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Am Himmel über den Schlosstürmen tauchten allmählich hellblaue Stellen auf, doch diese Vorboten des Sommers konnten Harrys Laune nicht bessern. Er war erfolglos gewesen, sowohl bei seinen Versuchen herauszufinden, was Malfoy trieb, als auch bei seinen Bemühungen, ein Gespräch mit Slughorn anzufangen, das irgendwie dazu führen könnte, dass Slughorn ihm die Erinnerung gab, die er offenbar seit Jahrzehnten verheimlicht hatte.
»Zum letzten Mal, vergiss einfach die Sache mit Malfoy«, sagte Hermine entschieden zu Harry.
Sie saßen nach dem Mittagessen gemeinsam mit Ron in einer sonnigen Ecke des Hofes. Hermine und Ron hielten beide ein Merkblatt des Zaubereiministeriums in den Händen: Häufige Fehler beim Apparieren und wie man sie vermeidet. Sie hatten noch an diesem Nachmittag ihre Prüfung, doch die Merkblätter hatten insgesamt nicht dazu beigetragen, ihre Nerven zu beruhigen. Als ein Mädchen um die Ecke kam, schrak Ron zusammen und versuchte sich hinter Hermine zu verstecken.
»Es ist nicht Lavender«, meinte Hermine gelangweilt.
»Oh, gut«, sagte Ron und erholte sich wieder.
»Harry Potter?«, fragte das Mädchen. »Ich soll dir das hier geben.«
»Danke …«
Harry wurde das Herz schwer, als er die kleine Pergamentrolle entgegennahm. Sobald das Mädchen außer Hörweite war, sagte er: »Dumbledore wollte mir doch erst wieder Stunden geben, wenn ich diese Erinnerung habe!«
»Vielleicht will er nur mal nachschauen, wie du vorankommst?«, überlegte Hermine, als Harry das Pergament entrollte; aber er sah nicht Dumbledores längliche, enge, schräge Handschrift, sondern ein unordentliches Gekrakel, das sehr schwer zu lesen war, da sich auf dem Pergament große Kleckse zerlaufener Tinte befanden.
Lieber Harry, lieber Ron, liebe Hermine,
gestern Nacht ist Aragog gestorben. Harry und Ron, ihr habt ihn kennen gelernt, ihr wisst, dass er was Besonderes war. Hermine, ich weiß, du hätt'st ihn gemocht. Es würd mir viel bedeuten, wenn ihr heute gegen Abend zur Beerdigung runterkommt. Ich will es in der Dämmerung machen, das war seine liebste Tageszeit. Ich weiß, dass ihr so spät nicht draußen sein dürft, aber ihr könnt den Tarnumhang benutzen. Allein bring ich's einfach nicht über mich, sonst würd ich nicht fragen.
Hagrid
»Schau dir das mal an«, sagte Harry und gab den Brief Hermine.
»Oh, um Himmels willen«, sagte sie, als sie ihn rasch überflog, dann reichte sie ihn an Ron weiter, der, während er ihn durchlas, immer ungläubiger dreinschaute.
»Der ist verrückt!«, sagte er wütend. »Dieses Viech hat seine Freunde aufgefordert, Harry und mich aufzufressen! Ihnen gesagt, dass sie sich ruhig bedienen sollen! Und jetzt erwartet Hagrid von uns, dass wir da runtergehen und seine scheußliche haarige Leiche beweinen!«
»Und das ist noch nicht alles«, fügte Hermine hinzu. »Er will, dass wir nachts aus dem Schloss gehen, obwohl er weiß, dass die Sicherheitsmaßnahmen tausendmal schärfer sind und dass wir dermaßen Ärger bekommen, wenn wir erwischt werden.«
»Wir waren schon nachts unten bei ihm«, sagte Harry.
»Ja, aber für so was?«, sagte Hermine. »Wir haben eine Menge riskiert, um Hagrid aus der Patsche zu helfen, aber schließlich – ist Aragog tot. Wenn es darum ginge, ihn zu retten …«
»… dann würd ich erst recht nicht hinwollen«, sagte Ron entschieden. »Du hast ihn nicht kennen gelernt, Hermine. Glaub mir, dass er tot ist, hat seinem Charakter nur gut getan.«
Harry nahm den Brief zurück und betrachtete die auf dem ganzen Blatt verteilten Tintenkleckse. Offenbar waren in rascher Folge dicke Tränen auf das Pergament gefallen …
»Harry, du kannst doch nicht ernsthaft überlegen, da hinzugehen«, sagte Hermine. »Dafür Nachsitzen zu kriegen ist so was von unsinnig.«
Harry seufzte.
»Ja, ich weiß«, erwiderte er. »Ich schätze, Hagrid wird Aragog ohne uns begraben müssen.«
»Ja, das muss er wohl«, sagte Hermine und sah erleichtert aus. »Übrigens, heute Nachmittag wird es in Zaubertränke fast leer sein, weil wir alle weg sind und die Prüfung machen … Versuch doch mal, Slughorn ein bisschen weich zu kochen!«
»Du meinst, beim siebenundfünfzigsten Mal hab ich Glück?«, bemerkte Harry bitter.
»Glück«, sagte Ron plötzlich. »Harry, das ist es – hol dir dein Glück!«
»Was meinst du damit?«
»Nimm deinen Glückstrank!«
»Ron, das ist – das ist die Idee!«, sagte Hermine und klang verblüfft. »Natürlich! Warum ist mir das nicht eingefallen?«
Harry starrte die beiden an. »Felix Felicis?«, sagte er. »Ich weiß nicht … ich wollte es mir eigentlich aufheben …«
»Wofür?«, fragte Ron skeptisch.
»Was um alles in der Welt ist wichtiger als diese Erinnerung, Harry?«, wollte Hermine wissen.
