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Sobald sie wieder unter dem Sternenhimmel waren, wuchtete Harry Dumbledore auf den nächsten Felsblock und dann auf die Beine. Durchnässt und zitternd, und noch immer unter der Last von Dumbledores Gewicht, konzentrierte Harry sich stärker, als er es je getan hatte, auf sein Ziel: Hogsmeade. Er schloss die Augen, packte Dumbledores Arm, so fest er konnte, machte einen Schritt vorwärts und empfand wieder dieses furchtbare Gefühl, zusammengepresst zu werden.
Noch ehe er die Augen aufschlug, wusste er, dass es ihm gelungen war: Der Salzgeruch, die Meeresbrise waren verschwunden. Er und Dumbledore standen zitternd und triefend mitten auf der dunklen Hauptstraße von Hogsmeade. Einen schrecklichen Moment lang tauchten in Harrys Phantasie weitere Inferi auf, die um die Läden herum auf ihn zukrochen, aber dann blinzelte er und sah, dass sich nichts regte; alles war still, es herrschte völlige Dunkelheit, die nur ein paar Straßenlaternen und erleuchtete Fenster in den oberen Stockwerken durchbrachen.
»Wir haben es geschafft, Professor!«, flüsterte Harry mühsam; er merkte plötzlich, dass er einen stechenden Schmerz in der Brust hatte. »Wir haben es geschafft! Wir haben den Horkrux!«
Dumbledore taumelte gegen ihn. Im ersten Moment dachte Harry, sein unerfahrenes Apparieren hätte Dumbledore aus dem Gleichgewicht gebracht; dann sah er sein Gesicht, so fahl und klamm wie nie zuvor, im Licht einer fernen Straßenlaterne.
»Alles in Ordnung mit Ihnen, Sir?«
»Es ging mir schon besser«, sagte Dumbledore matt, allerdings mit zuckenden Mundwinkeln. »Dieser Zaubertrank … das war kein Heiltrank …«
Und zu Harrys Entsetzen sank Dumbledore zu Boden.
»Sir – es ist schon gut, Sir, Sie werden wieder gesund, keine Sorge – «
Verzweifelt blickte er sich nach Hilfe um, doch niemand war zu sehen, und er konnte an nichts anderes denken, als dass er Dumbledore schnellstmöglich in den Krankenflügel schaffen musste.
»Wir müssen Sie hoch zur Schule bringen, Sir … Madam Pomfrey …«
»Nein«, sagte Dumbledore. »Es ist … Professor Snape, den ich brauche … aber ich glaube nicht … ich bin immer noch gut zu Fuß …«
»… Gut – hören Sie, Sir – ich klopf an eine Tür und such einen Platz, wo Sie bleiben können – dann kann ich losrennen und Madam …«
»Severus«, sagte Dumbledore deutlich. »Ich brauche Severus …«
»Also gut, dann Snape – aber ich muss Sie einen Moment allein lassen, damit ich …«
Doch ehe Harry etwas tun konnte, hörte er hastige Schritte. Sein Herz schlug höher: Jemand hatte sie gesehen, jemand wusste, dass sie Hilfe brauchten – und als er sich umschaute, sah er Madam Rosmerta die dunkle Straße entlang auf sie zutrippeln, auf hochhackigen, puscheligen Pantoletten und in einem seidenen Morgenrock, der mit Drachen bestickt war.
»Ich ziehe gerade im Schlafzimmer die Vorhänge zu, da sehe ich Sie apparieren! Dem Himmel sei Dank, dem Himmel sei Dank, ich wusste nicht, was – aber was ist mit Albus los?«
Sie blieb keuchend stehen und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf Dumbledore.
»Er ist verletzt«, sagte Harry. »Madam Rosmerta, kann er in die Drei Besen kommen, während ich zur Schule hochgehe und Hilfe für ihn hole?«
»Sie können da nicht allein hochgehen! Wissen Sie nicht – haben Sie nicht gesehen –?«
»Wenn Sie mir helfen, ihn zu stützen«, sagte Harry, ohne ihr zuzuhören, »können wir ihn reinbringen, denke ich …«
»Was ist passiert?«, fragte Dumbledore. »Rosmerta, was ist los?«
»Das – das Dunkle Mal, Albus.«
Und sie deutete zum Himmel über Hogwarts. Ein Grauen überlief Harry bei diesen Worten … Er wandte sich um und sah hoch.
