123303.fb2 Harry Potter und der Halbblutprinz - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 24

Harry Potter und der Halbblutprinz - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 24

Sectumsempra

Erschöpft, aber hocherfreut über das, was er in der Nacht geschafft hatte, berichtete Harry am nächsten Morgen Ron und Hermine während der Zauberkunststunde alles, was geschehen war (nachdem er die Leute in ihrem nächsten Umkreis zunächst einmal mit dem Muffliato-Zauber belegt hatte). Die beiden waren gebührend beeindruckt davon, wie er es geschafft hatte, Slughorn die Erinnerung abzuschwatzen, und verfielen geradezu in Ehrfurcht, als er ihnen von Voldemorts Horkruxen und Dumbledores Versprechen erzählte, Harry mitzunehmen, falls er einen weiteren finden sollte.

»Wow«, sagte Ron, als Harry ihnen endlich alles erzählt hatte; Ron schwang völlig geistesabwesend seinen Zauberstab in Richtung Decke, ohne im Geringsten darauf zu achten, was er tat. »Wow. Du wirst wirklich mit Dumbledore gehen … und dann wollt ihr es zerstören … wow.«

»Ron, du lässt es schneien«, sagte Hermine geduldig, packte ihn am Handgelenk und bog seinen Zauberstab in eine andere Richtung, während von der Decke nun tatsächlich große weiße Flocken fielen. Wie Harry bemerkte, sah Lavender Brown wütend und mit sehr roten Augen von einem Nachbartisch aus zu Hermine herüber, und Hermine ließ sofort Rons Arm los.

»Oh, ja«, sagte Ron und blickte irgendwie überrascht auf seine Schultern hinunter. »Tut mir Leid … sieht aus, als hätten wir jetzt alle furchtbare Schuppen …«

Er wischte ein wenig von dem falschen Schnee von Hermines Schulter. Lavender brach in Tränen aus. Ron sah enorm schuldbewusst drein und wandte ihr den Rücken zu.

»Wir haben uns getrennt«, sagte er aus dem Mundwinkel zu Harry. »Gestern Abend. Als sie gesehen hat, wie ich mit Hermine aus dem Schlafsaal kam. Dich konnte sie natürlich nicht sehen, also hat sie gedacht, wir wären nur zu zweit gewesen.«

»Oh«, sagte Harry. »Na ja – du hast ja nichts dagegen, dass es vorbei ist, oder?«

»Nein«, gab Ron zu. »Es war ziemlich übel, als sie geschrien hat, aber wenigstens musste ich nicht selbst Schluss machen.«

»Feigling«, sagte Hermine, wirkte allerdings amüsiert. »Tja, das war ein rundum schlechter Abend für die Liebe. Ginny und Dean haben sich auch getrennt, Harry.«

Harry meinte, dass bei diesen Worten ein ziemlich wissender Ausdruck in ihren Augen lag, doch sie konnte auf keinen Fall wissen, dass seine Eingeweide plötzlich Conga tanzten. Mit möglichst unbewegtem Gesicht und in möglichst gleichmütigem Ton fragte er: »Wie das?«

»Oh, irgendwas völlig Albernes … sie sagte, er würde ständig versuchen, ihr durchs Porträtloch zu helfen, als ob sie nicht selbst reinklettern könnte … aber bei denen geht's schon ewig auf und ab.«

Harry warf einen Blick hinüber zu Dean auf der anderen Seite des Klassenzimmers. Er machte tatsächlich einen unglücklichen Eindruck.

»Das bringt dich natürlich ein wenig in die Zwickmühle, oder?«, sagte Hermine.

»Wie meinst du das?«, fragte Harry rasch.

»Wegen der Quidditch-Mannschaft«, sagte Hermine. »Wenn Ginny und Dean nicht miteinander reden …«

»Oh – o ja«, erwiderte Harry.

»Flitwick«, sagte Ron warnend. Der winzig kleine Zauberkunstmeister sprang auf sie zu, und Hermine war die Einzige, die es geschafft hatte, Essig in Wein zu verwandeln; ihr Glaskolben war voll dunkler karmesinroter Flüssigkeit, während der Inhalt von Harrys und Rons Kolben immer noch trübbraun war.

»Nun aber, Jungs«, quiekte Professor Flitwick vorwurfsvoll. »Ein bisschen weniger schwätzen, ein bisschen mehr Bewegung … Zeigen Sie mir mal, wie Sie es machen …«

Sie hoben gleichzeitig ihre Zauberstäbe, konzentrierten sich mit aller Kraft und richteten sie auf ihre Glaskolben. Harrys Essig wurde zu Eis; Rons Kolben explodierte.

»Ja … als Hausaufgabe …«, sagte Professor Flitwick, als er wieder unter dem Tisch auftauchte und sich Glasscherben aus der Spitze seines Hutes zog, »üben.«

Nach Zauberkunst hatten sie eine ihrer seltenen gemeinsamen Freistunden und gingen miteinander zum Gemeinschaftsraum zurück. Ron schien ausgesprochen erleichtert über das Ende seiner Beziehung mit Lavender, und auch Hermine wirkte vergnügt, obwohl sie auf die Frage, weshalb sie so grinse, nur sagte: »Ist ein schöner Tag heute.« Offenbar hatte keiner der beiden bemerkt, dass in Harrys Kopf ein erbitterter Kampf tobte:

Sie ist Rons Schwester.

Aber sie hat mit Dean Schluss gemacht!

Sie ist trotzdem Rons Schwester.

Ich bin sein bester Freund!

Das macht es nur noch schlimmer.

Wenn ich vorher mit ihm reden würde –

Er würde dir eine verpassen.

Und wenn es mir egal ist?

Er ist dein bester Freund!

Harry nahm kaum wahr, dass sie durch das Porträtloch in den sonnigen Gemeinschaftsraum kletterten, und registrierte nur am Rande die kleine Gruppe Siebtklässler, die sich hier versammelt hatte, bis Hermine rief: »Katie! Du bist wieder da! Alles okay mit dir?«

Harry riss die Augen auf: Es war tatsächlich Katie Bell, offenbar völlig gesund und umringt von ihren begeisterten Freunden.

