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Während der nächsten Woche zerbrach Harry sich den Kopf, wie er Slughorn dazu bringen könnte, ihm die wahre Erinnerung zu geben, doch eine Art Gedankenblitz kam ihm nicht, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als das zu tun, was er in letzter Zeit immer häufiger tat, wenn er nicht mehr weiterwusste: über seinem Zaubertrankbuch brüten, in der Hoffnung, dass der Prinz wie schon so oft zuvor etwas Nützliches an den Rand gekritzelt hatte.
»Da drin wirst du nicht fündig werden«, sagte Hermine spät am Sonntagabend in entschiedenem Ton.
»Fang nicht schon wieder damit an, Hermine«, erwiderte Harry. »Wenn der Prinz nicht gewesen wäre, würde Ron jetzt nicht hier sitzen.«
»Er würde hier sitzen, wenn du in unserem ersten Schuljahr bei Snape aufgepasst hättest«, sagte Hermine abweisend.
Harry beachtete sie nicht. Er hatte gerade eine Beschwörung (Sectumsempra!) gefunden, die über die faszinierenden Worte »Gegen Feinde« an den Seitenrand gekritzelt war, und er brannte darauf, sie auszuprobieren, was er jedoch lieber nicht vor Hermine tun wollte. Stattdessen knickte er verstohlen die Ecke der Seite um.
Sie saßen am Kamin im Gemeinschaftsraum; die Einzigen, die sonst noch auf waren, waren Mitschüler aus der sechsten Klasse. Zuvor hatte es einige Aufregung gegeben, als sie vom Abendessen zurückgekommen waren und einen neuen Aushang am schwarzen Brett vorgefunden hatten, der das Datum ihrer Apparierprüfung verkündete. Wer am oder vor dem ersten Prüfungstag, dem einundzwanzigsten April, siebzehn wurde, hatte die Möglichkeit, sich für zusätzliche Übungsstunden einzutragen, die (unter strenger Bewachung) in Hogsmeade stattfinden sollten.
Ron war beim Lesen dieses Aushangs in Panik geraten; er hatte es immer noch nicht geschafft, zu apparieren, und fürchtete, für die Prüfung nicht gut vorbereitet zu sein. Hermine, die es inzwischen zweimal hinbekommen hatte, war ein wenig zuversichtlicher, doch Harry, der erst in vier Monaten siebzehn wurde, konnte die Prüfung nicht ablegen, ob er nun so weit war oder nicht.
»Aber wenigstens kannst du apparieren!«, sagte Ron angespannt. »Im Juli wirst du dann keine Schwierigkeiten haben!«
»Ich hab es bisher nur ein Mal geschafft«, erinnerte ihn Harry; es war ihm während ihrer letzten Stunde endlich gelungen, zu verschwinden und in seinem Reifen wieder Gestalt anzunehmen.
Nachdem Ron eine Menge Zeit damit vertan hatte, sich lautstark Sorgen über das Apparieren zu machen, mühte er sich jetzt damit ab, einen furchtbar schwierigen Aufsatz für Snape zu Ende zu schreiben, mit dem Harry und Hermine schon fertig waren. Harry war absolut sicher, dass er für seinen Aufsatz eine schlechte Note bekommen würde, weil er Snape in der Frage widersprach, wie man sich am besten gegen Dementoren zur Wehr setzte, doch es war ihm egal: Das Wichtigste für ihn war jetzt Slughorns Erinnerung.
»Wenn ich's dir doch sage, Harry, der blöde Prinz wird dir dabei nicht helfen können!«, bekräftigte Hermine noch lauter. »Es gibt nur eine Methode, um jemandem deinen Willen aufzuzwingen, und das ist der Imperius-Fluch, der illegal ist – «
»Ja, das weiß ich, vielen Dank«, gab Harry zurück, ohne von seinem Buch aufzusehen. »Deshalb suche ich nach was anderem. Dumbledore meint, dass Veritaserum nichts nützen wird, aber vielleicht gibt es ja sonst noch was, einen Trank oder einen Zauber …«
»Du gehst die Sache falsch an«, sagte Hermine. »Dumbledore behauptet, nur du kannst die Erinnerung beschaffen. Das muss bedeuten, dass nur du und niemand sonst Slughorn überreden kann. Es geht nicht darum, ihm heimlich einen Zaubertrank zu verabreichen, das könnte jeder – «
»Wie schreibt man ›archaisch‹?«, fragte Ron, der auf sein Pergament starrte und heftig seine Feder schüttelte. »A – R – S – C kann ja wohl nicht sein.«
»Nein, allerdings nicht«, sagte Hermine und zog Rons Aufsatz zu sich her. »Und ›Orakel‹ fängt auch nicht mit O – R – G an. Was benutzt du da eigentlich für eine Feder?«
»Eine von den Rechtschreibcheckern von Fred und George … aber ich glaube, der Zauber lässt so langsam nach …«
»Sieht ganz danach aus«, sagte Hermine und deutete auf die Überschrift seines Aufsatzes, »wir sollen nämlich schreiben, wie wir mit Dementoren fertig werden, und nicht mit ›Eselsohren‹, und dass du dich inzwischen ›Runald Waschlab‹ nennst, ist mir völlig neu.«
»Ah, nein!«, rief Ron und starrte entsetzt auf das Pergament. »Sag bloß nicht, dass ich das Ganze noch mal abschreiben muss!«
»Schon gut, das kriegen wir hin«, sagte Hermine und holte ihren Zauberstab hervor.
»Ich liebe dich, Hermine«, sagte Ron, ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken und rieb sich müde die Augen.
Hermine lief mattrosa an, meinte jedoch nur: »Lass das bloß nicht Lavender hören.«
»Keine Sorge«, sagte Ron in seine Hände hinein. »Oder vielleicht doch … dann gibt sie mir den Laufpass …«
»Warum gibst du ihr nicht den Laufpass, wenn du damit aufhören willst?«, fragte Harry.