Dort schwebte er, am Himmel über der Schule: der leuchtende grüne Totenkopf mit der Schlangenzunge, das Zeichen, das die Todesser hinterließen, wann immer sie in ein Gebäude eingedrungen waren … wo immer sie gemordet hatten …
»Wann ist es aufgetaucht?«, fragte Dumbledore, und seine Hand krallte sich schmerzhaft in Harrys Schulter, während er mühsam aufstand.
»Muss vor ein paar Minuten gewesen sein, es war nicht da, als ich die Katze rausließ, aber als ich nach oben ging … «
»Wir müssen sofort zum Schloss zurück«, sagte Dumbledore. »Rosmerta«, und obwohl er leicht wankte, schien er die Lage völlig im Griff zu haben, »wir brauchen ein Transportmittel – Besen – «
»Ich habe zwei hinter der Bar«, sagte sie und sah sehr verängstigt aus. »Soll ich sie schnell holen gehen…?«
»Nein, Harry kann das erledigen.«
Harry hob sofort seinen Zauberstab.
»Accio Rosmertas Besen.«
Eine Sekunde später hörten sie die Tür des Pubs laut krachend aufschlagen; zwei Besen schossen heraus und jagten einander die Straße entlang bis an Harrys Seite, wo sie schlagartig und leicht zitternd auf Hüfthöhe anhielten.
»Rosmerta, bitte schicken Sie eine Nachricht ins Ministerium«, sagte Dumbledore und bestieg den Besen neben ihm. »Es könnte sein, dass in Hogwarts noch niemand bemerkt hat, dass etwas nicht stimmt … Harry, zieh dir deinen Tarnumhang über.«
Harry zog den Tarnumhang aus seiner Tasche und warf ihn sich über, ehe er auf seinen Besen stieg; Madam Rosmerta wackelte schon wieder zurück zu ihrem Pub, als Harry und Dumbledore sich vom Boden abstießen und in die Luft stiegen. Während sie auf das Schloss zurasten, spähte Harry seitwärts zu Dumbledore hinüber, bereit, ihn festzuhalten, falls er stürzen sollte, doch der Anblick des Dunklen Mals schien fast stimulierend auf Dumbledore gewirkt zu haben: Er saß tief nach vorne gebeugt auf seinem Besen, die Augen auf das Mal geheftet, und sein langes Silberhaar und der Bart wehten in der Nachtluft. Auch Harry blickte voraus auf den Totenkopf, und die Furcht schwoll wie eine giftige Blase in ihm an, drückte ihm gegen die Lungen und vertrieb alle anderen Sorgen aus seinem Kopf…
Wie lange waren sie fort gewesen? War Rons, Hermines und Ginnys Glück inzwischen zur Neige gegangen? War jemand von ihnen die Ursache dafür, dass das Mal über der Schule heraufbeschworen worden war, oder war es Neville oder Luna oder ein anderes Mitglied der DA? Und wenn es so war … er selbst war es doch gewesen, der ihnen gesagt hatte, sie sollten durch die Korridore patrouillieren, er selbst hatte sie aufgefordert, ihre sicheren Betten zu verlassen … würde er erneut für den Tod eines Freundes verantwortlich sein?
Als sie über dem dunklen, gewundenen Weg dahinflogen, den sie am Abend hinuntergegangen waren, hörte Harry durch das Pfeifen der Nachtluft in seinen Ohren, wie Dumbledore wieder in einer fremdartigen Sprache vor sich hin murmelte. Harry meinte zu wissen, warum, als er spürte, wie sein Besen kurz bebte, während sie über die Grenzmauer ins Schlossgelände flogen: Dumbledore hob die Bänne auf, die er selbst rund um das Schloss gelegt hatte, damit sie schnell hineinkamen. Das Dunkle Mal strahlte direkt über dem Astronomieturm, dem höchsten des Schlosses. Bedeutete das, es war dort zu dem Tod gekommen?
Dumbledore war bereits über die Zinnen auf den Turm geflogen und stieg ab; Sekunden später landete Harry neben ihm und sah sich um.
Niemand war hier oben. Die Tür zur Wendeltreppe, die ins Schloss hinunterführte, war geschlossen. Es gab keine Spur eines Kampfes, einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod, einer Leiche.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Harry Dumbledore und blickte zu dem grünen Totenkopf mit der Schlangenzunge hoch, der bösartig über ihnen funkelte. »Ist es das echte Mal? Wurde wirklich jemand – Professor?«
In dem schwachen grünen Schein des Mals sah Harry, wie Dumbledore sich mit seiner geschwärzten Hand an die Brust griff.