»Mir geht's richtig gut!«, sagte sie glücklich. »Sie haben mich am Montag aus dem St. Mungo entlassen, ich war ein paar Tage zu Hause bei Mum und Dad und bin dann heute Morgen wieder hierher gekommen. Leanne hat mir gerade von McLaggen und dem letzten Spiel erzählt, Harry …«

»Ja«, sagte Harry, »also, wenn du jetzt wieder dabei bist und Ron fit ist, haben wir eine ziemlich gute Chance, die Ravenclaws vom Platz zu fegen, und das bedeutet, wir könnten den Pokal immer noch kriegen. Hör mal, Katie …«

Er musste ihr die Frage sofort stellen; seine Neugier vertrieb vorübergehend sogar Ginny aus seinen Gedanken. Er senkte die Stimme, als Katies Freunde anfingen, ihre Sachen einzupacken; offenbar waren sie spät dran für Verwandlung.

»… dieses Halsband … kannst du dich jetzt erinnern, wer es dir gegeben hat?«

»Nein«, sagte Katie und schüttelte bedauernd den Kopf. »Alle haben mich gefragt, aber ich habe keine Ahnung. Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass ich in den Drei Besen ins Damenklo gegangen bin.«

»Du bist also eindeutig ins Klo reingegangen?«, sagte Hermine.

»Jedenfalls weiß ich, dass ich die Tür aufgestoßen habe«, erwiderte Katie, »daher denke ich, wer immer mir den Imperius auf den Hals gejagt hat, muss direkt dahinter gestanden haben. Aber danach setzt mein Gedächtnis komplett aus, bis vor etwa zwei Wochen im St. Mungo. Hört mal, ich muss mich beeilen, ich traue es McGonagall glatt zu, dass sie mich Sätze schreiben lässt, auch wenn heute mein erster Tag ist …«

Sie nahm rasch ihre Tasche und ihre Bücher und eilte ihren Freunden hinterher, während Harry, Ron und Hermine sich an einen Tisch am Fenster setzten und darüber nachdachten, was Katie ihnen gesagt hatte.

»Also muss es ein Mädchen oder eine Frau gewesen sein, die Katie das Halsband gegeben hat«, sagte Hermine, »weil sie ja auf dem Damenklo war.«

»Oder jemand, der aussah wie ein Mädchen oder eine Frau«, sagte Harry. »Vergiss nicht, in Hogwarts gab es einen Kessel voller Vielsaft-Trank. Wir wissen, dass etwas davon gestohlen wurde …«

Vor seinem geistigen Auge sah er eine Parade von Crabbes und Goyles vorbeiziehen, alle in Mädchen verwandelt.

»Ich glaube, ich nehme noch einen kräftigen Schluck Felix«, sagte Harry, »und probier's noch mal mit dem Raum der Wünsche.«

»Das wäre völlige Zaubertrankverschwendung«, sagte Hermine nachdrücklich und legte ihr Exemplar von Zaubermanns Silbentabelle beiseite, das sie gerade aus ihrer Tasche geholt hatte. »Mit Glück kommst du nur bis zu einem bestimmten Punkt, Harry Die Sache mit Slughorn war anders; du hattest ja schon immer die Fähigkeit, ihn zu überzeugen, du musstest dem Ganzen nur einen kleinen Schubs geben. Aber mit Glück allein kommst du nicht durch einen mächtigen Bann. Verschwend bloß nicht den Rest von diesem Zaubertrank! Du wirst alles Glück der Welt brauchen, wenn Dumbledore dich mitnimmt …« Sie hatte ihre Stimme gesenkt und geflüstert.

»Könnten wir nicht noch mehr davon machen?«, fragte Ron Harry, ohne auf Hermine einzugehen. »Wär doch toll, einen Vorrat davon zu haben … schau doch mal in das Buch …«

Harry zog sein Zaubertränke für Fortgeschrittene aus der Tasche und sah unter Felix Felicis nach.

»Mist, das ist furchtbar kompliziert«, sagte er und überflog die Zutatenliste. »Und es dauert sechs Monate … man muss ihn ziehen lassen …«

»Typisch«, sagte Ron.

Harry wollte sein Buch gerade wieder weglegen, als ihm auffiel, dass eine Seite umgeknickt war; er schlug sie auf und sah den Sectumsempra-Zauber, den er vor einigen Wochen markiert hatte, und darunter die Worte »Gegen Feinde«. Er hatte noch immer nicht herausgefunden, was er bewirkte, vor allem, weil er ihn nicht vor Hermine testen wollte, doch er überlegte, ob er ihn nicht an McLaggen ausprobieren sollte, wenn er das nächste Mal unbemerkt von hinten auf ihn zukam.

Der einzige Mensch, der nicht sonderlich erfreut war, Katie Bell wieder in der Schule zu sehen, war Dean Thomas, da man ihn nun nicht mehr brauchen würde, um als Ersatz für sie Jäger zu spielen. Er nahm den Schlag recht stoisch hin, als Harry es ihm sagte, brummte nur und zuckte die Achseln, doch als Harry wegging, hatte er eindeutig das Gefühl, dass Dean und Seamus aufrührerisch hinter seinem Rücken tuschelten.

Während der nächsten zwei Wochen fanden die besten Quidditch-Trainings statt, seit Harry Kapitän geworden war. Seine Mannschaft war so froh, McLaggen los zu sein, so glücklich, Katie endlich wiederzuhaben, dass sie ganz hervorragend flog.