»Du hast noch nie mit jemandem Schluss gemacht, oder?«, erwiderte Ron. »Das mit dir und Cho – «
»Hat sich irgendwie von selbst erledigt, stimmt«, sagte Harry.
»Ich wünschte, das würde bei mir und Lavender auch so laufen«, sagte Ron düster und sah zu, wie Hermine jedes seiner falsch geschriebenen Wörter stumm mit der Spitze ihres Zauberstabs antippte, worauf sie sich auf der Seite selbst korrigierten. »Aber je mehr ich mit dem Zaunpfahl winke, dass ich Schluss machen will, umso fester klammert sie. Es ist, als würde man mit dem Riesenkraken ausgehen.«
»Bitte schön«, sagte Hermine etwa zwanzig Minuten später und gab Ron seinen Aufsatz zurück.
»Tausend Dank«, sagte Ron. »Kann ich mir für den Schluss deine Feder ausleihen?«
Harry, der bisher nichts Brauchbares in den Notizen des Halbblutprinzen gefunden hatte, sah sich um; die drei waren inzwischen die Letzten im Gemeinschaftsraum, Seamus war gerade zu Bett gegangen, wobei er Snape und seinen Aufsatz verflucht hatte. Jetzt hörte man nur noch das Knistern des Feuers und Ron, der mit Hermines Feder einen letzten Absatz über die Dementoren durchstrich. Harry hatte das Buch des Halbblutprinzen eben gähnend zugemacht, da –
Knall.
Hermine stieß einen spitzen Schrei aus; Ron schüttete Tinte quer über seinen Aufsatz, und Harry sagte: »Kreacher!«
Der Hauself verneigte sich tief und sprach zu seinen knorrigen Zehen.
»Der Herr wollte regelmäßige Berichte über das, was der junge Malfoy tut, also ist Kreacher gekommen, um – «
Knall.
Dobby erschien mit schief sitzendem Teewärmerhut an Kreachers Seite.
»Dobby hat mitgeholfen, Harry Potter!«, quiekte er und warf Kreacher einen ärgerlichen Blick zu. »Und Kreacher sollte Dobby sagen, wann er zu Harry Potter geht, damit sie zusammen Bericht erstatten können!«
»Was soll das denn?«, fragte Hermine, der der Schreck über diese plötzlichen Erscheinungen noch ins Gesicht geschrieben stand. »Was geht da vor, Harry?«
Harry zögerte, ehe er antwortete, denn er hatte Hermine nicht erzählt, dass er Kreacher und Dobby beauftragt hatte, Malfoy zu beschatten; Hauselfen waren bei ihr immer so ein heikles Thema.
»Also … sie haben Malfoy für mich beschattet«, sagte er.
»Tag und Nacht«, krächzte Kreacher.
»Dobby hat eine Woche lang nicht geschlafen, Harry Potter!«, verkündete Dobby stolz und schwankte dabei auf der Stelle.
Hermine sah empört aus.
»Du hast nicht geschlafen, Dobby? Aber, Harry, du hast ihm doch sicher nicht gesagt, dass – «
»Nein, natürlich nicht«, warf Harry rasch ein. »Dobby, du darfst schlafen, verstanden? Aber hat einer von euch etwas herausgefunden?«, fügte er hastig hinzu, ehe Hermine sich wieder einmischen konnte.
»Herr Malfoy bewegt sich so vornehm, wie es seinem reinen Blut ziemt«, krächzte Kreacher sofort. »Seine Züge erinnern an die feingliedrige Gestalt meiner Herrin, und seine Manieren sind die eines …«
»Draco Malfoy ist ein böser Junge!«, quiekte Dobby zornig. »Ein böser Junge, der – der – «
Er erschauderte von der Troddel seines Teewärmers bis zu den Spitzen seiner Socken, dann rannte er zum Feuer, als wollte er sich hineinstürzen; Harry, der schon fast damit gerechnet hatte, schlang ihm den Arm um den Bauch und hielt ihn fest. Ein paar Sekunden lang schlug Dobby um sich, dann erschlaffte er.
»Danke, Harry Potter«, keuchte er. »Dobby findet es immer noch schwierig, schlecht von seinen alten Herren zu reden …«
Harry ließ ihn los; Dobby rückte seinen Teewärmer gerade und wandte sich trotzig an Kreacher: »Aber Kreacher sollte wissen, dass Draco Malfoy kein guter Herr für einen Hauselfen ist!«
»Ja, wir brauchen nicht zu hören, dass du in Malfoy verliebt bist«, sagte Harry zu Kreacher. »Überspring das und erzähl uns, wo er eigentlich hingegangen ist.«
Kreacher verbeugte sich erneut mit wütendem Gesicht, und dann sagte er: »Herr Malfoy speist in der Großen Halle, er ruht zur Nacht in einem Schlafsaal in den Kerkern, er besucht den Unterricht in einer Vielzahl von – «
»Dobby, sag du es mir«, unterbrach ihn Harry. »Ist er irgendwohin gegangen, wo er nicht hätte hindürfen?«
»Harry Potter, Sir«, quiekte Dobby, und seine großen Kulleraugen leuchteten im Licht des Feuers, »der junge Malfoy verletzt keine Vorschriften, soweit Dobby erkennen konnte, und doch liegt ihm viel daran, sich nicht aufspüren zu lassen. Er geht mit verschiedenen anderen Schülern regelmäßig in den siebten Stock, sie halten für ihn Wache, und er betritt den – «
»Raum der Wünsche!«, rief Harry und klatschte sich sein Zaubertränke für Fortgeschrittene heftig gegen die Stirn. Hermine und Ron starrten ihn an. »Dorthin schleicht er sich die ganze Zeit. Da macht er … was auch immer! Und ich wette, deshalb verschwindet er auch von der Karte – da fällt mir ein, dass ich den Raum der Wünsche nie darauf gesehen habe!«
»Vielleicht haben die Rumtreiber überhaupt nicht gewusst, dass es den Raum gibt«, sagte Ron.