»Geh und weck Severus«, sagte Dumbledore kraftlos, aber deutlich. »Berichte ihm, was geschehen ist, und bring ihn zu mir. Tu nichts anderes, sprich mit niemand sonst und nimm deinen Tarnumhang nicht ab. Ich warte hier.«
»Aber…«
»Du hast geschworen, mir zu gehorchen, Harry – geh!«
Harry eilte hinüber zur Tür, die zur Wendeltreppe führte, doch kaum hatte sich seine Hand um den eisernen Türring geschlossen, hörte er auf der anderen Seite eilige Schritte. Er wandte sich zu Dumbledore um, der ihm mit einer Geste bedeutete, von der Tür wegzugehen. Harry wich zurück und zog seinen Zauberstab.
Die Tür sprang auf und jemand stürzte heraus und schrie: »Expelliarmus!«
Harrys Körper wurde sofort steif und unbeweglich, er spürte, wie er rücklings gegen die Brustwehr fiel, und dann lehnte er dort wie eine wackelige Statue, unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen. Er konnte nicht begreifen, wie das passiert war – Expelliarmus war kein Erstarrungszauber –
Dann, im Licht des Mals, sah er Dumbledores Zauberstab in hohem Bogen über die Brustwehr fliegen und begriff … Dumbledore hatte Harry ohne ein Wort gelähmt, und die Sekunde, die er gebraucht hatte, um den Zauber auszuführen, hatte ihn um die Möglichkeit gebracht, sich selbst zu verteidigen.
Dumbledore, der ganz weiß im Gesicht mit dem Rücken zur Brustwehr stand, zeigte nach wie vor keine Spur von Panik oder Beklommenheit. Er blickte den, der ihn entwaffnet hatte, nur an und sagte: »Guten Abend, Draco.«
Malfoy trat vor, sah sich rasch um und vergewisserte sich, ob er und Dumbledore tatsächlich allein waren. Sein Blick fiel auf den zweiten Besen.
»Wer ist noch hier?«
»Eine Frage, die ich Ihnen stellen könnte. Oder handeln Sie auf eigene Faust?«
Harry sah im grünlichen Schein des Mals, wie Malfoys blasse Augen zu Dumbledore zurückwanderten.
»Nein«, sagte er. »Ich habe Unterstützung. Es sind heute Abend Todesser in Ihrer Schule.«
»Schön, schön«, sagte Dumbledore, als würde Malfoy ihm einen ehrgeizigen Hausaufgabenentwurf zeigen. »Wirklich sehr gut. Sie haben also einen Weg gefunden, sie hereinzulassen?«
»Ja«, sagte Malfoy, der nun keuchte. »Direkt vor Ihrer Nase, und Sie haben es überhaupt nicht bemerkt!«
»Raffiniert«, sagte Dumbledore. »Aber … verzeihen Sie mir … wo sind sie jetzt? Sie scheinen auf sich gestellt zu sein.«
»Sie sind auf ein paar von Ihren Wachen gestoßen. Sie kämpfen unten. Sie werden gleich kommen … ich bin vorausgegangen. Ich – ich habe eine Aufgabe zu erledigen.«
»Nun, dann müssen Sie loslegen und es tun, mein Lieber«, sagte Dumbledore leise.
Stille trat ein. Harry, der gefangen in seinem unsichtbaren gelähmten Körper dastand, starrte die beiden an und lauschte angestrengt auf Geräusche vom fernen Kampf der Todesser, und Draco Malfoy vor ihm tat nichts, als Albus Dumbledore anzustarren, der unglaublicherweise lächelte.
»Draco, Draco, Sie sind kein Mörder.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, erwiderte Malfoy sofort.
Er schien zu merken, wie kindisch seine Worte geklungen hatten; Harry sah ihn im grünlichen Licht des Mals erröten.
»Sie wissen nicht, wozu ich fähig bin«, sagte Malfoy nun mit größerem Nachdruck, »Sie wissen nicht, was ich getan habe!«
»O doch, das weiß ich«, sagte Dumbledore milde. »Sie hätten um ein Haar Katie Bell und Ronald Weasley getötet. Sie haben mit zunehmender Verzweiflung das ganze Jahr über versucht, mich zu töten. Verzeihen Sie mir, Draco, aber das waren schwache Versuche … um ehrlich zu sein, so schwach, dass ich mich frage, ob Sie wirklich mit ganzem Herzen dabei waren …«
»Das war ich!«, sagte Malfoy heftig. »Ich habe das ganze Jahr daran gearbeitet, und heute Nacht – «
Von irgendwo tief unten im Schloss hörte Harry einen erstickten Schrei. Malfoy erstarrte und warf einen Blick über seine Schulter.