Ginny schien die Trennung von Dean überhaupt nicht aus der Fassung gebracht zu haben. Im Gegenteil, sie war das Herz und die Seele der Mannschaft. Alle amüsierten sich köstlich, wenn sie Ron nachahmte, wie er, wenn ein Quaffel angeflogen kam, ängstlich vor den Torpfosten auf- und abhüpfte, oder Harry, wie er McLaggen Befehle zugebrüllt hatte, ehe er dann knallhart k. o. geschlagen wurde. Harry, der genauso lachte wie die andern, war froh, einen harmlosen Grund zu haben, Ginny anzusehen; er hatte sich während des Trainings noch mehrere Klatscher-Verletzungen zugezogen, weil er nicht Ausschau nach dem Schnatz gehalten hatte.

Noch immer tobte der Kampf in seinem Kopf: Ginny oder Ron? Manchmal dachte er, dass es Ron nach der Sache mit Lavender vielleicht nicht allzu sehr stören würde, wenn er sich mit Ginny verabreden würde, doch dann erinnerte er sich an Rons Gesichtsausdruck, als er sie Dean hatte küssen sehen, und er war sicher, dass Ron es als gemeinen Verrat betrachten würde, wenn Harry auch nur ihre Hand hielte …

Doch Harry konnte einfach nicht anders, er musste mit Ginny reden, mit ihr lachen, mit ihr zusammen vom Training zurückschlendern; sosehr er auch Gewissensbisse hatte, ertappte er sich dennoch dabei, dass er überlegte, wie er es am besten hinbekam, mit ihr allein zu sein: Ideal wäre gewesen, wenn Slughorn wieder eine seiner kleinen Partys gegeben hätte, denn dort wäre Ron nicht dabei – aber leider schien Slughorn die Sache mit den Partys aufgegeben zu haben. Ein- oder zweimal dachte Harry darüber nach, ob er nicht Hermine um Hilfe bitten sollte, doch er meinte, ihren selbstgefälligen Gesichtsausdruck nicht ertragen zu können; er glaubte, ihn manchmal bei ihr zu bemerken, wenn sie sah, wie er Ginny anstarrte oder über ihre Witze lachte. Und um die Sache noch komplizierter zu machen, nagte auch die Sorge an ihm, dass, wenn er es nicht täte, sich gewiss bald ein anderer mit Ginny verabreden würde: Er und Ron stimmten wenigstens darin überein, dass sie beliebter war, als ihr gut tat.

Alles in allem wurde die Versuchung, noch einen Schluck Felix Felicis zu nehmen, mit jedem Tag stärker, denn das war doch sicher eine Angelegenheit, der man »einen kleinen Schubs geben« musste, wie Hermine es ausgedrückt hatte? Die milden Tage im Mai glitten sanft dahin, und jedes Mal, wenn Harry Ginny sah, schien Ron an seiner Seite zu sein. Harry merkte, dass er sich regelrecht nach einem Glückstreffer sehnte, der Ron irgendwie dazu brachte, zu erkennen, dass ihn nichts mehr freuen würde, als wenn sein bester Freund und seine Schwester sich ineinander verliebten und wenn er sie für mehr als ein paar Sekunden allein ließe. Doch während das letzte Quidditch-Spiel der Saison näher rückte, schien beides aussichtslos; Ron wollte mit Harry ständig über die Taktik reden und hatte kaum etwas anderes im Kopf.

Ron war, was das betraf, nicht der Einzige; in der ganzen Schule herrschte brennendes Interesse am Spiel Gryffindor – Ravenclaw, denn die Begegnung würde die noch völlig offene Meisterschaft entscheiden. Wenn die Gryffindors Ravenclaw mit dreihundert Punkten Vorsprung schlugen (eine hohe Vorgabe, und doch hatte Harry seine Leute nie besser fliegen sehen), dann würden sie die Meisterschaft gewinnen. Wenn sie mit weniger als dreihundert Punkten Vorsprung gewannen, würden sie nach Ravenclaw Zweiter werden; wenn sie mit hundert Punkten Abstand verloren, würden sie hinter Hufflepuff Dritter werden, und wenn sie noch höher verloren, würden sie auf dem vierten Platz landen, und niemand, überlegte Harry, würde ihn jemals vergessen lassen, dass er es gewesen war, der die Gryffindors als Kapitän zum ersten Mal seit zweihundert Jahren mit einer Niederlage ans Tabellenende geführt hatte.

Im Vorfeld dieses entscheidenden Spiels gab es das übliche Geplänkel: Die Schüler der rivalisierenden Häuser versuchten die gegnerischen Mannschaften in den Korridoren einzuschüchtern; gehässige Sprechchöre über einzelne Spieler wurden laut geübt, wenn sie vorübergingen; die Spieler selbst stolzierten herum und genossen all die Aufmerksamkeit, oder sie stürzten zwischen den Unterrichtsstunden aufs Klo und übergaben sich. Irgendwie hatte sich das Spiel in Harrys Kopf fest mit dem Erfolg oder dem Scheitern seiner Pläne mit Ginny verwoben. Das Gefühl ließ ihn nicht los, dass der ausgelassene Jubel und eine nette laute Party nach einem Spiel, das sie mit mehr als dreihundert Punkten Abstand gewonnen hatten, vielleicht genauso gut wirken würden wie ein herzhafter Schluck Felix Felicis.

Inmitten all seiner Vorbereitungen hatte Harry sein anderes Ziel nicht vergessen: herauszufinden, was Malfoy im Raum der Wünsche ausheckte. Er suchte unentwegt die Karte des Rumtreibers ab, und da er Malfoy oft nicht darauf entdecken konnte, kam er zu dem Schluss, dass er immer noch viel Zeit dort verbrachte. Obwohl Harry allmählich die Hoffnung verlor, dass er es jemals schaffen würde, in den Raum zu gelangen, versuchte er es, wann immer er in der Nähe war, doch wie er seinen Wunsch auch formulierte, die Wand blieb beharrlich türlos.