»Ich glaube, das gehört zur Magie dieses Raumes«, meinte Hermine. »Wenn du willst, dass er unaufspürbar ist, dann ist er das auch.«
»Dobby, hast du es geschafft, reinzukommen und dir anzusehen, was Malfoy treibt?«, fragte Harry begierig.
»Nein, Harry Potter, das ist unmöglich«, sagte Dobby.
»Nein, ist es nicht«, widersprach Harry sofort. »Wenn Malfoy letztes Jahr in unser Hauptquartier eingedrungen ist, kann ich jetzt auch in den Raum und ihn ausspionieren, kein Problem.«
»Aber ich glaube nicht, dass du das kannst, Harry«, sagte Hermine langsam. »Malfoy wusste doch schon genau, wie wir den Raum verwendeten, weil diese blöde Marietta es ausgeplaudert hatte. Er wünschte sich, dass der Raum zum Hauptquartier der DA werden sollte, und das wurde er auch. Aber du weißt nicht, in was sich der Raum verwandelt, wenn Malfoy dort reingeht, also weißt du auch nicht, in was der Raum sich für dich verwandeln soll.«
»Das lässt sich schon irgendwie hinkriegen«, sagte Harry abweisend. »Du hast deine Sache glänzend gemacht, Dobby.«
»Kreacher hat es auch gut gemacht«, sagte Hermine freundlich; doch Kreacher machte keineswegs eine dankbare Miene, sondern richtete seine riesigen, blutunterlaufenen Augen zur Decke und krächzte: »Das Schlammblut spricht zu Kreacher, Kreacher tut so, als könnte er nicht hören – «
»Hör auf damit«, fuhr ihn Harry an, und Kreacher machte eine letzte tiefe Verbeugung und disapparierte. »Du gehst jetzt am besten auch und legst dich ein wenig schlafen, Dobby.«
»Danke, Harry Potter, Sir!«, quiekte Dobby glücklich, und auch er verschwand.
»Ist das nicht toll?«, sagte Harry begeistert, zu Ron und Hermine gewandt, kaum dass der Raum wieder elfenlos war. »Wir wissen, wo Malfoy hingeht! Jetzt haben wir ihn!«
»Ja, großartig«, erwiderte Ron bedrückt und versuchte, die durchweichte Tintenmasse zu trocknen, die vor kurzem noch ein fast fertiger Aufsatz gewesen war. Hermine zog sie zu sich heran und fing an, die Tinte mit ihrem Zauberstab aufzusaugen.
»Aber was soll das heißen, er geht mit ›verschiedenen Schülern‹ dort hoch?«, sagte Hermine. »Wie viele Leute machen da mit? Du glaubst doch nicht, dass er einer Unzahl von Leuten anvertraut, was er treibt…«
»Ja, das ist merkwürdig«, sagte Harry stirnrunzelnd. »Ich habe gehört, wie er zu Crabbe gesagt hat, dass es ihn nichts angeht, was er tut … Was erzählt er dann all diesen … all diesen …«
Harrys Stimme verlor sich; er starrte ins Feuer.
»Mein Gott, wie konnte ich nur so blöd sein«, sagte er leise. »Es ist doch offensichtlich, oder? Unten im Kerker stand ein ganzer Bottich davon rum … er hätte in dieser Unterrichtsstunde jederzeit was klauen können …«
»Was klauen?«, fragte Ron.
»Vielsaft-Trank. Er hat was von dem Vielsaft-Trank gestohlen, den Slughorn uns in der ersten Zaubertrankstunde gezeigt hat … das sind nicht viele verschiedene Schüler, die für Malfoy Wache stehen … es sind nur Crabbe und Goyle, wie üblich … ja, das passt alles zusammen!«, sagte Harry, sprang auf und fing an, vor dem Feuer auf und ab zu gehen. »Die sind dumm genug, das zu tun, was er ihnen sagt, auch wenn er ihnen nicht sagt, was er vorhat … aber er will nicht, dass man sie vor dem Raum der Wünsche rumlungern sieht, also lässt er sie Vielsaft-Trank schlucken, damit sie wie andere Leute ausschauen … diese beiden Mädchen, mit denen ich ihn gesehen habe, als er nicht zum Quidditch gegangen ist – ha! Crabbe und Goyle!«
»Willst du etwa behaupten«, sagte Hermine mit gedämpfter Stimme, »dass dieses kleine Mädchen, dem ich die Waage repariert hab –?«
»Ja, natürlich!«, sagte Harry laut und starrte sie an. »Natürlich! Malfoy muss zu der Zeit im Raum der Wünsche gewesen sein, also hat sie – was red ich da – hat er die Waage fallen lassen, um Malfoy ein Signal zu geben, dass er nicht rauskommen soll, weil jemand draußen ist! Und dann war da noch das Mädchen, das den Krötenlaich fallen ließ! Wir sind dauernd an ihm vorbeigegangen und haben's nicht gemerkt!«
»Er hat Crabbe und Goyle dazu gebracht, sich in Mädchen zu verwandeln?«, sagte Ron und lachte schallend. »Mensch … kein Wunder, dass die zurzeit überhaupt nicht glücklich aussehen … Ich frag mich, warum sie ihm nicht sagen, dass er sie mal kreuzweise …«
»Also, die werden sich hüten, wenn er ihnen sein Dunkles Mal gezeigt hat, oder?«, sagte Harry.