Harry antwortete nicht. Der Gedanke an dieses goldene Fläschchen spukte schon länger weit hinten in seinem Kopf herum; verschwommene, nicht ausformulierte Pläne gärten in den Tiefen seines Gehirns: Ginny, die sich von Dean trennte, kam darin vor und Ron, der irgendwie froh war, dass sie einen neuen Freund hatte, Pläne, die er sich selbst nicht eingestand außer in seinen Träumen oder in dem dämmrigen Zustand zwischen Schlafen und Wachsein …
»Harry? Bist du noch bei uns?«, fragte Hermine.
»Wa-? Ja, natürlich«, sagte er und riss sich zusammen. »Also … okay. Wenn ich Slughorn heute Nachmittag nicht zum Reden bringe, nehme ich ein wenig Felix und versuche es heute Abend noch mal.«
»Das wäre also abgemacht«, sagte Hermine munter, stand auf und drehte eine elegante Pirouette. »Ziel … Wille … Bedacht …«, murmelte sie.
»Ach, hör auf damit«, bat Ron sie. »Mir ist sowieso schon schlecht – schnell, versteck mich!«
»Es ist nicht Lavender!«, sagte Hermine ungeduldig, als noch zwei Mädchen im Hof erschienen und Ron hinter ihr abtauchte.
»Schwein gehabt«, sagte Ron und lugte über Hermines Schulter, um sich zu vergewissern. »Mensch, die sehen aber überhaupt nicht glücklich aus, was?«
»Das sind die Montgomery-Schwestern und die sehen natürlich nicht glücklich aus, hast du nicht gehört, was mit ihrem kleinen Bruder passiert ist?«, fragte Hermine.
»Ehrlich gesagt, verlier ich allmählich den Überblick, was den Verwandten von den ganzen Leuten so alles passiert«, entgegnete Ron.
»Also, ihr Bruder ist von einem Werwolf angefallen worden. Dem Gerücht nach hat ihre Mutter sich geweigert, den Todessern zu helfen. Jedenfalls war der Junge erst fünf und er ist im St. Mungo gestorben, die konnten ihn nicht retten.«
»Er ist gestorben?«, wiederholte Harry schockiert. »Aber Werwölfe töten doch eigentlich nicht, sie verwandeln dich nur in einen von ihnen?«
»Manchmal töten sie«, sagte Ron, der jetzt ungewöhnlich ernst aussah. »Ich hab gehört, dass das passiert, wenn der Werwolf die Kontrolle über sich verliert.«
»Wie hieß der Werwolf?«, fragte Harry rasch.
»Also, dem Gerücht nach war es Fenrir Greyback«, sagte Hermine.
»Ich hab's gewusst – der Wahnsinnige, der gerne Kinder angreift, von dem Lupin mir erzählt hat!«, sagte Harry zornig.
Hermine sah ihn düster an.
»Harry, du musst dir diese Erinnerung unbedingt beschaffen«, sagte sie. »Es geht doch darum, Voldemort aufzuhalten, oder? Diese schrecklichen Dinge, die passieren, da steckt überall er dahinter …«
Die Glocke läutete oben im Schloss, und Hermine und Ron sprangen mit entsetzten Mienen auf.
»Ihr werdet es schon schaffen«, sagte Harry, während sie in Richtung Eingangshalle gingen, wo die beiden sich mit den anderen Schülern treffen wollten, die auch die Prüfung im Apparieren ablegten. »Viel Glück.«
»Gleichfalls!«, sagte Hermine mit einem bedeutungsvollen Blick, als Harry sich auf den Weg in die Kerker machte.
An diesem Nachmittag waren sie in Zaubertränke nur zu dritt: Harry, Ernie und Draco Malfoy.
»Alle noch zu jung, um zu apparieren?«, fragte Slughorn freundlich. »Noch keine siebzehn?«
Sie schüttelten die Köpfe.
»Ah, nun«, sagte Slughorn fröhlich, »da wir so wenige sind, werden wir heute mal etwas Vergnügliches machen. Ich möchte, dass Sie mir was Lustiges zusammenbrauen!«
»Das klingt gut, Sir«, schleimte Ernie und rieb sich die Hände. Malfoy hingegen ließ sich nicht zu einem Lächeln herab.
»Was meinen Sie mit ›lustig‹?«, fragte er gereizt.
»Oh, da lass ich mich von Ihnen überraschen«, sagte Slughorn ungezwungen.
Malfoy schlug mit trotziger Miene sein Zaubertränke für Fortgeschrittene auf. Es hätte nicht deutlicher sein können, dass er diese Unterrichtsstunde für Zeitverschwendung hielt. Zweifellos opferte Malfoy nur ungern die Zeit, die er sonst im Raum der Wünsche hätte verbringen können, dachte Harry, der ihn über den Rand seines eigenen Buches beobachtete.
Bildete er sich das nur ein, oder war Malfoy, genau wie Tonks, dünner geworden? Mit Sicherheit sah er blasser aus; seine Haut hatte immer noch diese Spur von Grau, vermutlich weil er in diesen Tagen so selten ans Tageslicht kam. Doch er wirkte nicht blasiert, auch nicht aufgeregt oder überheblich; da war nichts von der Großspurigkeit, die er im Hogwarts-Express an sich gehabt hatte, als er offen mit der Mission prahlte, die Voldemort ihm aufgetragen hatte … Für Harry gab es nur einen logischen Schluss: Die Mission, worin immer sie bestand, verlief nicht gut.
Von diesem Gedanken beflügelt, blätterte Harry sein Exemplar der Zaubertränke für Fortgeschrittene durch und stieß auf ein Euphorie-Elixier, das in der Fassung des Halbblutprinzen mehrfach korrigiert worden war. Es schien nicht nur Slughorns Aufgabenstellung zu entsprechen, sondern versetzte ihn vielleicht auch (und bei diesem Gedanken schlug Harrys Herz höher) in eine so gute Stimmung, dass er bereit wäre, die Erinnerung herauszurücken, falls Harry ihn dazu überreden konnte, von dem Trank zu kosten
»Nun, das sieht ja absolut wunderbar aus«, sagte Slughorn anderthalb Stunden später und klatschte in die Hände, als er auf das sonnengelbe Gebräu in Harrys Kessel hinunterspähte. »Euphorie, nehme ich an? Und wonach riecht das? Mmmm … Sie haben bloß einen Stängel Pfefferminze dazugetan, nicht wahr? Unüblich, aber welch genialer Einfall, Harry. Das würde natürlich die gelegentlichen Nebenwirkungen, das exzessive Singen und Nasenzwicken, ausgleichen … Ich weiß wirklich nicht, woher Sie immer diese Gedankenblitze haben, mein Junge … es sei denn – «
Harry stieß das Buch des Halbblutprinzen mit dem Fuß tiefer in seine Tasche.