»Da liefert sich jemand einen heftigen Kampf«, sagte Dumbledore beiläufig. »Aber Sie meinten gerade … ja, es ist Ihnen gelungen, Todesser in meine Schule hineinzubringen, was ich, zugegebenermaßen, für unmöglich hielt … wie haben Sie das gemacht?«
Aber Malfoy sagte nichts: Er horchte noch auf das Geschehen unten und schien fast so gelähmt wie Harry.
»Vielleicht sollten Sie die Aufgabe alleine erledigen«, schlug Dumbledore vor. »Was, wenn Ihre Unterstützung an meinen Wachen gescheitert ist? Wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist, sind heute Nacht auch Mitglieder des Phönixordens hier. Und im Grunde brauchen Sie doch keine Hilfe … ich habe im Moment keinen Zauberstab … ich kann mich nicht verteidigen.«
Malfoy starrte ihn nur an.
»Ich verstehe«, sagte Dumbledore freundlich, als Malfoy sich weder bewegte noch sprach. »Sie haben Angst, etwas zu tun, bevor sie bei Ihnen sind.«
»Ich habe keine Angst!«, knurrte Malfoy wütend, machte jedoch immer noch keine Anstalten, Dumbledore anzugreifen. »Sie sind der, der Angst haben sollte!«
»Aber warum denn? Ich glaube nicht, dass Sie mich töten werden, Draco. Töten ist nicht annähernd so einfach, wie naive Menschen glauben … Also sagen Sie mir doch, während wir auf Ihre Freunde warten … wie haben Sie die hier hereingeschmuggelt? Es hat Sie offenbar viel Zeit gekostet, herauszufinden, wie Sie es schaffen können.«
Malfoy sah aus, als würde er gerade den Drang unterdrücken loszuschreien oder sich zu übergeben. Er schluckte, holte einige Male tief Luft, richtete seinen Zauberstab direkt auf Dumbledores Herz und starrte ihn wütend an. Dann sagte er, als könnte er nicht an sich halten: »Ich musste das kaputte Verschwindekabinett reparieren, das seit Jahren keiner mehr benutzt hat. Das, in dem Montague letztes Jahr verloren gegangen ist.«
»Aaaah.«
Dumbledores Seufzer war eher ein Stöhnen. Er schloss für einen Moment die Augen.
»Das war schlau … es gibt ein zweites, nehme ich an?«
»Das Gegenstück ist bei Borgin und Burkes«, sagte Malfoy, »und zwischen den beiden gibt es eine Art Durchgang. Montague hat mir erzählt, als er in dem von Hogwarts steckte, sei er irgendwo im Ungewissen gefangen gewesen, aber manchmal habe er hören können, was in der Schule vor sich ging, und manchmal, was im Laden los war, als ob das Kabinett sich dazwischen hin- und herbewegte, aber Montague selber konnte sich bei niemandem bemerkbar machen … Am Ende hat er es dann geschafft, herauszuapparieren, obwohl er seine Prüfung noch gar nicht bestanden hatte. Das hat ihn fast umgebracht. Alle hielten es für eine richtig gute Geschichte, aber ich war der Einzige, der erkannt hat, was sie wirklich bedeutete – selbst Borgin wusste es nicht –, ich habe erkannt, dass es durch die Kabinette einen Weg nach Hogwarts geben könnte, wenn ich das kaputte richten würde.«
»Sehr gut«, murmelte Dumbledore. »Die Todesser konnten also von Borgin und Burkes aus in die Schule gelangen, um Ihnen zu helfen … ein schlauer Plan, ein sehr schlauer Plan … und, wie Sie sagen, direkt vor meiner Nase …«
»Ja«, sagte Malfoy, der aus Dumbledores Lob seltsamerweise Mut und Trost zu schöpfen schien. »Ja, allerdings!«
»Aber es gab Zeiten«, fuhr Dumbledore fort, »in denen Sie nicht sicher waren, dass es Ihnen gelingen würde, das Kabinett zu reparieren, nicht wahr? Und Sie griffen auf plumpe und unüberlegte Maßnahmen zurück, indem Sie mir zum Beispiel ein Halsband schickten, auf dem ein Fluch lag und das unweigerlich in die falschen Hände geraten musste … indem Sie Met vergifteten, den ich höchstwahrscheinlich gar nicht trinken würde …«
»Ja, mag sein, und trotzdem haben Sie nicht gewusst, wer hinter alldem steckte, oder?«, höhnte Malfoy, während Dumbledore, der offenbar immer weniger Kraft in den Beinen hatte, ein Stück an der Brustwehr hinunterrutschte und Harry vergeblich und stumm gegen die Beschwörung ankämpfte, die ihn fesselte.