»Hmmm … das Dunkle Mal, von dem wir nicht wissen, ob es existiert«, sagte Hermine skeptisch, rollte Rons getrockneten Aufsatz zusammen, bevor ihm noch Schlimmeres zustoßen konnte, und gab ihn Ron.
»Wir werden sehen«, meinte Harry zuversichtlich.
»Ja, das werden wir«, sagte Hermine, stand auf und streckte sich. »Aber, Harry, ehe du völlig aus dem Häuschen bist, ich glaube immer noch nicht, dass du in den Raum der Wünsche kommst, ohne dass du vorher weißt, was dort drin ist. Und du solltest auch nicht vergessen« – sie warf sich ihre Tasche über die Schulter und sah ihn sehr ernst an – »dass du dich eigentlich darauf konzentrieren solltest, diese Erinnerung von Slughorn zu bekommen. Gute Nacht.«
Harry sah ihr ein wenig verärgert nach. Sobald sich die Tür zu den Mädchenschlafsälen hinter ihr geschlossen hatte, fiel er über Ron her.
»Was meinst du?«
»Ich wünschte, ich könnte disapparieren wie ein Hauself«, sagte Ron und starrte dabei auf die Stelle, wo Dobby verschwunden war. »Dann wär diese Apparierprüfung für mich schon gebongt.«
Harry schlief nicht gut in dieser Nacht. Stundenlang, wie es ihm vorkam, lag er wach und fragte sich, wie Malfoy den Raum der Wünsche benutzte und was er, Harry, sehen würde, wenn er am folgenden Tag dort hineingehen würde, denn was immer Hermine auch sagte, Harry war sicher, wenn Malfoy imstande gewesen war, das Hauptquartier der DA zu sehen, dann wäre auch er imstande, Malfoys … doch was konnte es sein? Ein Treffpunkt? Ein Versteck? Ein Lagerraum? Eine Werkstatt? Harry dachte fieberhaft nach, und als er endlich einschlief, tauchten in seinen Träumen immer wieder beunruhigende Bilder von Malfoy auf, der sich in Slughorn verwandelte, sich in Snape verwandelte …
Beim Frühstück am nächsten Morgen konnte Harry es kaum noch erwarten; vor Verteidigung gegen die dunklen Künste hatte er eine Freistunde, und in dieser Zeit wollte er unbedingt versuchen, in den Raum der Wünsche zu gelangen. Hermine zeigte demonstrativ kein Interesse für seine im Flüsterton vorgetragenen Pläne, sich den Zugang zu dem Raum zu erzwingen, was Harry ärgerte, weil er glaubte, sie könnte eine große Hilfe sein, wenn sie nur wollte.
»Hör mal«, sagte er leise, beugte sich vor und legte die Hand auf den Tagespropheten, den sie gerade einer Posteule abgenommen hatte, damit sie die Zeitung nicht aufschlagen und dahinter verschwinden konnte. »Ich habe die Sache mit Slughorn nicht vergessen, aber ich habe keinen Schimmer, wie ich diese Erinnerung von ihm kriegen kann, und bis mir ein Gedankenblitz kommt, kann ich doch herausfinden, was Malfoy treibt, oder?«
»Ich hab's dir schon gesagt, du musst Slughorn überreden«, sagte Hermine. »Es geht nicht darum, ihn zu überlisten oder ihm irgendeinen Zauber aufzuhalsen, denn das hätte Dumbledore im Nu geschafft. Statt dass du dich vor dem Raum der Wünsche rumtreibst« – sie zog den Propheten ruckartig unter Harrys Hand hervor, faltete ihn auseinander und warf einen Blick auf die Titelseite – »solltest du endlich zu Slughorn gehen und anfangen, an das Gute in ihm zu appellieren.«
»Irgendjemand, den wir kennen –?«, fragte Ron, während Hermine die Schlagzeilen überflog.
»Ja!«, sagte Hermine, und Harry wie Ron verschluckten sich an ihrem Frühstück, »aber das ist schon okay, er ist nicht tot – es ist Mundungus, er wurde festgenommen und nach Askaban gebracht! Hat wohl was damit zu tun, dass er sich bei einem versuchten Einbruch als Inferius ausgegeben hat … und jemand namens Octavius Pepper ist verschwunden … oh, und wie schrecklich, ein neunjähriger Junge wurde festgenommen, weil er versucht hat, seine Großeltern umzubringen, man glaubt, er stand unter dem Imperius-Fluch …«
Stumm beendeten sie ihr Frühstück. Hermine machte sich gleich auf den Weg zu Alte Runen, Ron in den Gemeinschaftsraum, wo er seine Schlussfolgerung für Snapes Dementorenaufsatz noch fertig stellen musste, und Harry zu dem Korridor im siebten Stock und zu dem Stück Wand gegenüber dem Wandteppich, der Barnabas den Bekloppten zeigte, wie er den Trollen Ballettunterricht gab.
Harry streifte sich den Tarnumhang über, sobald er einen leeren Gang fand, doch das hätte er sich sparen können. Als er sein Ziel erreichte, stellte er fest, dass niemand da war. Harry war sich nicht sicher, ob seine Chancen, in den Raum zu gelangen, besser waren, wenn Malfoy drin oder wenn er draußen war, doch wenigstens würde sein erster Versuch nicht durch die Anwesenheit von Crabbe oder Goyle in Gestalt eines elfjährigen Mädchens verkompliziert werden.
Er schloss die Augen, als er sich der Stelle näherte, wo die Tür zum Raum der Wünsche verborgen war. Er wusste, was er zu tun hatte; letztes Jahr war er am Ende perfekt darin gewesen. Er konzentrierte sich mit aller Kraft auf den Gedanken: Ich muss sehen, was Malfoy da drin macht … Ich muss sehen, was Malfoy da drin macht… Ich muss sehen, was Malfoy da drin macht…
Drei Mal ging er an der Tür vorbei, dann schlug er mit vor Aufregung pochendem Herzen die Augen auf und stand ihr gegenüber – doch er sah immer noch ein Stück schlichter kahler Wand vor sich.
