred und George tragen.«
»Wenn du es denen erzählst«, sagte Ron und schob das Halsband unter sein Kissen, damit es nicht mehr zu sehen war, »dann – dann – dann werd ich – «
»Mich anstottern?« Harry grinste. »Jetzt hör aber auf, traust du mir so was zu?«
»Aber wie kommt sie bloß auf den Gedanken, dass ich so was mögen könnte?«, fragte Ron ins Blaue hinein, offenbar ziemlich schockiert.
»Versuch dich doch mal zu erinnern«, sagte Harry. »Hast du zufällig irgendwann mal fallen lassen, dass du gern mit den Worten ›Mein Herzblatt‹ um den Hals in aller Öffentlichkeit herumspazieren würdest?«
»Na ja – wir reden eigentlich nicht so viel«, sagte Ron. »Hauptsächlich …«
»Knutscht ihr«, sagte Harry.
»Ja, schon«, sagte Ron. Er zögerte einen Moment, dann sagte er: »Geht Hermine jetzt wirklich mit McLaggen?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Harry. »Sie waren zusammen auf Slughorns Party, aber ich glaub nicht, dass es sonderlich gut gelaufen ist.«
Ron sah ein wenig fröhlicher aus, als er noch tiefer in seinem Strumpf wühlte.
Harry hatte unter anderem einen Pullover geschenkt bekommen, in den Mrs Weasley eigenhändig vorn einen großen Goldenen Schnatz eingestrickt hatte, eine große Schachtel mit Produkten aus Weasleys Zauberhafte Zauberscherze von den Zwillingen und ein etwas feuchtes, muffig riechendes Päckchen mit einem Etikett, auf dem stand: »Für den Meister, von Kreacher«.
Harry starrte es an. »Meinst du, ich kann es riskieren, das aufzumachen?«, fragte er.
»Was Gefährliches kann es nicht sein, unsere ganze Post wird immer noch im Ministerium durchsucht«, erwiderte Ron, doch auch er beäugte das Paket misstrauisch.
»Ich hab gar nicht dran gedacht, Kreacher was zu schenken! Macht man seinen Hauselfen normalerweise Weihnachtsgeschenke?«, fragte Harry und klopfte vorsichtig auf das Paket.
»Hermine würde das machen«, sagte Ron. »Aber schauen wir erst mal, was drin ist, bevor du ein schlechtes Gewissen kriegst.«
Einen Moment später stieß Harry einen lauten Schrei aus und sprang von seinem Feldbett; das Päckchen enthielt einen Haufen Maden.
»Nett«, sagte Ron und brüllte vor Lachen. »Wie aufmerksam.«
»Lieber die als dieses Halsband«, sagte Harry, was Ron schlagartig ernüchterte.
Zum Mittagessen am Weihnachtstag hatten alle neue Pullover an, außer Fleur (an die Mrs Weasley anscheinend keinen hatte verschwenden wollen) und Mrs Weasley selbst, die einen brandneuen nachtblauen Hexenhut trug, an dem etwas wie winzige sternförmige Brillanten glitzerten, und ein Aufsehen erregendes goldenes Halsband.
»Die hab ich von Fred und George bekommen! Wunderschön, nicht wahr?«
»Na ja, wir wissen dich eben immer mehr zu schätzen, Mum, jetzt, wo wir unsere Socken selber waschen«, sagte George mit einer lässigen Handbewegung. »Pastinaken, Remus?«
»Harry, du hast eine Made im Haar«, sagte Ginny fröhlich und beugte sich über den Tisch, um sie herauszufischen; Harry spürte, wie ihm eine Gänsehaut den Nacken emporkroch, die nichts mit der Made zu tun hatte.
»Wie schrecklisch«, sagte Fleur mit einem gekünstelten kleinen Schaudern.
»Ja, nicht wahr?«, sagte Ron. »Soße, Fleur?«
In seinem Eifer, ihr behilflich zu sein, stieß er die Soßenschüssel um; Bill schwang seinen Zauberstab, die Soße rauschte in die Luft und kehrte brav in ihre Schüssel zurück.