» es sind einfach die Gene Ihrer Mutter, die bei Ihnen zum Tragen kommen!«
»Oh … ja, kann sein«, sagte Harry erleichtert.
Ernie machte ein ziemlich verdrießliches Gesicht; mit dem festen Vorsatz, Harry wenigstens dieses eine Mal auszustechen, hatte er sich völlig überstürzt seinen eigenen Zaubertrank ausgedacht, der nun ganz dick geworden war und wie eine Art lila Knödel am Boden seines Kessels lag. Malfoy packte bereits mit säuerlicher Miene seine Sachen zusammen; Slughorn hatte seine Schluckauf-Lösung nur für »passabel« erklärt.
Als die Glocke läutete, gingen Ernie und Malfoy gleichzeitig hinaus.
»Sir«, fing Harry an, doch Slughorn warf sofort einen Blick über die Schulter; als er sah, dass keiner außer ihm und Harry mehr im Raum war, eilte er so schnell er konnte davon.
»Professor – Professor, wollen Sie nicht mal von meinem Trank –?«, rief Harry verzweifelt.
Aber Slughorn war verschwunden. Enttäuscht leerte Harry den Kessel aus, packte seine Sachen zusammen, verließ den Kerker und ging langsam die Treppe hoch zum Gemeinschaftsraum zurück.
Ron und Hermine kamen am späten Nachmittag wieder.
»Harry!«, rief Hermine, als sie durch das Porträtloch kletterte. »Harry, ich hab's geschafft!«
»Gratuliere!«, sagte er. »Und Ron?«
»Er – er ist ganz knapp durchgefallen«, flüsterte Hermine, als Ron mit äußerst mürrischer Miene hereinschlurfte. »Das war wirklich Pech, nur eine Kleinigkeit, der Prüfer hat bloß bemerkt, dass er eine halbe Augenbraue zurückgelassen hat … wie lief es mit Slughorn?«
»Kein Erfolg«, sagte Harry, als Ron zu ihnen stieß. »Pech für dich, Mann, aber das nächste Mal schaffst du es – wir können die Prüfung zusammen machen.«
»Ja, sieht ganz so aus«, sagte Ron missmutig. »Aber wegen einer halben Augenbraue! Das ist doch kleinkariert!«
»Ich weiß«, sagte Hermine besänftigend, »das kommt einem wirklich streng vor …«
Sie verbrachten das Abendessen weitgehend damit, rundweg über den Apparierprüfer zu schimpfen, und Ron wirkte ein klein wenig besser gelaunt, als sie sich dann wieder auf den Weg zum Gemeinschaftsraum machten und über das alte Problem mit Slughorn und seiner Erinnerung sprachen.
»Wie steht's, Harry – nimmst du jetzt den Felix Felicis oder nicht?«, wollte Ron wissen.
»Ja, es bleibt mir wohl nichts anderes übrig«, sagte Harry. »Ich glaube nicht, dass ich alles davon brauche, nicht für zwölf Stunden, es kann ja nicht die ganze Nacht dauern … Ich nehme nur einen Schluck. Zwei bis drei Stunden sollten reichen.«
»Das ist ein tolles Gefühl, wenn man es genommen hat«, sagte Ron erinnerungsselig. »Als könnte man einfach nichts falsch machen.«
»Wovon redest du eigentlich?«, sagte Hermine lachend. »Du hast doch nie was davon genommen!«
»Ja, aber ich dachte, ich hätte, stimmt's?«, gab Ron zurück, als wäre es selbstverständlich. »Das ist im Grunde das Gleiche …«
Da sie Slughorn eben erst in die Große Halle hatten gehen sehen und wussten, dass er sich beim Essen gerne Zeit ließ, blieben sie noch eine Weile im Gemeinschaftsraum. Ihr Plan war, dass Harry erst zu Slughorns Büro gehen sollte, wenn der Lehrer Zeit genug gehabt hatte, dorthin zurückzukehren. Als die Sonne bis an die Baumwipfel des Verbotenen Waldes gesunken war, beschlossen sie, dass der richtige Moment gekommen war, und nachdem sie sich gründlich vergewissert hatten, dass Neville, Dean und Seamus allesamt im Gemeinschaftsraum waren, schlichen sie sich hoch in den Jungenschlafsaal.
Harry holte die zusammengerollten Socken heraus, die am Boden seines Koffers gelegen hatten, und zog das schimmernde Fläschchen hervor.
»Also, dann mal los«, sagte Harry, hob das Fläschchen und nahm einen sorgfältig bemessenen Schluck.
»Wie fühlt es sich an?«, flüsterte Hermine.
Harry antwortete im ersten Moment nicht. Dann, langsam, aber sicher, überkam ihn ein berauschendes Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten; es kam ihm vor, als könnte er alles tun, überhaupt alles … und Slughorn die Erinnerung abzunehmen erschien ihm plötzlich nicht nur möglich, sondern geradezu kinderleicht …
Lächelnd und strotzend vor Zuversicht stand er auf.
»Ausgezeichnet«, sagte er. »Wirklich ausgezeichnet. Gut … ich geh runter zu Hagrid.«
»Was?«, riefen Ron und Hermine gleichzeitig mit entgeisterten Mienen.
»Nein, Harry – du musst doch zu Slughorn gehen, weißt du nicht mehr?«, sagte Hermine.