Wenige Tage vor dem Spiel gegen Ravenclaw befand sich Harry allein auf dem Weg vom Gemeinschaftsraum hinunter zum Abendessen, da Ron ins nächste Klo gestürmt war, um sich wieder einmal zu übergeben, und Hermine eilends verschwunden war, um Professor Vektor wegen eines Fehlers aufzusuchen, den sie möglicherweise in ihrem letzten Arithmantikaufsatz gemacht hatte. Eher aus Gewohnheit machte Harry seinen üblichen Umweg durch den Korridor im siebten Stock und überprüfte unterwegs die Karte des Rumtreibers. Im ersten Moment konnte er Malfoy nirgends finden und nahm an, dass er tatsächlich wieder im Raum der Wünsche sein musste, doch dann sah er Malfoys winziges beschriftetes Pünktchen in einem Jungenklo ein Stockwerk tiefer, nicht in Gesellschaft von Crabbe und Goyle, sondern bei der Maulenden Myrte.

Harry hörte erst auf, diese unwahrscheinliche Zusammenstellung anzustarren, als er geradewegs gegen eine Rüstung stieß. Das laute Scheppern riss ihn aus seinen Träumen; er machte sich rasch davon, aus Furcht, dass Filch auftauchen könnte, jagte die Marmortreppe hinunter und den Korridor einen Stock tiefer entlang. Als er das Klo erreicht hatte, legte er sein Ohr an die Tür. Er konnte nichts hören. Ganz leise drückte er die Tür auf.

Draco Malfoy stand mit dem Rücken zur Tür, die Hände seitlich an das Waschbecken geklammert, den weißblonden Kopf vornübergebeugt.

»Nicht doch«, ertönte die mitleidige Stimme der Maulenden Myrte aus einer der Kabinen. »Nicht doch … sag mir, was dir fehlt … ich kann dir helfen …«

»Keiner kann mir helfen«, sagte Malfoy. Sein ganzer Körper bebte. »Ich kann es nicht tun … ich kann nicht … es wird nicht funktionieren … und wenn ich es nicht bald mache … dann will er mich umbringen …«

Und mit einem gewaltigen Schreck, der ihm eiskalt in die Glieder fuhr, wurde Harry bewusst, dass Malfoy weinte – tatsächlich weinte –, Tränen strömten über sein bleiches Gesicht und fielen in das schmutzige Becken. Malfoy keuchte und schluckte, und dann blickte er hoch in den gesprungenen Spiegel und erschauderte heftig, als er Harry sah, der ihn über seine Schulter anstarrte.

Malfoy wirbelte herum und zog seinen Zauberstab. Instinktiv zückte Harry seinen eigenen. Malfoys Fluch verfehlte Harry um Zentimeter und ließ die Lampe an der Wand neben ihm zersplittern; Harry warf sich zur Seite, dachte Levicorpus! und schnippte mit seinem Zauberstab, doch Malfoy blockierte den Fluch und hob seinen Zauberstab, um einen weiteren –

»Nein! Nein! Hört auf damit!«, kreischte die Maulende Myrte, und ihre Stimme hallte laut durch den gefliesten Raum. »Aufhören! AUFHÖREN!«

Es gab einen lauten Knall und der Abfalleimer hinter Harry explodierte; Harry versuchte einen Beinklammer-Fluch, der an der Wand hinter Malfoys Ohr abprallte und den Spülkasten unter der Maulenden Myrte zerschmetterte, die laut aufschrie; Wasser strömte überallhin, und Harry rutschte aus, während Malfoy mit verzerrtem Gesicht schrie: »Cruci-«

»SECTUMSEMPRA!«, brüllte Harry und schwenkte, am Boden liegend, wild seinen Zauberstab.

Blut spritzte aus Malfoys Gesicht und Brust, als wäre er mit einem unsichtbaren Schwert aufgeschlitzt worden. Er taumelte rückwärts und brach mit einem gewaltigen Spritzer auf dem unter Wasser stehenden Boden zusammen, und sein Zauberstab fiel ihm aus der schlaffen rechten Hand.

»Nein –«, keuchte Harry.

Rutschend und schwankend kam Harry auf die Beine und stürzte auf Malfoy zu, der jetzt leuchtend scharlachrot im Gesicht war und mit den weißen Händen zittrig über seine bluttriefende Brust tastete.

»Nein – das wollte – «

Harry wusste nicht, was er sagte; er ließ sich neben Malfoy auf die Knie fallen, der in einer Lache seines eigenen Blutes lag und haltlos zitterte. Die Maulende Myrte stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus.

»MORD! MORD IM KLO! MORD!«

Hinter Harry schlug die Tür auf und er blickte entsetzt hoch: Snape war hereingestürmt, das Gesicht wutverzerrt. Er schob Harry grob beiseite, kniete sich neben Malfoy hin, zog seinen Zauberstab und strich damit über die tiefen Wunden, die Harrys Fluch geschlagen hatte, während er eine Beschwörung murmelte, die fast wie ein Lied klang. Der Blutstrom schien nachzulassen; Snape wischte das restliche Blut von Malfoys Gesicht und wiederholte seinen Zauber. Nun schienen die Wunden zusammenzuwachsen.

Harry sah immer noch zu, entsetzt darüber, was er getan hatte, sich kaum bewusst, dass auch er ganz nass war von Blut und Wasser. Die Maulende Myrte schluchzte und wehklagte noch immer über ihnen. Nachdem Snape seinen Gegenfluch zum dritten Mal ausgeführt hatte, hob er Malfoy halb hoch, so dass er auf die Beine kam.

»Sie müssen in den Krankenflügel. Vielleicht bleiben einige Narben, aber wenn Sie sofort Diptam nehmen, könnten wir sogar das verhindern … kommen Sie …«

Er half Malfoy durch den Raum, drehte sich an der Tür um und sagte mit kalter Wut in der Stimme: »Und Sie, Potter … Sie warten hier auf mich.«

Harry kam es keine Sekunde lang in den Sinn, nicht zu gehorchen. Langsam und zitternd erhob er sich und blickte nach unten. Blutkleckse trieben wie karminrote Blüten über den nassen Fußboden. Er brachte es nicht einmal über sich, der Maulenden Myrte zu sagen, dass sie still sein sollte, die immer weiterschluchzte und wehklagte und offensichtlich zunehmend Gefallen daran fand.