Er trat vor und stieß versuchsweise dagegen. Die Mauer blieb fest und unnachgiebig.
»Okay«, sagte Harry laut. »Okay … ich hab das Falsche gedacht …«
Er überlegte einen Moment, dann ging er wieder los, mit geschlossenen Augen und so konzentriert, wie er nur konnte.
Ich muss den Ort sehen, den Malfoy heimlich aufsucht … Ich muss den Ort sehen, den Malfoy heimlich aufsucht…
Nachdem er drei Mal vorbeigegangen war, schlug er erwartungsvoll die Augen auf.
Da war keine Tür.
»Oh, jetzt reicht's aber«, sagte er gereizt zu der Wand. »Das war eine klare Anweisung … na schön …«
Er dachte mehrere Minuten lang angestrengt nach, ehe er wieder losging.
Du musst zu dem Ort werden, der du für Draco Malfoy wirst…
Als er mit dem Hin- und Hergehen fertig war, schlug er nicht sofort die Augen auf; er lauschte angestrengt, als könnte er hören, wie die Tür mit einem Knall auftauchte. Doch er hörte nichts außer dem fernen Vogelgezwitscher draußen. Er öffnete die Augen.
Da war immer noch keine Tür.
Harry fluchte. Jemand schrie. Er sah sich um und erblickte eine schnatternde Schar Erstklässler, die um die Ecke davonrannten, offenbar in der Annahme, dass sie gerade einem besonders unflätigen Gespenst begegnet waren.
Harry versuchte es eine geschlagene Stunde lang mit allen erdenklichen Varianten von »Ich muss sehen, was Draco Malfoy in dir macht«, und am Ende musste er sich eingestehen, dass Hermine vielleicht doch Recht gehabt hatte: Der Raum wollte sich einfach nicht für ihn öffnen. Frustriert und verärgert machte er sich auf den Weg zu Verteidigung gegen die dunklen Künste, riss sich den Tarnumhang herunter und stopfte ihn unterwegs in seine Tasche.
»Wieder mal zu spät, Potter«, sagte Snape kühl, als Harry in das kerzenerleuchtete Klassenzimmer eilte. »Zehn Punkte Abzug für Gryffindor.«
Harry blickte Snape finster an und warf sich auf den Platz neben Ron; die halbe Klasse war noch auf den Beinen, holte Bücher heraus und legte Sachen zurecht; er konnte nicht viel später gekommen sein als irgendwer sonst.
»Bevor wir anfangen, will ich Ihre Dementorenaufsätze haben«, sagte Snape und schwang beiläufig seinen Zauberstab, worauf fünfundzwanzig Pergamentrollen in die Luft schnellten und ordentlich gestapelt auf seinem Schreibtisch landeten. »Und ich hoffe für Sie, dass sie besser sind als der Blödsinn, den ich über den Widerstand gegen den Imperius-Fluch erdulden musste. Schlagen Sie nun bitte Ihre Bücher auf Seite – was gibt es, Mr Finnigan?«
»Sir«, sagte Seamus, »ich würde gern wissen, wie man einen Inferius von einem Gespenst unterscheidet. Im Propheten stand nämlich was über einen Inferius – «
»Nein, das ist falsch«, sagte Snape mit gelangweilter Stimme.
»Aber Sir, ich hab gehört, wie Leute darüber – «
»Wenn Sie den fraglichen Artikel tatsächlich gelesen hätten, Mr Finnigan, dann wüssten Sie, dass der so genannte Inferius nichts weiter war als ein ungewaschener Tagedieb namens Mundungus Fletcher.«
»Ich dachte, Snape und Mundungus wären auf derselben Seite?«, raunte Harry Ron und Hermine zu. »Müsste er sich nicht darüber aufregen, dass Mundungus festge-?«
»Aber Potter hat offenbar viel zu diesem Thema beizusteuern«, sagte Snape, indem er plötzlich nach hinten deutete und Harry mit seinen schwarzen Augen fixierte. »Fragen wir doch Potter, wie man einen Inferius von einem Gespenst unterscheidet.«
Die ganze Klasse drehte sich zu Harry um, der hastig versuchte sich daran zu erinnern, was Dumbledore ihm in jener Nacht gesagt hatte, als sie Slughorn besucht hatten.
»Ähm – also – Gespenster sind durchsichtig«, sagte er.
»Oh, sehr gut«, unterbrach ihn Snape und seine Lippen kräuselten sich. »Ja, man kann ohne weiteres feststellen, dass annähernd sechs Jahre magischer Ausbildung bei Ihnen nicht verschwendet waren, Potter. Gespenster sind durchsichtig.«
Pansy Parkinson stieß ein schrilles Kichern aus. Einige andere feixten. Harry holte tief Luft, und obwohl es in seinem Innersten brodelte, fuhr er ruhig fort: »Ja, Gespenster sind durchsichtig, aber Inferi sind tote Körper, oder nicht? Also müssen sie fest sein – «
»So viel hätte uns auch ein Fünfjähriger sagen können«, höhnte Snape. »Der Inferius ist eine Leiche, die durch den Zauber eines schwarzen Magiers reanimiert wurde. Er lebt nicht, sondern wird nur wie eine Marionette eingesetzt, um die Befehle des Zauberers auszuführen. Ein Gespenst, und ich hoffe, das ist Ihnen inzwischen allen klar, ist die Spur, die eine verstorbene Seele auf der Erde hinterlässt … und natürlich, wie Potter uns so weise mitteilt, durchsichtig.«
»Also, was Harry gesagt hat, ist absolut brauchbar, wenn wir die voneinander unterscheiden wollen!«, sagte Ron. »Wenn wir in einer dunklen Gasse einem über den Weg laufen, müssen wir doch nur mal kurz nachschauen, ob er fest ist, und müssen nicht fragen: ›Verzeihung, sind Sie die Spur einer verstorbenen Seele?‹«
Gedämpfte Lacher waren zu hören, die bei dem Blick, den Snape der Klasse versetzte, schlagartig verstummten.