»Nein«, entgegnete Harry überzeugt. »Ich geh runter zu Hagrid, irgendwie sagt mir mein Gefühl, dass ich zu Hagrid gehen soll.«
»Dein Gefühl sagt dir, dass du eine Riesenspinne beerdigen sollst?«, fragte Ron mit verdutzter Miene.
»Ja«, antwortete Harry und zog den Tarnumhang aus seiner Tasche. »Ich spüre, dass ich heute Abend dort hingehöre, wisst ihr, was ich meine?«
»Nein«, sagten Ron und Hermine wie aus einem Munde und sahen nun eindeutig beunruhigt aus.
»Das ist doch wirklich Felix Felicis, oder nicht?«, fragte Hermine beklommen und hielt das Fläschchen gegen das Licht. »Du hast nicht etwa noch ein anderes Fläschchen mit – ich weiß nicht – «
»Wahnsinnsessenz?«, schlug Ron vor, als Harry sich seinen Tarnumhang über die Schultern schwang.
Harry lachte, und Ron und Hermine sahen noch besorgter aus.
»Glaubt mir«, sagte er. »Ich weiß, was ich tue … oder zumindest …«, er schlenderte zuversichtlich zur Tür, »weiß es Felix.«
Er zog sich den Tarnumhang über den Kopf und ging die Treppe hinunter. Ron und Hermine eilten ihm nach. Am Fuß der Treppe schlüpfte Harry durch die offene Tür.
»Was hattest du denn mit der dort oben zu suchen?«, kreischte Lavender Brown und starrte geradewegs durch Harry hindurch auf Ron und Hermine, die zusammen vom Jungenschlafsaal kamen. Während Harry von ihnen weg durch den Raum stürmte, hörte er Ron hinter sich etwas stottern.
Durch das Porträtloch zu gelangen war einfach; als er darauf zuging, kamen Ginny und Dean gerade herein und Harry konnte zwischen ihnen hindurchschlüpfen. Dabei berührte er versehentlich Ginny.
»Schubs mich bitte nicht, Dean«, sagte sie und klang verärgert. »Lass das endlich mal bleiben, ich komm da sehr gut alleine durch …«
Das Porträt schwang hinter Harry zu, aber er bekam noch mit, wie Dean ihr eine wütende Antwort gab … Harrys Hochgefühl steigerte sich, während er mit zügigen Schritten das Schloss durchquerte. Er brauchte nicht dahinzuschleichen, denn unterwegs begegnete er niemandem, was ihn allerdings nicht im Geringsten überraschte: Heute Abend war er der größte Glückspilz von Hogwarts.
Er hatte keine Ahnung, warum er wusste, dass ein Besuch bei Hagrid jetzt das Richtige war. Es war, als ob der Zaubertrank immer ein paar Schritte des Weges vor ihm erhellte: Er konnte nicht sehen, wo er schließlich landen würde, und auch nicht, wo Slughorn ins Spiel kam, doch er wusste, dass er auf dem richtigen Weg war und am Ende die Erinnerung besitzen würde. Als er zur Eingangshalle gelangte, sah er, dass Filch vergessen hatte, das Schlossportal abzuschließen. Strahlend warf Harry die Türen auf, atmete einen Moment den Duft von frischer Luft und Gras ein und stieg dann die Stufen in die Dämmerung hinab.
Als er die letzte Stufe erreicht hatte, kam ihm der Gedanke, dass es doch sehr angenehm wäre, über die Gemüsebeete zu Hagrid zu gehen. Sie lagen nicht genau auf dem Weg, doch Harry hatte das deutliche Gefühl, dass er dieser Laune folgen sollte, und so lenkte er seine Schritte unverzüglich zu den Gemüsebeeten, wo er zu seiner Freude, doch nicht völlig überrascht, Professor Slughorn im Gespräch mit Professor Sprout vorfand. Harry ging hinter einem niedrigen Steinmäuerchen in Deckung und hörte sich in aller Seelenruhe ihre Unterhaltung an.
»… vielen Dank auch, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Pomona«, sagte Slughorn höflich. »In Fachkreisen geht man fast übereinstimmend davon aus, dass sie am wirksamsten sind, wenn sie in der Dämmerung gepflückt werden.«
»Oh, dem stimme ich vollkommen zu«, sagte Professor Sprout herzlich. »Reicht das für Sie?«
»Völlig, völlig«, erwiderte Slughorn, der, wie Harry sah, einen Arm voller Blattpflanzen hatte. »Da kann jeder meiner Drittklässler ein paar Blätter abbekommen, und falls sie jemand zu lange ziehen lässt, habe ich noch einige in Vorrat … also, einen schönen Abend, und nochmals vielen Dank!«
Professor Sprout machte sich in der einbrechenden Dunkelheit auf den Weg zu ihren Gewächshäusern, und Slughorn lenkte seine Schritte zu der Stelle, wo Harry unsichtbar stand.
Von einem plötzlichen Wunsch ergriffen, sich zu zeigen, riss Harry sich schwungvoll den Tarnumhang herunter.
»Guten Abend, Professor.«
»Beim Barte des Merlin, Harry, Sie haben mich vielleicht erschreckt«, sagte Slughorn, der abrupt stehen blieb und argwöhnisch dreinschaute. »Wie sind Sie aus dem Schloss gekommen?«
»Filch muss wohl vergessen haben, das Portal abzuschließen«, sagte Harry fröhlich und sah erfreut, dass sich Slughorns Miene verfinsterte.
»Den Kerl werde ich melden, der macht sich mehr Sorgen um den Müll als um angemessene Sicherheitsvorkehrungen, wenn Sie mich fragen … aber was suchen Sie hier draußen, Harry?«
»Nun, Sir, es geht um Hagrid«, sagte Harry, der wusste, dass es genau in diesem Moment angebracht war, die Wahrheit zu sagen. »Er ist ziemlich aufgewühlt … aber Sie erzählen es niemandem, Professor? Ich will nicht, dass er Ärger bekommt …«
Slughorns Neugier war offensichtlich geweckt.