Snape kehrte zehn Minuten später zurück. Er kam ins Klo und schloss die Tür hinter sich.

»Verschwinde«, sagte er zu Myrte, und sie tauchte augenblicklich in ihre Kloschüssel ab und hinterließ eine dröhnende Stille.

»Das hab ich nicht gewollt«, sagte Harry sofort. Seine Stimme hallte in dem kalten, wasserüberfluteten Raum wider. »Ich wusste nicht, was dieser Zauber bewirkt.«

Aber Snape achtete nicht auf seine Worte.

»Offenbar habe ich Sie unterschätzt, Potter«, sagte er leise. »Wer hätte gedacht, dass Sie sich derart mit schwarzer Magie auskennen? Wer hat Ihnen diesen Zauber beigebracht?«

»Ich – hab irgendwo davon gelesen.«

»Wo?«

»Es war – ein Buch aus der Bibliothek«, flunkerte Harry wild. »Ich weiß nicht mehr, wie es – «

»Lügner«, sagte Snape. Harrys Kehle wurde trocken. Er wusste, was Snape tun würde, und es war ihm noch nie gelungen, das zu verhindern …

Der Raum schien vor seinen Augen zu schimmern; krampfhaft bemühte er sich, alles Denken abzuschirmen, doch er mochte sich noch so sehr anstrengen, das Exemplar Zaubertränke für Fortgeschrittene des Halbblutprinzen trieb ihm immer wieder verschwommen in den Sinn …

Und dann starrte er erneut Snape an, mitten in diesem zertrümmerten, tropfnassen Klo. Er starrte in Snapes schwarze Augen und hoffte verzweifelt, dass Snape nicht gesehen hatte, was er befürchtete, aber –

»Bringen Sie mir Ihre Schultasche«, sagte Snape leise, »und alle Ihre Schulbücher. Alle, verstanden? Bringen Sie sie hierher zu mir. Unverzüglich!«

Es war sinnlos, zu widersprechen. Harry drehte sich sofort um und lief platschend aus dem Raum. Sowie er draußen im Korridor war, rannte er los in Richtung Gryffindor-Turm. Die meisten Leute gingen in die andere Richtung; sie gafften ihn mit großen Augen an, durchnässt von Wasser und Blut, wie er war, doch er antwortete auf keine der Fragen, die sie ihm zuriefen, während er an ihnen vorbeirannte.

Der Schreck saß ihm in den Gliedern; es war, als ob ein geliebtes Haustier plötzlich wild geworden wäre. Was hatte sich der Prinz dabei gedacht, einen solchen Zauber in sein Buch abzuschreiben? Und was würde passieren, wenn Snape es sah? Würde er Slughorn erzählen – Harry drehte sich der Magen um –, wie Harry das ganze Jahr lang all die guten Ergebnisse in Zaubertränke geschafft hatte? Würde er das Buch, das Harry so viel beigebracht hatte, beschlagnahmen oder zerstören … das Buch, das ihm eine Art Berater und Freund geworden war? Das konnte Harry nicht zulassen … er konnte es einfach nicht …

»Wo warst –? Warum bist du patschnass –? Ist das Blut?«

Ron stand oben auf dem Treppenabsatz und blickte Harry verwirrt an.

»Ich brauch dein Buch«, keuchte Harry. »Dein Zaubertrankbuch. Schnell … gib's mir …«

»Und was ist mit dem vom Halbblut-?«

»Das erklär ich dir später!«

Ron zog sein Zaubertränke für Fortgeschrittene aus der Tasche und reichte es ihm; Harry rannte los, an ihm vorbei und in den Gemeinschaftsraum. Dort riss er seine Schultasche an sich, ohne auf die verdutzten Blicke einiger Leute zu achten, die schon vom Abendessen zurück waren, stürzte sich wieder aus dem Porträtloch und eilte den Korridor im siebten Stock entlang.

Neben dem Wandbehang mit den tanzenden Trollen kam er schlitternd zum Stehen, schloss die Augen und fing an zu gehen.

Ich brauche einen Ort, wo ich mein Buch verstecken kann … Ich brauche einen Ort, wo ich mein Buch verstecken kann … Ich brauche einen Ort, wo ich mein Buch verstecken kann …

Drei Mal ging er vor dem Stück kahler Wand hin und her. Als er die Augen aufschlug, war sie endlich da: die Tür zum Raum der Wünsche. Harry riss sie auf, stürmte hinein und schlug sie zu.

Ihm stockte der Atem. Trotz seiner Hast, seiner Panik, seiner Angst davor, was ihn im Klo erwarten würde, war er schlichtweg überwältigt von dem, was er hier sah. Er stand in einem Raum, so groß wie eine riesige Kathedrale, durch deren hohe Fenster Lichtstrahlen auf eine Art Stadt mit hoch aufragenden Mauern fielen; sie waren aus Gegenständen gebaut, die offenbar von Generationen von Hogwarts-Bewohnern versteckt worden waren. Da gab es Gassen und Wege, gesäumt von wackligen Stapeln kaputter und beschädigter Möbel, die vielleicht hierher geräumt worden waren, um den Beweis für schlecht ausgeführte Magie zu verbergen, oder aber versteckt von Hauselfen, die einen Putzfimmel hatten. Es gab Tausende und Abertausende von Büchern, zweifellos verboten oder voll geschmiert oder gestohlen. Es gab geflügelte Schleudern und Fangzähnige Frisbees, von denen manche noch so viel Leben in sich hatten, dass sie halbherzig über die Berge aus anderen verbotenen Sachen schwebten; es gab angeschlagene Flaschen mit eingedickten Zaubertränken, Hüte, Juwelen, Umhänge; es gab Eierschalen, die offenbar von Dracheneiern stammten, verkorkte Flaschen, deren Inhalt immer noch bösartig schimmerte, mehrere rostige Schwerter und eine schwere, blutbefleckte Axt.