»Ich habe es sehr wohl gewusst«, sagte Dumbledore. »Ich war mir sicher, dass Sie es waren.«
»Warum haben Sie mich dann nicht aufgehalten?«, fragte Malfoy.
»Ich habe es versucht, Draco. Professor Snape hat Sie auf meine Anweisung hin überwacht -«
»Er hat nicht Ihre Anweisung ausgeführt, er hat meiner Mutter versprochen -«
»Natürlich hat er so etwas zu Ihnen gesagt, Draco, aber –«
»Er ist ein Doppelagent, Sie dummer alter Mann, er arbeitet nicht für Sie, das bilden Sie sich nur ein!«
»Ich fürchte, in diesem Punkt sind wir verschiedener Meinung. Es ist nun einmal so, dass ich Professor Snape vertraue –«
»Tja, dann setzt es bei Ihnen allmählich aus!«, höhnte Malfoy. »Er hat mir ständig seine Hilfe angeboten – weil er den ganzen Ruhm für sich haben will – und selber ein wenig mitmischen möchte – ›Was machen Sie eigentlich? Haben Sie das mit dem Halsband getan, das war dumm, es hätte alles zunichte machen können – Aber ich habe ihm nicht erzählt, was ich im Raum der Wünsche getan habe. Wenn er morgen aufwacht, ist alles schon vorbei, und er ist nicht mehr der Liebling des Dunklen Lords, er wird nichts sein im Vergleich zu mir, nichts!«
»Sehr befriedigend«, sagte Dumbledore milde. »Wir schätzen es natürlich alle, wenn wir Anerkennung für unsere harte Arbeit bekommen … aber Sie müssen trotzdem einen Komplizen gehabt haben … jemanden in Hogsmeade, jemanden, der in der Lage war, Katie das – das – aaah …«
Dumbledore schloss erneut die Augen und nickte, als würde er gleich einschlafen.
»… natürlich … Rosmerta. Wie lange steht sie schon unter dem Imperius-Fluch?«
»Endlich draufgekommen, was?«, spottete Malfoy.
Erneut drang ein Schrei von unten herauf, um einiges lauter als der letzte. Malfoy blickte abermals nervös über seine Schulter, dann wandte er sich wieder Dumbledore zu, der fortfuhr: »Also war die arme Rosmerta gezwungen, in ihrem eigenen Klo zu lauern und das Halsband irgendeiner Hogwarts-Schülerin zu übergeben, die alleine hereinkam? Und der vergiftete Met … nun, natürlich, Rosmerta konnte ihn für Sie vergiften, ehe sie die Flasche an Slughorn schickte, in dem Glauben, dass es mein Weihnachtsgeschenk sein sollte … ja, das passt alles sehr gut … wirklich sehr gut … der arme Mr Filch würde natürlich nicht daran denken, eine Flasche von Rosmerta zu kontrollieren … sagen Sie mir, wie haben Sie sich mit Rosmerta verständigt? Ich dachte, wir hätten alle Kommunikationswege ins Schloss hinein und hinaus überwacht.«
»Verzauberte Münzen«, sagte Malfoy, wie unter einem Zwang weiterzusprechen, während sein Zauberstab heftig zitterte. »Ich hatte eine und sie hatte die andere und ich konnte ihr Nachrichten schicken – «
»Ist das nicht das geheime Kommunikationsmittel, das von der Gruppe, die sich Dumbledores Armee nennt, letztes Jahr benutzt wurde?«, fragte Dumbledore. Er sprach in leichtem Plauderton, aber Harry sah ihn dabei einige Zentimeter weiter die Wand hinabgleiten.
»Ja, die haben mich auf die Idee gebracht«, sagte Malfoy mit einem schiefen Lächeln. »Und auch die Idee, den Met zu vergiften, hab ich von dem Schlammblut Granger, ich habe gehört, wie sie in der Bibliothek darüber gesprochen hat, dass Filch keine Zaubertränke erkennt …«
»Bitte verwenden Sie dieses beleidigende Wort nicht in meiner Gegenwart«, sagte Dumbledore.
Malfoy lachte schroff.
»Es schert Sie, dass ich ›Schlammblut‹ sage, jetzt, wo ich Sie doch gleich umbringen werde?«
»Ja, in der Tat«, sagte Dumbledore, und Harry sah seine Füße ein wenig über den Boden rutschen, während er sich mühsam aufrecht zu halten versuchte. »Aber was die Sache betrifft, dass Sie mich gleich umbringen wollen, Draco, hatten Sie eben einige lange Minuten Zeit. Wir sind ganz allein. Sie finden mich noch wehrloser vor, als Sie es sich hätten träumen lassen, und dennoch haben Sie es nicht getan …«
Malfoy verzog unwillkürlich den Mund, als ob er etwas sehr Bitteres gekostet hätte.