»Nun, das kann ich nicht versprechen«, erwiderte er schroff. »Aber ich weiß, dass Dumbledore Hagrid voll und ganz vertraut, daher bin ich sicher, dass er nichts allzu Schreckliches im Schilde führen kann …«
»Also, es geht um diese Riesenspinne, die er seit Jahren hat … sie lebte im Wald … sie konnte sprechen und alles – «
»Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, es gäbe Acromantulas im Wald«, sagte Slughorn leise und blickte hinüber zu dem Meer aus schwarzen Bäumen. »Es stimmt also?«
»Ja«, sagte Harry. »Aber diese eine, Aragog, die erste, die Hagrid je hatte, die ist gestern Nacht gestorben. Er ist am Boden zerstört. Er will jemanden dabeihaben, wenn er sie beerdigt, und ich hab gesagt, dass ich hingeh.«
»Rührend, rührend«, sagte Slughorn gedankenverloren, und seine großen matten Augen waren auf die fernen Lichter von Hagrids Hütte gerichtet. »Aber Acromantula-Gift ist sehr wertvoll … wenn das Tier gerade erst gestorben ist, ist es vielleicht noch nicht ganz ausgetrocknet … natürlich will ich nichts Taktloses tun, wenn Hagrid solchen Kummer hat … aber wenn es einen Weg gäbe, sich etwas davon zu beschaffen … Ich meine, es ist fast unmöglich, an das Gift einer Acromantula zu kommen, solange sie am Leben ist …«
Slughorn schien jetzt mehr mit sich selbst als mit Harry zu reden.
»… scheint mir eine fürchterliche Verschwendung, es nicht abzufüllen … ein halber Liter könnte hundert Galleonen bringen … offen gestanden, mein Gehalt ist nicht hoch …«
Und jetzt sah Harry deutlich, was zu tun war.
»Also«, sagte er mit einem äußerst überzeugenden Zögern, »also, wenn Sie mitkommen wollten, Professor, Hagrid würde sich wahrscheinlich sehr freuen … das wäre ein besserer Abschied für Aragog, wissen Sie …«
»Ja, natürlich«, sagte Slughorn und seine Augen leuchteten jetzt vor Begeisterung. »Wissen Sie was, Harry, wir treffen uns dort unten, und ich bring ein, zwei Fläschchen mit … Wir trinken auf die – nun ja – vielleicht nicht gerade auf die Gesundheit des armen Tieres – aber wir wollen es jedenfalls würdig verabschieden, wenn es dann mal begraben ist. Und ich bind eine andere Krawatte um, die hier ist ein bisschen zu knallig für den Anlass …«
Er wuselte zurück ins Schloss, und Harry eilte los zu Hagrid, hochzufrieden mit sich selbst.
»Du bis' also gekomm'«, krächzte Hagrid, als er die Tür öffnete und Harry unter dem Tarnumhang hervorschlüpfen sah.
»Ja – aber Ron und Hermine konnten nicht«, sagte Harry. »Tut ihnen wirklich Leid.«
»Macht – macht nix … das hätt ihn aber gerührt, dass du da bist, Harry …«
Hagrid schluchzte laut auf. Er hatte sich eine schwarze Armbinde gemacht, offenbar aus einem Lumpen, den er in Stiefelwichse getaucht hatte, und seine Augen waren verweint, rot und verschwollen. Harry tätschelte ihm tröstend den Ellbogen, den höchsten Punkt von Hagrid, den er ohne weiteres erreichen konnte.
»Wo begraben wir ihn?«, fragte er. »Im Wald?«
»Grundgütiger, nein«, sagte Hagrid und wischte sich die tränennassen Augen an seinem Hemdsaum ab. »Die andern Spinnen lassen mich nich mal mehr in die Nähe von ihr'n Netzen, jetz' wo Aragog nich mehr is'. War wohl wirklich nur wegen sei'm Befehl, dass die mich nich gefressen haben! Kannst du dir das vorstellen, Harry?«
Die ehrliche Antwort war »ja«; Harry erinnerte sich peinlich genau an die Szene, als er und Ron der Acromantula gegenübergestanden hatten: Es war ihnen vollkommen klar gewesen, dass Aragog das Einzige war, was die Spinnen davon abhielt, Hagrid zu fressen.
»Gab noch nie 'n Teil vom Wald, in den ich nich gehen konnt!«, sagte Hagrid kopfschüttelnd. »War nich einfach, Aragogs Leiche dort rauszukriegen, kann ich dir sagen – die fressen normalerweise ihre Toten, weiß' du … aber ich wollt, dass er 'ne schöne Beerdigung hat… 'n anständigen Abschied …«
Wieder fing er an zu schluchzen, und Harry tätschelte erneut seinen Ellbogen und sagte dabei (denn der Zaubertrank ließ es als geboten erscheinen): »Professor Slughorn ist mir über den Weg gelaufen, als ich hier runterkam, Hagrid.«
»Kriegst doch keinen Ärger, oder?«, fragte Hagrid und blickte beunruhigt auf. »Du solltest abends nich aus'm Schloss raus, ich weiß, 's is' meine Schuld – «
»Nein, nein, als er hörte, was ich vorhatte, meinte er, er würde gern vorbeikommen und Aragog auch die letzte Ehre erweisen«, sagte Harry. »Er wollte sich nur noch was Passenderes anziehen, glaub ich … und er wollte ein paar Flaschen mitbringen, damit wir zum Andenken an Aragog anstoßen können …«
»Ehrlich?«, sagte Hagrid, offenbar verblüfft und gerührt zugleich. »Das is' – das is' echt nett von ihm, wirklich, und dass er dich nich gemeldet hat, auch. Ich hab bis jetz' nie so richtig viel mit Horace Slughorn zu tun gehabt … aber er kommt und will den alten Aragog verabschieden, ja? Also … das hätt ihm gefall'n, unserm Aragog …«
Was Aragog an Slughorn am meisten gefallen hätte, wäre die reichliche Menge essbaren Fleisches an ihm gewesen, dachte Harry bei sich, doch er ging nur zum hinteren Fenster von Hagrids Hütte, wo sich ihm der ziemlich schreckliche Anblick der gewaltigen toten Spinne darbot, die mit eingeknickten und verhedderten Beinen draußen auf dem Rücken lag.