Harry eilte in eine der vielen Gassen zwischen all den versteckten Schätzen. Hinter einem gewaltigen ausgestopften Troll wandte er sich nach rechts, rannte ein kurzes Stück weiter, bog an dem kaputten Verschwindekabinett, in dem Montague im vorigen Jahr verloren gegangen war, nach links und machte schließlich Halt bei einem großen Schrank, dem offenbar jemand Säure auf die mit Blasen überzogene Oberfläche geworfen hatte. Er öffnete eine der knarrenden Türen: Der Schrank war schon einmal als Versteck verwendet worden, für etwas in einem Käfig, das seit langem tot war; sein Skelett hatte fünf Beine. Er stopfte das Buch des Halbblutprinzen hinter den Käfig und schlug die Tür zu. Mit schrecklichem Herzklopfen hielt er einen Moment inne und starrte auf den Wirrwarr ringsumher … Würde er diese Stelle zwischen all diesem Gerümpel wiederfinden können? Er nahm die angeschlagene Büste eines hässlichen alten Zauberers von einer Kiste in der Nähe, stellte sie auf den Schrank, in dem nun das Buch versteckt war, und setzte der Figur eine verstaubte alte Perücke und ein angelaufenes Diadem auf den Kopf, um sie noch auffälliger zu machen. Dann spurtete er so schnell er konnte zurück durch die Gassen aus dem versteckten Gerümpel, zurück zur Tür, zurück auf den Korridor und schlug die Tür hinter sich zu, die sich sofort wieder in Stein verwandelte.

Harry rannte mit höchster Geschwindigkeit zum Klo im Stockwerk darunter und stopfte unterwegs Rons Zaubertränke für Fortgeschrittene in seine Tasche. Eine Minute später stand er wieder vor Snape, der wortlos seine Hand nach Harrys Schultasche ausstreckte. Keuchend und mit einem brennenden Schmerz in der Brust überreichte Harry sie ihm und wartete.

Snape zog Harrys Bücher eins nach dem anderen heraus und untersuchte sie. Schließlich war nur noch das Zaubertrankbuch übrig, das er sehr sorgfältig betrachtete, ehe er sprach.

»Das ist also Ihr Exemplar von Zaubertränke für Fortgeschrittene, Potter?«

»Ja«, sagte Harry, immer noch schwer atmend.

»Sie sind sich dessen wirklich sicher, Potter?«

»Ja«, sagte Harry, eine Spur trotziger.

»Dies ist das Exemplar von Zaubertränke für Fortgeschrittene, das Sie bei Flourish & Blotts gekauft haben?«

»Ja«, sagte Harry entschieden.

»Warum«, fragte Snape, »steht dann der Name ›Runald Waschlab‹ innen auf dem Buchdeckel?«

Harry blieb fast das Herz stehen.

»Das ist mein Spitzname«, sagte er.

»Ihr Spitzname«, wiederholte Snape.

»Ja … so nennen mich meine Freunde«, sagte Harry.

»Ich weiß, was ein Spitzname ist«, erwiderte Snape. Die kalten schwarzen Augen bohrten sich erneut in die von Harry; Harry versuchte den Blick zu meiden. Verschließ deinen Geist… verschließ deinen Geist… aber er hatte nie gelernt, wie man es richtig machte

»Wissen Sie, was ich glaube, Potter?«, sagte Snape ganz leise. »Ich glaube, dass Sie ein Lügner und Betrüger sind und dass Sie Nachsitzen bei mir verdient haben, von nun an jeden Samstag bis zum Ende des Schuljahrs. Was meinen Sie, Potter?«

»Ich – ich bin nicht Ihrer Meinung, Sir«, sagte Harry und weigerte sich beharrlich, Snape in die Augen zu blicken.

»Nun, wir werden sehen, was Sie nach Ihrer Bestrafung zu sagen haben«, sagte Snape. »Zehn Uhr Samstagmorgen, Potter. In meinem Büro.«

»Aber, Sir …«, sagte Harry und blickte verzweifelt hoch. »Quidditch … das letzte Spiel der – «

»Zehn Uhr«, flüsterte Snape mit einem Lächeln, das seine gelben Zähne zeigte. »Armes Gryffindor … vierter Platz dieses Jahr, fürchte ich …«

Und ohne ein weiteres Wort verließ er das Klo, und Harry stand da und starrte in den gesprungenen Spiegel; er war sicher, dass ihm elender zumute war, als Ron sich je im Leben gefühlt hatte.

»Ich will nicht behaupten, dass ich's dir ja gesagt habe«, erklärte Hermine eine Stunde später im Gemeinschaftsraum.

»Hör auf, Hermine«, sagte Ron wütend.

Harry war gar nicht erst zum Abendessen gegangen; er hatte überhaupt keinen Appetit. Er war gerade damit fertig, Ron, Hermine und Ginny zu schildern, was passiert war, obwohl das offenbar nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Die Nachricht hatte sich sehr schnell verbreitet: Anscheinend hatte es sich die Maulende Myrte nicht nehmen lassen, in jedem einzelnen Klo im Schloss aufzutauchen und die Geschichte zu erzählen; Pansy Parkinson hatte Malfoy bereits im Krankenflügel besucht und dann unverzüglich überall ihre Schmähungen gegen Harry verstreut, und Snape hatte die Lehrerschaft genau davon unterrichtet, was geschehen war. Harry war bereits aus dem Gemeinschaftsraum gerufen worden und hatte fünfzehn höchst unangenehme Minuten in Gesellschaft von Professor McGonagall verbringen müssen, die ihm erklärt hatte, dass er Glück habe, nicht der Schule verwiesen zu werden, und dass sie Snapes Strafmaß, nämlich jeden Samstag Nachsitzen bis zum Ende des Schuljahres, vollauf unterstütze.

»Ich hab dir doch gesagt, dass mit diesem Prinz-Typen irgendwas nicht stimmt«, sagte Hermine, die es offensichtlich nicht lassen konnte. »Und ich hatte Recht, oder?«

»Nein, ich glaub nicht«, antwortete Harry hartnäckig.