»Nun, was heute Nacht angeht«, fuhr Dumbledore fort, »wundert es mich ein wenig, wie das geschehen konnte … Sie wussten, dass ich die Schule verlassen hatte? Aber natürlich«, beantwortete er seine eigene Frage, »Rosmerta hat mich gehen sehen, sie gab Ihnen sicher den Hinweis mit Hilfe Ihrer raffinierten Münzen …«
»Richtig«, sagte Malfoy, »aber sie sagte, Sie würden nur kurz was trinken gehen, Sie wären bald zurück …«
»Nun, etwas getrunken habe ich zweifellos … und ich kam zurück … so schlecht und recht«, murmelte Dumbledore. »Also haben Sie beschlossen, mir eine Falle zu stellen?«
»Wir haben beschlossen, das Dunkle Mal über dem Turm aufsteigen zu lassen und Sie dazu zu bringen, schnell hier hochzukommen, um nachzusehen, wer getötet wurde«, sagte Malfoy. »Und es hat geklappt!«
»Nun … ja und nein …«, sagte Dumbledore. »Aber verstehe ich Sie richtig, dass niemand ermordet wurde?«
»Es ist jemand tot«, sagte Malfoy, und seine Stimme schien eine Oktave höher zu rutschen, als er das sagte. »Jemand von Ihren Leuten … ich weiß nicht, wer, es war dunkel … ich bin über die Leiche gestiegen … ich sollte hier oben auf Ihre Rückkehr warten, doch Ihre Phönixleute sind mir in die Quere gekommen …«
»Ja, das haben sie so an sich«, sagte Dumbledore.
Von unten waren ein Knall und Schreie zu hören, lauter als zuvor; es klang, als würde direkt auf der Wendeltreppe gekämpft, die auf den Turm hinaufführte, wo Dumbledore, Malfoy und Harry standen, und Harrys Herz hämmerte ungehört in seiner unsichtbaren Brust … jemand war tot … Malfoy war über die Leiche gestiegen … aber wer war es?
»Wie auch immer, es bleibt wenig Zeit«, sagte Dumbledore. »Also lassen Sie uns über Ihre Möglichkeiten sprechen, Draco.«
»Meine Möglichkeiten!«, entgegnete Malfoy laut. »Ich stehe hier mit einem Zauberstab – ich werde Sie gleich töten – «
»Wir sollten uns da nichts mehr vormachen, mein Lieber. Wenn Sie mich hätten töten wollen, hätten Sie es getan, als Sie mich mit Ihrem Zauber entwaffnet hatten, Sie hätten sich nicht durch diese vergnügliche Plauderei über Mittel und Wege aufhalten lassen.«
»Ich habe keine Wahl!«, sagte Malfoy, der plötzlich so weiß war wie Dumbledore. »Ich muss es tun! Er bringt mich um! Er bringt meine ganze Familie um!«
»Mir ist bewusst, wie schwierig Ihre Lage ist«, sagte Dumbledore. »Warum sonst habe ich Sie nicht längst schon zur Rede gestellt? Weil ich wusste, man würde Sie ermorden, wenn Lord Voldemort merken würde, dass ich Sie verdächtige.«
Malfoy zuckte bei der Erwähnung des Namens.
»Ich habe es nicht gewagt, mit Ihnen über die Mission zu reden, von der ich wusste, denn er hatte womöglich Legilimentik gegen Sie eingesetzt«, fuhr Dumbledore fort. »Aber jetzt können wir endlich offen miteinander reden … es ist kein Schaden verursacht worden, Sie haben niemanden verletzt, auch wenn Sie von großem Glück reden können, dass Ihre unbeabsichtigten Opfer überlebt haben … ich kann Ihnen helfen, Draco.«
»Nein, das können Sie nicht«, sagte Malfoy, und seine Zauberstabhand bebte nun wirklich heftig. »Niemand kann das. Er hat mir befohlen, es zu tun, oder er wird mich töten. Ich habe keine Wahl.«
»Kommen Sie auf die richtige Seite, Draco, und wir können Sie besser verstecken, als Sie es sich auch nur vorstellen können. Mehr noch, ich kann heute Nacht Mitglieder des Ordens zu Ihrer Mutter schicken, um sie ebenfalls zu verstecken. Ihr Vater ist im Augenblick in Askaban sicher … zu gegebener Zeit können wir auch ihn schützen … kommen Sie auf die richtige Seite, Draco … Sie sind kein Mörder …«
Malfoy starrte Dumbledore an.