»Begraben wir ihn hier, Hagrid, in deinem Garten?«
»Gleich hinterm Kürbisbeet, hab ich mir gedacht«, sagte Hagrid mit erstickter Stimme. »Ich hab schon das – du weiß' schon – das Grab geschaufelt. Dachte mir nur, wir könnten noch 'n paar nette Dinge an sei'm Grab sagen – glückliche Erinnerungen, weiß' du – «
Seine Stimme bebte und brach. Es klopfte, und er drehte sich zur Tür, um zu öffnen, und schnäuzte sich dabei in sein großes gepunktetes Taschentuch. Slughorn trat eilends über die Schwelle, er hatte mehrere Flaschen in den Armen und trug eine triste schwarze Krawatte.
»Hagrid«, sagte er mit tiefer, feierlicher Stimme. »Ich habe von Ihrem Verlust gehört, es tut mir unendlich Leid.«
»Das is' sehr nett von Ihnen«, sagte Hagrid. »Vielen Dank. Und danke auch, dass Sie Harry ohne Nachsitzen ham davonkommen lassen …«
»Wär mir nicht im Traum eingefallen«, entgegnete Slughorn. »Trauriger Abend, trauriger Abend … wo ist das arme Geschöpf?«
»Dort draußen«, sagte Hagrid mit zittriger Stimme. »Sollen wir – sollen wir es jetz' tun?«
Die drei gingen nach hinten hinaus in den Garten. Der Mond schimmerte bleich durch die Bäume, und zusammen mit dem Licht, das durch Hagrids Fenster fiel, beleuchtete er Aragogs Leiche, die am Rand einer mächtigen Grube lag, neben einem drei Meter hohen Hügel frisch ausgehobener Erde.
»Großartig«, sagte Slughorn und näherte sich dem Kopf der Spinne, wo acht milchige Augen leer in den Himmel starrten und zwei riesige krumme Greifer reglos im Mondlicht glänzten. Harry meinte Flaschen klirren zu hören, als Slughorn sich über die Greifer beugte und offenbar den gewaltigen haarigen Kopf untersuchte.
»'s is' nich so, dass jeder zu schätzen weiß, wie schön sie sin'«, sagte Hagrid von hinten zu Slughorn, und Tränen quollen aus seinen faltigen Augenwinkeln. »Wusste gar nich, dass Sie an solchen Geschöpfen wie Aragog interessiert sin', Horace.«
»Interessiert? Mein lieber Hagrid, ich verehre sie«, sagte Slughorn und trat von der Leiche zurück. Harry sah das Glitzern einer Flasche, ehe sie unter seinem Umhang verschwand, doch Hagrid, der sich erneut die Augen wischte, bemerkte nichts. »Nun … sollen wir mit dem Begräbnis beginnen?«
Hagrid nickte und ging nach vorn. Er wuchtete die riesige Spinne in seine Arme und rollte sie mit einem gewaltigen Ächzen in die dunkle Grube. Mit einem ziemlich scheußlichen dumpfen Knirschen schlug sie auf dem Boden auf. Hagrid fing wieder zu weinen an.
»Natürlich ist es schwierig für Sie, der ihn am besten gekannt hat«, sagte Slughorn, der wie Harry nicht höher als bis zu Hagrids Ellbogen reichte, ihn aber dennoch tätschelte. »Vielleicht sollte ich ein paar Worte sagen?«
Er musste Aragog eine Menge hochwertiges Gift abgezapft haben, dachte Harry, denn Slughorn zeigte ein zufriedenes Grinsen, als er zum Rand der Grube trat und mit langsamer, eindrucksvoller Stimme sagte: »Lebe wohl, Aragog, König der Arachniden, dessen lange und treue Freundschaft jene, die dich kannten, nie vergessen werden! Wird dein Körper auch zugrunde gehen, so verweilt doch dein Geist in den stillen, unter Gespinsten verborgenen Winkeln deiner Waldheimat. Möge deine vieläugige Nachkommenschaft allzeit gedeihen und deinen Freunden unter den Menschen Trost beschieden sein angesichts des Verlustes, den sie erlitten haben.«
»Das war … das war … wunderschön!«, heulte Hagrid und brach heftiger weinend denn je auf dem Komposthaufen zusammen.
»Aber, aber«, sagte Slughorn und schwang seinen Zauberstab, worauf der riesige Erdhaufen in die Höhe stieg und dann mit einer Art gedämpftem Rumpeln auf die tote Spinne fiel und einen sanften Hügel bildete. »Kommt, wir gehen rein und trinken was. Gehen Sie auf seine andere Seite, Harry … genau … hoch mit Ihnen, Hagrid … prima …«
Sie setzten Hagrid auf einem Stuhl am Tisch ab. Fang, der während der Beerdigung lauernd in seinem Korb gelegen hatte, kam nun sachte zu ihnen hergetrottet und legte seinen schweren Kopf wie üblich in Harrys Schoß. Slughorn entkorkte eine der Weinflaschen, die er mitgebracht hatte.
»Ich hab sie allesamt auf Gift testen lassen«, versicherte er Harry, goss den Großteil der ersten Flasche in einen von Hagrids eimergroßen Bechern und reichte ihn Hagrid. »Hab einen Hauselfen jede Flasche probieren lassen, nach dem, was Ihrem armen Freund Rupert zugestoßen ist.«
Harry sah vor seinem inneren Auge Hermines Gesichtsausdruck, sollte sie je von diesem Missbrauch von Hauselfen erfahren, und beschloss, es ihr gegenüber nie zu erwähnen.