Es ging ihm ohnehin schon schlecht genug, da hatten ihm Hermines Belehrungen gerade noch gefehlt; die schlimmste Strafe überhaupt waren die Mienen der Gryffindor-Spieler gewesen, als er ihnen mitgeteilt hatte, dass er am Samstag nicht mitmachen würde. Er konnte jetzt Ginnys Blick spüren, mochte ihn jedoch nicht erwidern; er wollte keine Enttäuschung oder Wut in ihren Augen sehen. Er hatte ihr gerade gesagt, dass sie am Samstag auf der Position des Suchers spielen sollte und dass Dean wieder zur Mannschaft stoßen und für sie Jäger spielen würde. Wenn sie gewannen, würden Ginny und Dean sich in der Siegesbegeisterung nach dem Spiel womöglich wieder miteinander versöhnen … der Gedanke durchfuhr Harry wie ein eiskaltes Messer …

»Harry«, sagte Hermine, »wie kannst du dieses Buch noch verteidigen, wo dieser Zauber – «

»Hörst du jetzt endlich mal auf, über dieses Buch herzuziehen!«, fuhr Harry sie an. »Der Prinz hat ihn nur abgeschrieben! Und er hat keinem geraten, ihn zu verwenden! Wir wissen nur, dass er sich eine Notiz zu etwas gemacht hat, das jemand mal gegen ihn eingesetzt hat!«

»Das glaube ich nicht«, sagte Hermine. »Du verteidigst tatsächlich noch – «

»Ich verteidige nicht das, was ich getan habe!«, sagte Harry rasch. »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan, und nicht nur, weil ich ungefähr ein Dutzend Mal nachsitzen muss. Du weißt, dass ich einen solchen Zauber nie benutzt hätte, nicht mal gegen Malfoy, aber du kannst nicht dem Prinzen die Schuld zuschieben, er hat nicht geschrieben ›Probier das aus, das ist echt gut‹ – er hat sich doch nur Notizen für sich selbst gemacht und nicht für irgendjemand sonst …«

»Willst du mir etwa sagen«, erwiderte Hermine, »dass du wieder dort hingehen wirst –?«

»Und das Buch zurückholst? Ja, allerdings«, sagte Harry energisch. »Hör zu, ohne den Prinzen hätte ich nie den Felix Felicis gewonnen. Ich hätte nie gewusst, wie man Ron vor seiner Vergiftung retten kann, ich hätte nie – «

» so völlig unverdient den Ruf eines brillanten Zaubertrankmischers bekommen«, sagte Hermine bissig.

»Lass mal gut sein, Hermine!«, sagte Ginny, und Harry war so verblüfft und so dankbar, dass er aufblickte. »Es klingt ganz danach, als ob Malfoy versucht hätte, einen Unverzeihlichen Fluch einzusetzen, du solltest froh sein, dass Harry was Gutes in petto hatte!«

»Klar, natürlich bin ich froh, dass Harry kein Fluch angehängt wurde!«, erwiderte Hermine, offensichtlich getroffen. »Aber du kannst diesen Sectumsempra-Zauber nicht gut nennen, Ginny, schau dir an, was er sich damit eingehandelt hat! Und wenn ich bedenke, was das nun für eure Chancen im Spiel bedeutet – «

»Oh, jetzt tu nicht plötzlich so, als würdest du was von Quidditch verstehen«, fauchte Ginny, »das wird doch nur peinlich für dich.«

Harry und Ron machten große Augen: Hermine und Ginny, die immer so gut miteinander ausgekommen waren, saßen auf einmal mit verschränkten Armen da und schauten wütend in entgegengesetzte Richtungen. Ron warf Harry einen nervösen Blick zu, dann schnappte er sich wahllos irgendein Buch und versteckte sich dahinter. Doch Harry war plötzlich unglaublich gut gelaunt, obwohl er wusste, dass er es kaum verdient hatte, und obwohl den ganzen restlichen Abend keiner von ihnen ein weiteres Wort sagte.

Sein Hochgefühl war von kurzer Dauer. Am nächsten Tag musste er die Sticheleien der Slytherins erdulden, von der beträchtlichen Wut einiger anderer Gryffindors ganz zu schweigen, die gar nicht glücklich darüber waren, dass ihr Kapitän sich eine Strafe eingehandelt hatte und am letzten Spiel der Saison nicht teilnehmen konnte. Was auch immer er zu Hermine gesagt haben mochte, am Samstagmorgen hätte er mit Vergnügen alles Felix Felicis der Welt dafür hergegeben, mit Ron, Ginny und den anderen hinunter zum Quidditch-Feld gehen zu dürfen. Er konnte es fast nicht ertragen, dass er sich von der Schar von Schülern abwenden musste, die alle hinaus in die Sonne strömten, Rosetten und Hüte trugen und ihre Spruchbänder und Schals schwenkten, während er selbst die steinernen Stufen zu den Kerkern hinabstieg und dann weiterging, bis der ferne Lärm der Menge völlig verklungen war, und dabei genau wusste, dass er kein Wort des Spielkommentars würde hören können, keinen Jubelschrei und kein Stöhnen.

»Ah, Potter«, sagte Snape, als Harry an seine Tür geklopft und das unangenehm vertraute Büro betreten hatte, das Snape, obwohl er jetzt einige Stockwerke weiter oben unterrichtete, nicht geräumt hatte; es war so schwach beleuchtet wie eh und je, und rundherum an den Wänden schwebten dieselben schleimigen toten Objekte in bunten Zauberlösungen. Die vielen Kästen voller Spinnweben, die auf einem Tisch gestapelt waren, an dem Harry offensichtlich sitzen sollte, ließen nichts Gutes ahnen; sie sahen ganz nach ermüdender, schwerer und sinnloser Arbeit aus.