»Aber ich bin doch so weit gekommen, oder?«, sagte er langsam. »Die haben gedacht, ich würde bei dem Versuch sterben, aber ich bin hier … und Sie sind in meiner Gewalt … ich habe den Zauberstab … Sie sind mir gnadenlos ausgeliefert …«
»Nein, Draco«, sagte Dumbledore leise. »Es ist meine Gnade und nicht Ihre, die jetzt entscheidend ist.«
Malfoy schwieg. Sein Mund stand offen, seine Hand mit dem Zauberstab zitterte unentwegt. Harry meinte, sie ein klein wenig sinken zu sehen –
Doch plötzlich kamen polternde Schritte die Treppe herauf und im nächsten Augenblick wurde Malfoy beiseite gedrängt, als vier Leute in schwarzen Umhängen durch die Tür oben auf den Turm gestürmt kamen. Harry war noch immer gelähmt, und seine Augen starrten ohne zu blinzeln voller Angst auf die vier Fremden: Offenbar hatten die Todesser den Kampf unten gewonnen.
Ein schwerfällig wirkender Mann mit einem merkwürdigen schiefen Grinsen ließ ein rasselndes Kichern hören.
»Dumbledore in der Falle!«, sagte er und wandte sich an eine stämmige kleine Frau, die aussah, als könnte sie seine Schwester sein, und die begierig grinste. »Dumbledore ohne Zauberstab, Dumbledore allein! Gut gemacht, Draco, gut gemacht!«
»Guten Abend, Amycus«, sagte Dumbledore ruhig, als würde er den Mann zu einer Teegesellschaft begrüßen. »Und Alecto haben Sie auch mitgebracht … wie reizend …«
Die Frau stieß ein kurzes, wütendes Kichern aus.
»Sie glauben wohl, Ihre kleinen Scherze helfen Ihnen auf dem Sterbebett?«, höhnte sie.
»Scherze? Aber nein, das sind gute Manieren«, erwiderte Dumbledore.
»Tu es«, sagte der Fremde, der Harry am nächsten stand, ein großer, schlaksiger Mann mit mattgrauem Haar und einem Backenbart, dessen schwarzer Todesserumhang unbequem eng wirkte. Er hatte eine Stimme, wie Harry sie noch nie gehört hatte: Es war eine Art schnarrendes Bellen. Harry konnte einen starken Geruch von Schmutz, Schweiß und, unverkennbar, Blut wahrnehmen, der von ihm ausging. Seine schmutzigen Hände hatten lange, gelbliche Fingernägel.
»Sind Sie das, Fenrir?«, fragte Dumbledore.
»Ganz recht«, schnarrte der andere. »Erfreut, mich zu sehen, Dumbledore?«
»Nein, das kann ich nicht gerade sagen …«
Fenrir Greyback grinste und zeigte seine spitzen Zähne. Blut tröpfelte ihm übers Kinn, und er leckte sich langsam und widerlich die Lippen.
»Aber Sie wissen, wie sehr ich Kinder mag, Dumbledore.«
»Heißt das, dass Sie jetzt sogar ohne Vollmond angreifen? Das ist höchst ungewöhnlich … Sie haben eine Vorliebe für Menschenfleisch entwickelt, die nicht bei einer Gelegenheit im Monat befriedigt werden kann?«
»Ganz recht«, sagte Greyback. »Das schockt Sie, oder, Dumbledore? Macht Ihnen Angst?«
»Nun, ich kann nicht verhehlen, dass es mich ein wenig anwidert«, sagte Dumbledore. »Und, ja, ich bin etwas schockiert, dass Draco hier ausgerechnet Sie aufgefordert hat, in die Schule zu kommen, wo seine Freunde leben …«
»Hab ich nicht«, hauchte Malfoy. Er sah Greyback nicht an; er wollte ihm offenbar nicht einmal einen kurzen Blick zuwerfen. »Ich wusste nicht, dass er kommen würde – «
»Ich würde mir eine Gelegenheit, nach Hogwarts zu kommen, nicht entgehen lassen, Dumbledore«, schnarrte Greyback. »Nicht, wenn es Kehlen aufzureißen gibt … köstlich, köstlich …«
Und mit einem gierigen Seitenblick auf Dumbledore hob er einen gelben Fingernagel und kratzte an seinen Vorderzähnen.