»Einer für Harry …«, sagte Slughorn und teilte eine zweite Flasche auf zwei Becher auf, »… und einer für mich. Nun denn«, er hob den Becher hoch, »auf Aragog.«
»Aragog«, sagten Harry und Hagrid gemeinsam.
Slughorn und Hagrid nahmen kräftige Züge. Harry jedoch, dem Felix Felicis den weiteren Lauf der Dinge erhellte, wusste, dass er nicht trinken durfte, also tat er nur so, als würde er einen Schluck nehmen, und stellte den Becher dann wieder auf dem Tisch vor ihm ab.
»Ich hatt' ihn schon als Ei, wissen Sie«, sagte Hagrid kummervoll. »Winziges kleines Ding, als er geschlüpft is'. Etwa so groß wie 'n Pekinese.«
»Süß«, sagte Slughorn.
»Hab ihn damals in 'nem Schrank oben in der Schule gehalten, bis … na ja …«
Hagrids Gesicht verfinsterte sich und Harry wusste, warum: Tom Riddle hatte den Plan geschmiedet, Hagrid aus der Schule werfen zu lassen, ihm wurde angelastet, die Kammer des Schreckens geöffnet zu haben. Slughorn jedoch schien nicht zuzuhören; er blickte hoch zur Decke, von der mehrere Messingtöpfe herabhingen sowie eine lange seidene Strähne helles weißes Haar.
»Das ist doch nicht etwa Einhornhaar, Hagrid?«
»O doch«, sagte Hagrid gleichmütig. »Das reißt aus ihren Schweifen raus, man findet es an Zweigen und so im Wald, verstehn Sie …«
»Aber mein lieber Mann, wissen Sie, wie viel das wert ist?«
»Ich brauch's, um Bandagen und so fest zu schnür'n, wenn eins von den Tieren sich verletzt«, sagte Hagrid achselzuckend. »Das ist furch'bar praktisch … reißt nich, verstehn Sie.«
Slughorn nahm noch einen kräftigen Schluck aus seinem Becher, während seine Augen nun aufmerksam durch den Raum wanderten und, wie Harry wusste, nach weiteren Schätzen suchten, die er womöglich in einen üppigen Vorrat an eichenfassgereiftem Met, kandierter Ananas und samtenen Smokingjacken verwandeln konnte. Er füllte Hagrids und seinen eigenen Becher auf, stellte Hagrid Fragen über die Geschöpfe, die heutzutage im Wald lebten, und wollte wissen, wie er es schaffte, sich um alle zu kümmern. Vom Wein und von Slughorns schmeichelhaftem Interesse beflügelt, hörte Hagrid auf, sich die Augen zu wischen, und fing nun glücklich an, in aller Ausführlichkeit die Bowtruckle-Zucht zu erläutern.
In diesem Moment versetzte der Felix Felicis Harry einen kleinen Stupser, und Harry bemerkte, dass der Weinvorrat, den Slughorn mitgebracht hatte, rasch zur Neige ging. Harry hatte es bisher noch nie geschafft, einen Nachfüllzauber auszuführen, ohne die Beschwörungsformel laut auszusprechen, doch der Gedanke, dass er ihn heute Abend nicht schaffen könnte, war lächerlich: Tatsächlich grinste Harry verstohlen, als er, unbemerkt von Hagrid und Slughorn (die jetzt Geschichten über den illegalen Handel mit Dracheneiern austauschten), seinen Zauberstab unter dem Tisch auf die immer leerer werdenden Flaschen richtete, die sich sofort wieder auffüllten.
Nach etwa einer Stunde begannen Hagrid und Slughorn sich zügellos zuzuprosten: auf Hogwarts, auf Dumbledore, auf Elfenwein und auf –
»Harry Potter!«, brüllte Hagrid und schüttete sich beim Austrinken etwas von seinem vierzehnten Becher Wein übers Kinn.
»Jawohl«, rief Slughorn ein wenig dumpf, »Parry Otter, der auserwählte Junge, der – also – irgendwie so jedenfalls«, nuschelte er und leerte ebenfalls seinen Becher.
Wenig später kamen Hagrid erneut die Tränen, und er drängte Slughorn den ganzen Einhornschweif auf, der ihn unter Rufen wie »Auf die Freundschaft! Auf die Großzügigkeit! Auf zehn Galleonen pro Haar!« einsteckte.
Und noch eine Weile später saßen Hagrid und Slughorn Seite an Seite, die Arme umeinander geschlungen, und sangen ein langsames trauriges Lied über einen sterbenden Zauberer namens Odo.
»Aaargh, die Guten sterben immer früh«, murmelte Hagrid, und während Slughorn weiter den Refrain schmetterte, sank er leicht schielend auf dem Tisch zusammen. »Mein Dad war noch viel zu jung zum Sterben … genau wie deine Mum un' dein Dad, Harry …«
Erneut quollen große dicke Tränen aus Hagrids faltigen Augenwinkeln; er packte Harrys Arm und schüttelte ihn.
»… bester Zauberer un' beste Hexe ihrer Zeit, die ich nie kenn' gelernt hab … schrecklich, so was … schrecklich …« Slughorn sang wehklagend:
»Und Odo, den Helden, sie trugen ihn heim
an den Ort seiner Kindheit zurück
sie legten ihn nieder mit verdrehtem Hut,
und sein Stab war entzwei, ohne Glück.«
»… schrecklich«, grunzte Hagrid, und sein großer zotteliger Kopf rollte ihm seitwärts auf die Arme und er schlief heftig schnarchend ein.
»Verzeihung«, sagte Slughorn hicksend. »Mein Gesang ist zum Davonlaufen.«
»Hagrid meinte nicht Ihren Gesang«, sagte Harry leise. »Er meinte, dass meine Mum und mein Dad gestorben sind.«
»Oh«, machte Slughorn und unterdrückte einen heftigen Rülpser. »Ach je. Ja, das war – war schrecklich, in der Tat. Schrecklich … schrecklich …«
Er schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte, und behalf sich damit, ihre Becher nachzufüllen.