»Du bist so furschtbar wie diese Tonks«, sagte Fleur zu Ron, als sie damit fertig war, Bill zum Dank abzuküssen. »Immer wirft sie – «
»Ich habe die liebe Tonks für heute eingeladen«, sagte Mrs Weasley, stellte die Karotten unnötig heftig auf den Tisch und funkelte Fleur an. »Aber sie wollte nicht kommen. Hast du in letzter Zeit mal mit ihr gesprochen, Remus?«
»Nein, ich hatte mit niemandem viel Kontakt«, sagte Lupin. »Aber Tonks hat doch ihre eigene Familie, da kann sie hingehen, oder nicht?«
»Hmm«, machte Mrs Weasley. »Vielleicht. Ich hatte eher den Eindruck, dass sie vorhatte, Weihnachten allein zu feiern.«
Sie warf Lupin einen verärgerten Blick zu, als ob es nur seine Schuld wäre, dass sie Fleur statt Tonks als Schwiegertochter bekam, aber Harry sah zu Fleur hinüber, die Bill gerade mit Truthahnstückchen von ihrer Gabel fütterte, und dachte, dass Mrs Weasley eine längst verlorene Schlacht kämpfte. Doch dann fiel ihm eine Frage ein, die er zu Tonks hatte, und wem konnte er sie besser stellen als Lupin, der alles über Patroni wusste?
»Tonks' Patronus hat seine Gestalt verändert«, sagte er zu ihm. »Jedenfalls hat Snape das behauptet. Ich wusste nicht, dass so etwas vorkommen kann. Warum verändert sich ein Patronus?«
Lupin nahm sich Zeit, seinen Bissen Truthahn zu kauen und hinunterzuschlucken, dann antwortete er langsam: »Manchmal … ein schwerer Schock … ein seelischer Umbruch …«
»Er sah groß aus und hatte vier Beine«, sagte Harry, dann kam ihm plötzlich ein Gedanke und er senkte die Stimme. »Hey – könnte es nicht sein, dass –?«
»Arthur!«, sagte Mrs Weasley auf einmal. Sie war von ihrem Stuhl aufgestanden; die Hand fest über dem Herzen, starrte sie aus dem Küchenfenster. »Arthur – da ist Percy!«
»Was?«
Mr Weasley blickte sich um. Alle schauten rasch zum Fenster; Ginny stand auf, um besser sehen zu können. Tatsächlich, dort war Percy Weasley, er überquerte den verschneiten Hof und seine Hornbrille glitzerte im Sonnenlicht. Er war allerdings nicht allein.
»Arthur, er – er kommt mit dem Minister!«
Und tatsächlich, der Mann, den Harry im Tagespropheten gesehen hatte, lief mit einem leichten Hinken hinter Percy her, seine angegraute Haarmähne und sein schwarzer Umhang waren mit Schneeflocken bestäubt. Ehe einer von ihnen etwas sagen konnte, ehe Mr und Mrs Weasley mehr tun konnten als verblüffte Blicke zu wechseln, ging die Hintertür auf und Percy stand vor ihnen.
Ein kurzes peinliches Schweigen trat ein. Dann sagte Percy ziemlich steif: »Frohe Weihnachten, Mutter.«
»Oh, Percy!«, rief Mrs Weasley und warf sich in seine Arme.
Rufus Scrimgeour blieb auf seinen Gehstock gestützt in der Tür stehen und lächelte, während er diese ergreifende Szene beobachtete.
»Verzeihen Sie diese Störung«, sagte er, als Mrs Weasley sich strahlend zu ihm umdrehte und sich die Tränen abwischte. »Percy und ich hatten in der Nähe – zu tun, wissen Sie – und er konnte einfach nicht widerstehen, bei Ihnen vorbeizuschauen und allen hallo zu sagen.«
Aber Percy machte nicht den Anschein, als ob er sonst noch jemanden von der Familie begrüßen wollte. Stocksteif und mit offensichtlichem Unbehagen stand er da und starrte über die Köpfe aller Anwesenden hinweg. Mr Weasley, Fred und George musterten ihn mit steinernen Mienen.
»Bitte, kommen Sie herein und setzen Sie sich, Minister!«, sagte Mrs Weasley mit zittriger Stimme und rückte ihren Hut zurecht. »Vielleicht möchten Sie ein wenig Pruthahn oder etwas Tudding … ich meine –«
»Nein, nein, meine liebe Molly«, erwiderte Scrimgeour. Harry nahm an, dass er Percy nach ihrem Namen gefragt hatte, ehe sie das Haus betreten hatten. »Ich will nicht stören, ich wäre ja gar nicht hier, wenn Percy Sie alle nicht so gern besucht hätte …«
»Oh, Perce!«, sagte Mrs Weasley unter Tränen und reckte sich, um ihn zu küssen.