»Noch einmal zehn Punkte Abzug für Gryffindor«, sagte Snape. »Ich hätte nichts Feinsinnigeres von Ihnen erwartet, Ronald Weasley, von dem Jungen, der so fest ist, dass er keine paar Zentimeter durch einen Raum apparieren kann.«
»Nein!«, flüsterte Hermine und packte Harry am Arm, als er wütend den Mund öffnete. »Das ist sinnlos, du bekommst am Ende nur wieder Nachsitzen, lass es sein!«
»Schlagen Sie nun Ihre Bücher auf Seite zweihundertdreizehn auf«, sagte Snape ein wenig feixend, »und lesen Sie die ersten beiden Abschnitte über den Cruciatus-Fluch …«
Ron war während des ganzen Unterrichts sehr geknickt. Als es zum Ende der Stunde läutete, holte Lavender Ron und Harry ein (Hermine löste sich auf rätselhafte Weise im Nichts auf, als sie sich näherte) und schimpfte hitzig über Snape wegen seiner spöttischen Bemerkung über Rons Apparierkünste, doch Ron schien sich nur darüber zu ärgern, und er schüttelte sie ab, indem er mit Harry einen Umweg zum Jungenklo machte.
»Aber Snape hat Recht, oder?«, sagte Ron, nachdem er ein bis zwei Minuten lang in einen gesprungenen Spiegel gestarrt hatte. »Ich weiß nicht, ob es sich überhaupt lohnt, dass ich die Prüfung ablege. Ich krieg den Dreh beim Apparieren einfach nicht raus.«
»Du könntest erst mal an den zusätzlichen Übungsstunden in Hogsmeade teilnehmen und sehen, was es dir bringt«, riet ihm Harry. »Das wird auf jeden Fall interessanter, als ständig zu versuchen, in einen bescheuerten Reifen reinzukommen. Wenn du dann immer noch nicht – du weißt schon – so gut bist, wie du gern wärst, kannst du die Prüfung später machen, mit mir zusammen im Somm… – Myrte, das ist ein Jungenklo!«
Der Geist eines Mädchens war aus der Kloschüssel in einer Kabine hinter ihnen emporgestiegen, schwebte jetzt in der Luft und starrte sie durch eine dicke, weiße, runde Brille an.
»Oh«, sagte sie niedergeschlagen. »Ihr beide seid das.«
»Wen hast du erwartet?«, fragte Ron, der sie im Spiegel ansah.
»Niemand«, sagte Myrte und zupfte trübsinnig an einem Leberfleck auf ihrem Kinn. »Er hat gesagt, er würde zurückkommen und mich besuchen, aber du hast ja auch gesagt, du würdest bei mir vorbeischauen …« – sie warf Harry einen vorwurfsvollen Blick zu – »… und ich hab dich monatelang nicht gesehen. Inzwischen erwarte ich nicht mehr viel von Jungen.«
»Ich dachte, du lebst in diesem Mädchenklo?«, sagte Harry, der schon seit einigen Jahren darauf achtete, einen großen Bogen um diesen Ort zu machen.
»Das tue ich auch«, erwiderte sie und zuckte schmollend ein wenig die Achseln, »aber das heißt nicht, dass ich nicht mal anderswo vorbeischauen könnte. Einmal bin ich gekommen und hab dich im Bad gesehen, erinnerst du dich?«
»Lebhaft«, sagte Harry.
»Aber ich dachte, er mag mich«, sagte sie wehmütig. »Wenn ihr beide rausgehen würdet, dann würde er vielleicht wieder zurückkommen … wir hatten so viele Gemeinsamkeiten … ich bin sicher, dass er das gespürt hat …«
Und sie blickte hoffnungsvoll in Richtung Tür.
»Wenn du sagst, ihr hättet viele Gemeinsamkeiten«, fragte Ron und klang jetzt ziemlich belustigt, »heißt das, er lebt auch in einem Abflussrohr?«
»Nein«, gab Myrte trotzig zurück, und ihre Stimme hallte laut in dem alten gefliesten Klo wider. »Das heißt, dass er sensibel ist und auch von den andern drangsaliert wird und dass er sich einsam fühlt und niemand hat, mit dem er reden kann, und dass er keine Angst hat, seine Gefühle zu zeigen und zu weinen!«
»Hier drin war ein Junge, der geweint hat?«, sagte Harry neugierig. »Ein kleiner Junge?«
»Das geht euch nichts an!«, sagte Myrte, die kleinen wässrigen Augen auf Ron geheftet, der jetzt unverhohlen grinste. »Ich hab versprochen, es niemandem zu sagen, und ich nehm sein Geheimnis mit ins – «
»… doch nicht ins Grab, oder?«, schnaubte Ron. »In den Abwasserkanal vielleicht …«
Myrte heulte wütend auf und tauchte wieder in die Kloschüssel ab, dass das Wasser über den Rand auf den Boden schwappte. Die Sticheleien gegen Myrte schienen Ron frischen Mut verliehen zu haben.