»Ich könnte Sie zum Nachtisch nehmen, Dumbledore …«
»Nein«, sagte der vierte Todesser scharf. Er hatte ein grobschlächtiges, brutal aussehendes Gesicht. »Wir haben Befehle. Draco muss es tun. Also, Draco, schnell jetzt.«
Malfoy wirkte unentschlossener denn je. Er schien voller Angst, als er Dumbledore ins Gesicht starrte, das noch blasser war und zu dem er nun hinabblicken musste, da Dumbledore so weit an der Brustwehr hinuntergerutscht war.
»Wenn ihr mich fragt, ist er ohnehin bald nicht mehr von dieser Welt«, sagte der Mann mit dem schiefen Grinsen, begleitet vom rasselnden Kichern seiner Schwester. »Seht ihn euch an – was ist denn los mit Ihnen, Dumby?«
»Oh, geschwächte Widerstandskraft, langsamere Reflexe, Amycus«, sagte Dumbledore. »Kurz, das Alter … eines Tages wird es Ihnen vielleicht auch so ergehen … wenn Sie Glück haben …«
»Was soll das denn heißen, Mann, was soll das denn heißen?«, schrie der Todesser plötzlich heftig. »Ist immer das Gleiche mit Ihnen, stimmt's, Dumby, reden und nichts tun, nichts, ich weiß nicht mal, warum sich der Dunkle Lord überhaupt die Mühe macht, Sie umzubringen! Komm schon, Draco, tu es!«
Doch in diesem Moment waren erneut Kampfgeräusche von unten zu hören und eine Stimme rief: »Sie haben die Treppe versperrt – Reducto! REDUCTO!«
Harrys Herz schlug höher: Also hatten diese vier nicht den gesamten Widerstand niedergeschlagen, sondern waren nur durch das Kampfgetümmel gebrochen und auf den Turm hinaufgestürmt, und wie es sich anhörte, hatten sie eine Barriere hinter sich aufgebaut.
»Also, Draco, schnell!«, sagte der Mann mit dem brutalen Gesicht wütend.
Aber Malfoys Hand zitterte so stark, dass er kaum zielen konnte.
»Ich tu es«, knurrte Greyback und ging mit ausgestreckten Händen und gefletschten Zähnen auf Dumbledore zu.
»Ich sagte nein!«, rief der Mann mit den brutalen Zügen; es gab einen Lichtblitz, und der Werwolf wurde aus dem Weg gesprengt; er schlug gegen die Brustwehr und richtete sich taumelnd und mit wütendem Blick auf. Harrys Herz pochte so heftig, dass es unmöglich schien, dass niemand ihn hören konnte, wie er gefangen durch Dumbledores Zauber dastand – wenn er sich nur bewegen könnte, dann könnte er unter seinem Tarnumhang hervor einen Fluch losschicken –
»Draco, tu es, oder geh beiseite, damit einer von uns – «, kreischte die Frau, doch genau in diesem Moment sprang die Tür zum Turm erneut auf und da stand Snape, den Zauberstab in der Hand, und seine schwarzen Augen huschten über die Szene, von Dumbledore, der an der Mauer zusammengesackt war, über die vier Todesser mitsamt dem wütenden Werwolf bis zu Malfoy.
»Wir haben ein Problem, Snape«, sagte der schwerfällige Amycus, Augen und Zauberstab gleichermaßen auf Dumbledore gerichtet, »der Junge ist offenbar nicht fähig – «
Doch noch jemand hatte Snapes Namen ausgesprochen, ganz leise.
»Severus …«
Dieser Laut jagte Harry mehr Angst ein als alles, was er den ganzen Abend über erlebt hatte. Es war das erste Mal, dass Dumbledore flehte.
Snape sagte nichts, sondern trat vor und stieß Malfoy grob aus dem Weg. Die drei Todesser wichen wortlos zurück. Selbst der Werwolf wirkte eingeschüchtert.
Snape starrte Dumbledore einen Moment lang an, und Abscheu und Hass zeichneten sich auf den harten Zügen seines Gesichts ab.
»Severus … bitte …«
Snape hob seinen Zauberstab und richtete ihn direkt auf Dumbledore.
»Avada Kedavra!«
Ein Strahl grünen Lichts schoss aus der Spitze von Snapes Zauberstab und traf Dumbledore mitten in die Brust. Harrys Entsetzensschrei kam nie über seine Lippen; er war gezwungen, stumm und reglos mit anzusehen, wie Dumbledore in die Luft geschleudert wurde: Für den Bruchteil einer Sekunde schien er unter dem leuchtenden Totenkopf in der Schwebe zu bleiben, dann fiel er langsam, wie eine große Stoffpuppe, rücklings über die Zinnen und verschwand.