»… wir wollten nur fünf Minuten vorbeischauen, also werde ich ein wenig über den Hof spazieren, denn Sie und Percy haben sich gewiss viel zu erzählen. Nein, nein, ganz sicher, da will ich mich nicht einmischen! Nun ja, wenn jemand Lust hätte, mir Ihren bezaubernden Garten zu zeigen … Ah, dieser junge Mann ist mit dem Essen fertig, wie wär's, wenn er einen kleinen Spaziergang mit mir macht?«
Die Stimmung am Tisch änderte sich spürbar. Alle blickten von Scrimgeour zu Harry. Keiner schien es Scrimgeour abzunehmen, dass er Harrys Namen angeblich nicht kannte, oder es für selbstverständlich zu halten, dass ausgerechnet er den Minister durch den Garten begleiten sollte, wo doch Ginny, Fleur und George ebenfalls leere Teller hatten.
»Ja, in Ordnung«, sagte Harry in die Stille hinein.
Er ließ sich nichts vormachen; Scrimgeour mochte noch so sehr darauf beharren, sie seien gerade in der Gegend gewesen und Percy habe nur seine Familie besuchen wollen – dass Scrimgeour allein mit Harry sprechen wollte, war der eigentliche Grund, weshalb sie gekommen waren.
»Schon okay«, sagte er leise, als er an Lupin vorbeikam, der sich halb vom Stuhl erhoben hatte. »Okay«, fügte er hinzu, als Mr Weasley den Mund öffnete, um etwas zu sagen.
»Wunderbar!«, sagte Scrimgeour und trat zurück, um Harry vor sich durch die Tür zu lassen. »Wir drehen nur eine Runde durch den Garten, dann verschwinden Percy und ich wieder. Feiern Sie einfach alle weiter!«
Harry ging durch den Hof auf den überwucherten, schneebedeckten Garten der Weasleys zu, der leicht hinkende Scrimgeour an seiner Seite. Er war, wie Harry wusste, Leiter des Aurorenbüros gewesen; er wirkte zäh und war voller Narben von Kämpfen, ganz anders als der korpulente Fudge mit seinem Bowler.
»Bezaubernd«, sagte Scrimgeour, blieb am Gartenzaun stehen und blickte über den verschneiten Rasen und die Pflanzen, die nicht zu unterscheiden waren. »Bezaubernd.«
Harry sagte nichts. Er spürte, dass Scrimgeour ihn beobachtete.
»Ich möchte Sie schon seit geraumer Zeit kennen lernen«, sagte Scrimgeour nach einigen Augenblicken. »Wussten Sie das?«
»Nein«, erwiderte Harry wahrheitsgemäß.
»Oh, doch, seit geraumer Zeit. Aber Dumbledore hat Sie immer gehütet wie einen Augapfel«, sagte Scrimgeour. »Normal, natürlich, ganz normal, nach dem, was Sie durchgemacht haben … besonders nach dem, was im Ministerium passiert ist …«
Er wartete darauf, dass Harry etwas sagte, aber Harry tat ihm den Gefallen nicht, also fuhr er fort: »Seit ich mein Amt angetreten habe, hoffe ich auf eine Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen, aber Dumbledore hat dies – wie gesagt, höchst verständlicherweise – verhindert.«
Harry sagte immer noch nichts und wartete ab.
»Die Gerüchte, die man überall zu hören bekam!«, sagte Scrimgeour. »Nun, wir wissen natürlich beide, wie diese Geschichten verdreht werden … all dieses Gemunkel über eine Prophezeiung … dass Sie der ›Auserwählte‹ seien …«
Jetzt kamen sie der Sache näher, dachte Harry, dem Grund, warum Scrimgeour hier war.
»… ich nehme an, Dumbledore hat diese Dinge mit Ihnen besprochen?«
Harry überlegte; er fragte sich, ob er lügen sollte oder nicht. Er betrachtete die kleinen Gnomenspuren überall in den Blumenbeeten und den aufgescharrten Fleck, offenbar die Stelle, wo Fred den Gnomen gefangen hatte, der jetzt im Ballettröckchen den Weihnachtsbaum krönte. Schließlich entschied er sich für die Wahrheit … oder ein bisschen davon.
»Ja, wir haben darüber gesprochen.«
»Haben Sie, haben Sie …«, sagte Scrimgeour. Harry konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Scrimgeour ihn schräg von der Seite her anschaute, deshalb tat er so, als würde er sich sehr für einen Gnomen interessieren, der gerade seinen Kopf unter einem erfrorenen Rhododendron hervorgestreckt hatte. »Und was hat Dumbledore Ihnen gesagt, Harry?«
»Tut mir Leid, aber das bleibt unter uns«, sagte Harry.