»Du hast Recht«, sagte er und schwang sich die Schultasche über die Schulter, »ich mach bei den Übungsstunden in Hogsmeade mit, dann kann ich immer noch entscheiden, ob ich zur Prüfung gehe.«
Und so schloss sich Ron am folgenden Wochenende Hermine und den anderen Sechstklässlern an, die rechtzeitig siebzehn wurden, um die Prüfung in zwei Wochen abzulegen. Harry sah ihnen ziemlich neidisch dabei zu, wie sie sich für den Gang ins Dorf fertig machten; er vermisste die Ausflüge dorthin, und es war ein besonders schöner Frühlingstag, mit einem klaren Himmel, wie sie ihn seit langem nicht mehr erlebt hatten. Er hatte jedoch beschlossen, die Zeit zu nutzen und erneut zu versuchen, den Raum der Wünsche zu stürmen.
»Es wäre besser«, sagte Hermine, als Harry ihr und Ron diesen Plan in der Eingangshalle anvertraute, »wenn du geradewegs in Slughorns Büro gehen und versuchen würdest, diese Erinnerung von ihm zu bekommen.«
»Ich hab's doch versucht!«, sagte Harry ärgerlich, was absolut der Wahrheit entsprach. Nach jeder Zaubertrankstunde in dieser Woche war er noch dageblieben, um Slughorn zu bedrängen, aber der Zaubertrankmeister verließ den Kerker immer so schnell, dass Harry ihn nicht zu fassen bekam. Zweimal war Harry zu seinem Büro gegangen und hatte geklopft, aber keine Antwort bekommen, auch wenn er beim zweiten Mal sicher gewesen war, die rasch abgewürgten Töne eines alten Grammofons gehört zu haben.
»Er will nicht mit mir reden, Hermine! Er weiß genau, dass ich wieder versuche, ihn unter vier Augen zu sprechen, und er wird es nicht zulassen!«
»Nun ja, du musst einfach dranbleiben, oder?«
Die kurze Schlange von Schülern, die darauf warteten, an Filch vorbeizugehen, der sie wie üblich mit dem Geheimnis-Detektor pikste, rückte ein paar Schritte vorwärts, und Harry gab keine Antwort, da ihn der Hausmeister womöglich hören konnte. Er wünschte Ron und Hermine Glück, dann drehte er sich um und stieg wieder die Marmortreppe hoch, fest entschlossen, ein bis zwei Stunden dem Raum der Wünsche zu widmen, was immer Hermine auch sagte.
Sobald man ihn von der Eingangshalle aus nicht mehr sehen konnte, zog Harry die Karte des Rumtreibers und den Tarnumhang aus seiner Tasche. Nachdem er sich unsichtbar gemacht hatte, tippte er gegen die Karte, murmelte: »Ich schwöre feierlich, dass ich ein Tunichtgut bin«, und suchte sie sorgfältig ab.
Da es Sonntagmorgen war, waren fast alle Schüler in ihren jeweiligen Gemeinschaftsräumen, die Gryffindors in einem Turm, die Ravenclaws in einem anderen, die Slytherins in den Kerkern und die Hufflepuffs im Keller in der Nähe der Küchen. Vereinzelt schlängelten sich Leute durch die Bibliothek oder gingen einen Korridor entlang … einige waren draußen auf dem Gelände … und dort, allein im Korridor im siebten Stock, war Gregory Goyle. Vom Raum der Wünsche war keine Spur zu sehen, doch darüber machte sich Harry keine Gedanken; wenn Goyle davor Wache stand, dann war der Raum offen, ob die Karte davon wusste oder nicht. Deshalb spurtete er die Treppen hoch und wurde erst langsamer, als er die Ecke zum Korridor erreicht hatte; von dort aus schlich er ganz langsam auf ebenjenes kleine Mädchen zu, das die Messingwaage fest umklammert hielt und dem Hermine zwei Wochen zuvor so freundlich geholfen hatte. Er wartete, bis er direkt hinter ihr war, dann beugte er sich ganz tief hinunter und flüsterte: »Hallo … du bist aber hübsch, nicht wahr?«
Goyle stieß einen schrillen Angstschrei aus, warf die Waage in die Luft, rannte davon und verschwand, lange bevor der Lärm der zerschellenden Waage im Korridor verhallt war. Harry drehte sich lachend um und betrachtete die kahle Wand, hinter der jetzt sicher Draco Malfoy zur Salzsäule erstarrt war, wohl wissend, dass ein unwillkommener Besucher draußen stand, aber ohne den Mut, sich zu zeigen. Harry verspürte ein höchst angenehmes Gefühl der Macht, während er sich zu erinnern versuchte, welche Formulierungen er noch nicht ausprobiert hatte.
Doch seine optimistische Stimmung hielt nicht lange an. Eine halbe Stunde später, nachdem er viele weitere Varianten seines Wunsches ausprobiert hatte, um herauszufinden, was Malfoy trieb, war die Wand genauso türlos wie zuvor. Harry war maßlos enttäuscht; Malfoy war vielleicht nur ein, zwei Schritte von ihm entfernt, und er hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt, was er dort drin tat. Er verlor völlig die Geduld, rannte gegen die Wand und versetzte ihr einen Tritt.
»AUTSCH!«
Er dachte, er hätte sich einen Zeh gebrochen; als er ihn auf einem Fuß hoppelnd fest umklammerte, rutschte ihm der Tarnumhang herunter.
»Harry?«
Er wirbelte auf einem Bein herum und kippte vornüber. Zu seinem größten Erstaunen sah er Tonks auf sich zukommen, als ob sie des Öfteren durch diesen Korridor schlendern würde.
»Was machst du denn hier?«, sagte er und rappelte sich wieder auf; warum musste sie ihm immer dann begegnen, wenn er auf dem Boden lag?
»Ich wollte Dumbledore besuchen«, antwortete Tonks.
Harry fand, dass sie schrecklich aussah; noch dünner als sonst, und ihr mausbraunes Haar hing schlaff herunter.