»Mr Filch sucht jemanden, der diese alten Unterlagen in Ordnung bringt«, sagte Snape leise. »Es ist das Verzeichnis anderer Übeltäter in Hogwarts und ihrer Strafen. Wo die Tinte verblasst ist oder die Karteikarten durch Mäuse beschädigt wurden, sollen Sie die Vergehen und Strafen auf neue Karten übertragen und diese dann unter Beachtung der alphabetischen Reihenfolge wieder in die Kästen einsortieren. Der Gebrauch von Magie ist Ihnen untersagt.«

»Verstanden, Professor«, sagte Harry und legte so viel Verachtung wie möglich in die letzten drei Silben.

»Ich denke, Sie können anfangen«, sagte Snape, ein heimtückisches Lächeln auf den Lippen, »und zwar am besten mit den Kästen eintausendzwölf bis eintausendsechsundfünfzig. Sie werden darin auf einige bekannte Namen stoßen, was Ihrer Aufgabe zusätzlichen Reiz verleihen dürfte. Hier, sehen Sie …«

Er zog schwungvoll eine Karte aus einem der oberen Kästen und las vor: »›James Potter und Sirius Black. Aufgegriffen während der Verwendung eines illegalen Zaubers gegen Bertram Aubrey. Aubreys Kopf doppelte Größe. Zweimal Nachsitzen.‹« Snape grinste höhnisch. »Wie tröstlich muss der Gedanke sein, dass, auch wenn sie nicht mehr sind, ein Dokument ihrer großartigen Taten erhalten geblieben ist …«

Harry spürte wie schon so oft ein Brodeln in seiner Magengrube. Er biss sich auf die Zunge, um nichts Freches zu erwidern, setzte sich vor die Karteikästen und zog einen davon zu sich heran.

Es war, wie Harry vorausgeahnt hatte, nutzlose, langweilige Arbeit, bei der Harry (wie Snape zweifellos geplant hatte) regelmäßig Stiche im Magen verspürte, immer wenn er den Namen seines Vaters oder den von Sirius las, die meistens gemeinsam in verschiedene kleine Missetaten verstrickt gewesen waren, wobei gelegentlich auch die Namen Remus Lupin und Peter Pettigrew auftauchten. Und während er ihre diversen Vergehen und Strafen abschrieb, fragte er sich, was draußen vor sich ging, wo das Spiel gerade angefangen haben musste … und Ginny als Sucherin gegen Cho antrat.

Wieder und wieder warf Harry einen Blick auf die große Uhr, die an der Wand tickte. Sie schien nur halb so schnell zu gehen wie eine gewöhnliche Uhr; vielleicht hatte Snape sie verzaubert, damit sie sich besonders viel Zeit ließ? Er konnte unmöglich erst eine halbe Stunde hier sein … eine Stunde … eineinhalb Stunden …

Harrys Magen fing an zu rumoren, als die Uhr halb eins zeigte. Snape, der kein einziges Wort gesprochen hatte, seit er Harry seine Aufgabe gestellt hatte, sah um zehn nach eins endlich auf.

»Ich denke, das genügt«, sagte er kühl. »Markieren Sie die Stelle, wo Sie jetzt sind. Sie werden am nächsten Samstag um zehn Uhr weitermachen.«

»Ja, Sir.«

Harry stopfte eine verbogene Karte irgendwo in den Karteikasten, eilte zur Tür hinaus, ehe Snape es sich anders überlegen konnte, raste wieder die Steinstufen hoch und horchte dabei angestrengt, ob er Lärm vom Spielfeld hörte, aber alles war ruhig … dann war es also vorbei …

Vor der überfüllten Großen Halle zögerte er ein wenig, dann rannte er die Marmortreppe hoch; ob Gryffindor nun gewonnen oder verloren hatte, die Mannschaft feierte oder trauerte meistens in ihrem Gemeinschaftsraum.

»Quid agis?«, fragte er zaghaft die fette Dame und überlegte, was er drinnen vorfinden würde.

Ihre Miene war unergründlich, als sie antwortete: »Du wirst sehen.«

Und sie schwang nach vorne.

Aus dem Loch hinter ihr dröhnte der tosende Lärm einer Feier. Harry stockte der Atem, als einige bei seinem Anblick zu schreien begannen; mehrere Hände zerrten ihn in den Raum.

»Wir haben gewonnen!«, brüllte Ron, der plötzlich herbeihüpfte und Harry den silbernen Pokal entgegenschwang. »Wir haben gewonnen! Vierhundertfünfzig zu hundertvierzig! Wir haben gewonnen!«

Harry sah sich um; da kam Ginny auf ihn zugerannt; mit hartem, glühendem Gesicht warf sie die Arme um ihn. Und ohne nachzudenken, ohne es zu planen, ohne sich um die Tatsache zu kümmern, dass fünfzig Leute zusahen, küsste Harry sie.

Nach einigen langen Augenblicken – oder vielleicht auch nach einer halben Stunde – oder möglicherweise nach einigen sonnigen Tagen – lösten sie sich voneinander. Im Raum war es sehr still geworden. Dann pfiffen einige Leute anerkennend und nervöses Gekicher brach aus. Harry sah über Ginnys Kopf hinweg, dass Dean Thomas ein zerbrochenes Glas in der Hand hielt und dass Romilda Vane den Eindruck machte, als würde sie gleich etwas durch die Gegend werfen. Hermine strahlte, aber Harrys Augen suchten Ron. Endlich fand er ihn, er hielt immer noch den Pokal in den Händen und machte eine Miene, ganz als ob man ihm gerade ein Schlagholz über den Schädel gezogen hätte. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sie sich an, dann zuckte Ron kaum merklich mit dem Kopf, was Harry als etwas deutete wie: »Also – wenn es sein muss.«

Die Kreatur in seiner Brust brüllte triumphierend, Harry grinste zu Ginny hinunter und deutete wortlos zum Porträtloch. Ein langer Spaziergang über das Gelände schien angebracht, bei dem sie – wenn sie Zeit hatten – vielleicht das Spiel besprechen konnten.