Er bemühte sich, möglichst nett zu klingen, und auch Scrimgeour antwortete in einem heiteren und freundlichen Ton: »Oh, selbstverständlich, wenn es um Vertraulichkeiten geht, will ich natürlich nicht, dass Sie irgendetwas preisgeben … nein, nein … und ohnehin, spielt es denn wirklich eine Rolle, ob Sie der Auserwählte sind oder nicht?«
Harry musste einige Sekunden darüber nachdenken, ehe er antwortete.
»Ich weiß nicht genau, was Sie meinen, Minister.«
»Nun, natürlich, für Sie wird es eine gewaltige Rolle spielen«, sagte Scrimgeour lachend. »Aber für die Zauberergemeinschaft insgesamt … es ist alles eine Frage der Wahrnehmung, nicht wahr? Wichtig ist, was die Leute glauben.«
Harry sagte nichts. Er meinte ungefähr abzusehen, worauf Scrimgeour hinauswollte, aber er würde ihm nicht helfen, dort hinzugelangen. Der Gnom unter dem Rhododendron grub jetzt an den Wurzeln nach Würmern, und Harry hielt seinen Blick auf ihn geheftet.
»Die Leute glauben, dass Sie der Auserwählte sind, verstehen Sie«, sagte Scrimgeour. »Sie halten Sie für einen richtigen Helden – was Sie natürlich sind, Harry, auserwählt oder nicht! Wie viele Male haben Sie Ihm, dessen Name nicht genannt werden darf, nun schon gegenübergestanden? Wie auch immer«, fuhr er rasch fort, ohne eine Antwort abzuwarten, »der Punkt ist, dass Sie für viele ein Symbol der Hoffnung sind, Harry. Die Vorstellung, da draußen sei jemand, der vielleicht in der Lage ist, der vielleicht sogar dazu ausersehen ist, Ihn, dessen Name nicht genannt werden darf, zu vernichten – nun, das gibt den Menschen natürlich Auftrieb. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie, sobald Sie dies erkennen, es als, nun ja, fast als Ihre Pflicht ansehen könnten, an der Seite des Ministeriums zu stehen und damit allen neuen Mut zu machen.«
Dem Gnomen war es eben gelungen, einen Wurm zu erwischen. Er zerrte jetzt heftig an ihm, um ihn aus dem gefrorenen Boden zu bekommen. Harry schwieg so lange, bis Scrimgeour, der von Harry zum Gnomen blickte, sagte: »Komische kleine Kerlchen, nicht wahr? Aber was meinen Sie, Harry?«
»Ich verstehe nicht genau, was Sie wollen«, sagte Harry langsam. »›An der Seite des Ministeriums stehen‹ … was soll das heißen?«
»Oh, nun, es ist im Grunde ganz einfach, das kann ich Ihnen versichern«, sagte Scrimgeour. »Wenn man Sie beispielsweise von Zeit zu Zeit im Ministerium vorbeischauen sähe, würde das den richtigen Eindruck machen. Und, natürlich, wenn Sie dann schon mal da sind, hätten Sie reichlich Gelegenheit, mit Gawain Robards, meinem Nachfolger als Leiter des Aurorenbüros, zu sprechen. Wie ich von Dolores Umbridge weiß, hegen Sie den Wunsch, ein Auror zu werden. Nun, das ließe sich ohne weiteres arrangieren …«
Harry spürte kochende Wut in seiner Magengrube: Also war Dolores Umbridge wahrhaftig immer noch im Ministerium?
»Das heißt also alles in allem«, sagte er, als wollte er nur noch ein paar letzte Punkte klären, »dass Sie den Eindruck vermitteln wollen, ich würde für das Ministerium arbeiten?«
»Es würde allen Auftrieb geben, wenn sie denken würden, Sie wären mit dabei, Harry«, sagte Scrimgeour, offenbar erleichtert, dass Harry so rasch angebissen hatte. »Der ›Auserwählte‹, wissen Sie … es geht nur darum, den Leuten Hoffnung zu geben, das Gefühl, dass aufregende Dinge geschehen …«
»Aber wenn ich ständig im Ministerium ein und aus gehe«, sagte Harry, immer noch bemüht, seine Stimme freundlich klingen zu lassen, »würde das nicht so aussehen, als wenn ich gut fände, was das Ministerium unternimmt?«
»Nun«, erwiderte Scrimgeour und runzelte leicht die Stirn, »nun, ja, das ist auch ein Grund, weshalb wir gerne – «
»Nein, ich glaube, das lässt sich nicht machen«, bemerkte Harry höflich. »Wissen Sie, ich mag manches nicht, was das Ministerium tut. Stan Shunpike einsperren, zum Beispiel.«
Scrimgeour schwieg einen Moment lang, doch seine Miene wurde schlagartig steinern.