»Ich – ich denke nicht, dass Sie sich daran erinnern, Harry?«, fragte er peinlich berührt.
»Nein – also, ich war erst ein Jahr alt, als sie starben«, sagte Harry und starrte auf die Flamme der Kerze, die unter Hagrids mächtigen Schnarchern flackerte. »Aber ich hab seither ziemlich viel darüber rausgefunden, was passiert ist. Mein Dad ist als Erster gestorben. Haben Sie das gewusst?«
»Ich – nein«, erwiderte Slughorn mit gedämpfter Stimme.
»Ja … Voldemort hat ihn umgebracht und ist dann über seine Leiche gestiegen, auf meine Mutter zu«, sagte Harry.
Slughorn erschauderte heftig, schien jedoch nicht fähig zu sein, seinen entsetzten Blick von Harrys Gesicht abzuwenden.
»Er wollte, dass sie aus dem Weg geht«, sagte Harry unbarmherzig. »Er hat mir gesagt, dass sie nicht hätte sterben müssen. Er wollte nur mich. Sie hätte fliehen können.«
»O Himmel«, hauchte Slughorn. »Sie hätte … es wäre nicht … das ist furchtbar …«
»Ja, nicht wahr?«, sagte Harry beinahe flüsternd. »Aber sie hat sich nicht vom Fleck gerührt. Dad war schon tot, aber sie wollte nicht, dass ich auch sterbe. Sie hat es damit versucht, Voldemort anzuflehen … aber er hat nur gelacht..«
»Genug!«, sagte Slughorn plötzlich und hob eine zitternde Hand. »Wirklich, mein lieber Junge, es reicht … ich bin ein alter Mann … ich muss mir nicht anhören … ich will mir nicht anhören …«
»Ich hab ja ganz vergessen«, schwindelte Harry, von Felix Felicis geleitet, »Sie haben sie gemocht, nicht wahr?«
»Sie gemocht?«, sagte Slughorn, und von neuem schwammen seine Augen in Tränen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand, der sie kennen gelernt hat, sie nicht mochte … sehr mutig … sehr lustig … es war das Schrecklichste …«
»Aber ihrem Sohn wollen Sie nicht helfen«, sagte Harry. »Sie hat ihr Leben für mich gegeben, aber Sie wollen mir keine Erinnerung geben.«
Hagrids polterndes Schnarchen erfüllte die Hütte. Harry blickte unverwandt in Slughorns tränenfeuchte Augen. Der Zaubertrankmeister schien außerstande wegzusehen.
»Sagen Sie das nicht«, flüsterte er. »Es geht nicht um … wenn es Ihnen helfen würde, natürlich … aber es hat keinerlei Nutzen …«
»Das hat es sehr wohl«, sagte Harry deutlich. »Dumbledore braucht Informationen. Ich brauche Informationen.«
Er wusste, dass er auf der sicheren Seite war: Felix flüsterte ihm ein, dass Slughorn sich am Morgen nicht mehr daran erinnern würde. Harry sah Slughorn direkt in die Augen und beugte sich ein wenig vor.
»Ich bin der Auserwählte. Ich muss ihn töten. Ich brauche diese Erinnerung.«
Slughorn wurde blasser als je zuvor; auf seiner glänzenden Stirn glitzerte der Schweiß.
»Sie sind der Auserwählte?«
»Natürlich bin ich das«, sagte Harry ruhig.
»Aber dann … mein lieber Junge … Sie verlangen eine Menge … Sie verlangen von mir genau genommen, dass ich Ihnen bei Ihrem Versuch helfe, ihn zu vernich-«
»Wollen Sie den Zauberer, der Lily Evans getötet hat, nicht loswerden?«
»Harry, Harry, natürlich will ich das, aber – «
»Sie haben Angst, dass er herausfindet, dass Sie mir geholfen haben?«
Slughorn sagte nichts; die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Seien Sie mutig wie meine Mutter, Professor …«
Slughorn hob eine dickliche Hand und drückte sich die zitternden Finger auf den Mund; einen Moment lang sah er aus wie ein gewaltiges Riesenbaby.
»Ich bin nicht stolz …«, flüsterte er durch seine Finger. »Ich schäme mich für das – für das, was diese Erinnerung zeigt … Ich glaube, ich habe an diesem Tag womöglich großen Schaden angerichtet …«
»Sie würden alles wieder gutmachen, was Sie getan haben, wenn Sie mir die Erinnerung geben«, sagte Harry. »Es wäre eine sehr mutige und edle Tat.«
Hagrid zuckte im Schlaf und schnarchte weiter. Slughorn und Harry starrten einander über die tropfende Kerze hinweg an. Ein langes, langes Schweigen trat ein, aber Felix Felicis sagte Harry, dass er es nicht unterbrechen, sondern abwarten solle.
Dann, ganz langsam, steckte Slughorn die Hand in seine Tasche und zog seinen Zauberstab hervor. Mit der anderen Hand langte er in seinen Umhang und holte eine kleine leere Flasche heraus. Ohne den Blick von Harrys Augen zu wenden, berührte Slughorn mit der Spitze des Zauberstabs seine Schläfe und nahm ihn wieder weg, wobei auch ein langer, silberner Erinnerungsfaden weggezogen wurde, der an der Zauberstabspitze haftete. Die Erinnerung wurde immer länger und länger, bis sie abriss und silbrig hell am Zauberstab baumelte. Slughorn ließ sie in die Flasche hinuntergleiten, wo sie sich zusammenrollte und dann wirbelnd wie Gas ausbreitete. Mit zittriger Hand verkorkte er die Flasche und reichte sie dann Harry über den Tisch.
»Vielen Dank, Professor.«
»Sie sind ein guter Junge«, sagte Professor Slughorn und Tränen kullerten ihm über die dicken Wangen in seinen Walrossbart. »Und Sie haben ihre Augen … denken Sie nur nicht zu schlecht über mich, wenn Sie es gesehen haben …«
Und auch er legte den Kopf auf die Arme, seufzte tief und schlief ein.