»Sein Büro ist nicht hier«, sagte Harry, »es ist auf der anderen Seite des Schlosses, hinter dem Wasserspeier.«
»Ich weiß«, sagte Tonks. »Er ist nicht da. Offenbar ist er wieder unterwegs.«
»Tatsächlich?«, sagte Harry und stellte seinen verletzten Fuß vorsichtig wieder auf den Boden. »Hey – du weißt nicht zufällig, wo er hingeht?«
»Nein«, sagte Tonks.
»Weswegen wolltest du ihn sprechen?«
»Wegen nichts Bestimmtem«, erwiderte Tonks und zupfte, offensichtlich ohne es zu merken, am Ärmel ihres Umhangs. »Ich dachte nur, vielleicht weiß er, was los ist … ich habe Gerüchte gehört … Leute werden verletzt …«
»Ja, ich weiß, stand alles in der Zeitung«, sagte Harry. »Dieser kleine Junge, der versucht hat, seine Großeltern zu er-«
»Der Prophet ist oft nicht auf dem neuesten Stand«, sagte Tonks, die ihm anscheinend nicht zuhörte. »Du hast in letzter Zeit keine Briefe von irgendjemandem aus dem Orden bekommen?«
»Aus dem Orden schreibt mir niemand mehr«, sagte Harry, »nicht, seit Sirius – «
Er sah, dass ihr Tränen in die Augen gestiegen waren.
»Tut mir Leid«, murmelte er betreten. »Ich meine … ich vermisse ihn auch …«
»Was?«, sagte Tonks verständnislos, als ob sie ihn nicht gehört hätte. »Also … wir sehen uns dann, Harry …«
Und sie wandte sich abrupt um, ging den Korridor entlang davon und ließ Harry stehen, der ihr nachstarrte. Nach etwa einer Minute zog er sich erneut den Tarnumhang über und bemühte sich wieder, in den Raum der Wünsche zu gelangen, ohne jedoch recht bei der Sache zu sein. Mit einem hohlen Gefühl im Magen und bei dem Gedanken daran, dass Ron und Hermine bald zum Mittagessen zurück sein würden, gab er den Versuch schließlich auf und überließ den Korridor Malfoy, der hoffentlich dermaßen verschreckt war, dass er erst in ein paar Stunden herauskommen würde.
Er fand Ron und Hermine in der Großen Halle, schon halb fertig mit einem frühen Mittagessen.
»Ich hab's geschafft – na ja, so gut wie!«, erzählte Ron Harry begeistert, sobald er ihn sah. »Ich sollte eigentlich vor Madam Puddifoots Cafe apparieren und bin ein bisschen darüber hinausgeschossen und in der Nähe von Schreiberlings gelandet, aber zumindest hab ich den Ort gewechselt!«
»Klasse«, sagte Harry. »Wie lief's bei dir, Hermine?«
»Oh, sie war perfekt, ist doch klar«, sagte Ron, ehe Hermine antworten konnte. »Perfekte Dreierregel, Ziel, Unwille, Betulichkeit oder wie's zum Teufel noch mal heißt – wir sind danach alle schnell noch in die Drei Besen was trinken gegangen, und du hättest hören sollen, wie Twycross von ihr geschwärmt hat – mich würd's nicht überraschen, wenn er ihr bald 'nen Antrag macht – «
»Und was ist mit dir?«, fragte Hermine, ohne Ron zu beachten. »Warst du die ganze Zeit oben beim Raum der Wünsche?«
»Jep«, sagte Harry. »Und ratet mal, wer mir dort oben über den Weg gelaufen ist? Tonks!«
»Tonks?«, wiederholten Ron und Hermine gleichzeitig und sahen überrascht aus.
»Allerdings, sie meinte, sie wollte eigentlich Dumbledore besuchen …«
»Wenn du mich fragst«, sagte Ron, sobald Harry sein Gespräch mit Tonks geschildert hatte, »dreht sie jetzt ein bisschen durch. Verliert die Nerven, nach dem, was im Ministerium passiert ist.«
»Es ist schon ein wenig merkwürdig«, sagte Hermine, die aus irgendeinem Grund sehr beunruhigt wirkte. »Sie soll eigentlich die Schule bewachen, warum verlässt sie auf einmal ihren Posten und will Dumbledore besuchen gehen, wenn er nicht einmal da ist?«
»Mir kam da so ein Gedanke«, sagte Harry zögernd. Ihm war nicht wohl dabei, ihn auszusprechen; das war viel eher Hermines Gebiet als seines. »Meint ihr nicht, dass sie vielleicht … na ja … in Sirius verliebt war?«
Hermine starrte ihn an.
»Wie um Himmels willen kommst du auf die Idee?«
»Keine Ahnung«, antwortete Harry achselzuckend, »aber sie hat fast geweint, als ich seinen Namen erwähnt hab … und ihr Patronus ist jetzt was Großes, Vierbeiniges … Ich hab mich gefragt, ob es nicht vielleicht … wie soll ich sagen … er ist.«
»Das wäre eine Möglichkeit«, sagte Hermine langsam. »Aber ich weiß immer noch nicht, warum sie urplötzlich im Schloss auftaucht, um Dumbledore zu besuchen, falls sie wirklich deshalb hier war …«
»Also lieg ich doch nicht so falsch, oder?«, bemerkte Ron, der sich gerade Kartoffelbrei in den Mund schaufelte. »Sie ist ein bisschen komisch geworden. Hat die Nerven verloren. Frauen«, sagte er weise zu Harry. »Die kriegen schnell zu viel.«
»Und trotzdem«, sagte Hermine, die aus ihrer Träumerei erwachte, »wirst du wohl kaum eine Frau finden, die eine halbe Stunde lang schmollt, weil Madam Rosmerta nicht über ihren Witz mit der Sabberhexe, dem Heiler und dem Mimbulus mimbeltonia gelacht hat.«
Ron blickte finster.