»Ich erwarte auch nicht, dass Sie das verstehen«, sagte er, und es gelang ihm nicht so gut wie Harry, die Wut in seiner Stimme zu verbergen. »Wir leben in gefährlichen Zeiten, und gewisse Maßnahmen müssen ergriffen werden. Sie sind sechzehn Jahre alt – «
»Dumbledore ist viel älter als sechzehn, und er hält auch nichts davon, dass Stan in Askaban sitzt«, sagte Harry. »Sie machen Stan zu einem Sündenbock, genauso wie Sie mich zu einem Maskottchen machen wollen.«
Sie sahen einander an, lange und kühl. Schließlich sagte Scrimgeour, ohne Herzlichkeit vorzutäuschen: »Ich verstehe. Sie ziehen es vor – wie Ihr Held Dumbledore –, auf Abstand zum Ministerium zu gehen?«
»Ich will mich nicht benutzen lassen«, sagte Harry.
»Manche würden sagen, dass es Ihre Pflicht ist, für das Ministerium von Nutzen zu sein!«
»Ja, und andere könnten sagen, dass es Ihre Pflicht ist, zu prüfen, ob Leute wirklich Todesser sind, ehe Sie sie ins Gefängnis stecken«, sagte Harry, der nun mehr und mehr in Rage geriet. »Sie tun, was Barty Crouch getan hat. Ihr Leute macht es immer falsch, was? Entweder haben wir Fudge, der so tut, als ob alles wunderbar wäre, während Menschen direkt vor seiner Nase ermordet werden, oder wir haben Sie, der die verkehrten Leute ins Gefängnis steckt und so tun will, als ob der Auserwählte für ihn arbeiten würde!«
»Dann sind Sie etwa nicht der Auserwählte?«, sagte Scrimgeour.
»Sie meinten doch, das würde ohnehin keine Rolle spielen!«, sagte Harry mit einem bitteren Lachen. »Jedenfalls nicht für Sie.«
»Das hätte ich nicht sagen sollen«, erwiderte Scrimgeour rasch. »Es war taktlos – «
»Nein, es war ehrlich«, sagte Harry. »Eines der wenigen ehrlichen Dinge, die Sie zu mir gesagt haben. Es ist Ihnen nicht wichtig, ob ich lebe oder sterbe, aber es ist Ihnen ziemlich wichtig, dass ich Ihnen helfe, alle davon zu überzeugen, dass Sie den Krieg gegen Voldemort gewinnen. Ich habe nichts vergessen, Minister …«
Er hob seine rechte Faust. Dort, weiß leuchtend auf seinem kalten Handrücken, waren die Narben, die er für Dolores Umbridge in sein eigenes Fleisch hatte ritzen müssen: Ich soll keine Lügen erzählen.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie mir zu Hilfe geeilt wären, als ich allen sagen wollte, dass Voldemort zurück ist. Letztes Jahr war das Ministerium nicht so scharf darauf, dass wir Freunde sind.«
Sie standen da und schwiegen, eisig wie der Boden unter ihren Füßen. Der Gnom, der es endlich geschafft hatte, den Wurm aus der Erde zu ziehen, lehnte jetzt an den untersten Zweigen des Rhododendronbusches und nuckelte glückselig an ihm.
»Was hat Dumbledore vor?«, fragte Scrimgeour schroff. »Wo geht er hin, wenn er nicht in Hogwarts ist?«
»Keine Ahnung«, sagte Harry.
»Und Sie würden es mir auch nicht verraten, wenn Sie es wüssten«, sagte Scrimgeour, »stimmt's?«
»Nein, das würde ich nicht«, sagte Harry.
»Nun, dann muss ich sehen, ob ich es auf andere Weise herausfinden kann.«
»Versuchen Sie es nur«, sagte Harry gleichmütig. »Aber Sie scheinen klüger zu sein als Fudge, daher hätte ich gedacht, dass Sie aus seinen Fehlern gelernt haben. Er hat versucht, sich in Hogwarts einzumischen. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass er nicht mehr Minister ist, aber Dumbledore immer noch Schulleiter. Ich würde Dumbledore in Ruhe lassen, wenn ich Sie wäre.«
Eine lange Pause trat ein.
»Nun, mir ist jedenfalls klar, dass er bei Ihnen sehr gute Arbeit geleistet hat«, sagte Scrimgeour und seine Augen hinter der Drahtbrille waren kalt und hart. »Durch und durch Dumbledores Mann, das sind Sie doch, Potter?«
»Ja, das bin ich«, sagte Harry. »Freut mich, dass wir das geklärt haben.«
Und er kehrte dem Zaubereiminister den Rücken und marschierte zum Haus zurück.