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»Komm her, Harry …«
»Nein.«
»Du kannst nich hier bleiben, Harry … nun komm schon …«
»Nein.«
Er wollte nicht von Dumbledores Seite weichen, er wollte nirgendwo hingehen. Hagrids Hand auf seiner Schulter bebte. Dann sagte eine andere Stimme: »Harry, komm mit.«
Eine viel kleinere und wärmere Hand hatte sich um seine geschlossen und zog ihn hoch. Er gehorchte ihrem Druck ohne weiter darüber nachzudenken. Erst als er blind zurück durch die Menge ging, erkannte er an dem Hauch eines Blumendufts, der in der Luft lag, dass es Ginny war, die ihn zurück ins Schloss führte. Unverständliche Stimmen redeten auf ihn ein, Schluchzer und Rufe und Klagen drangen durch die Nacht, aber Harry und Ginny gingen weiter, die Stufen hinauf und zurück in die Eingangshalle: Während sie auf die Marmortreppe zugingen, nahm Harry ganz am Rande Gesichter wahr, die an ihm vorbeischwammen, Leute starrten ihn an, flüsterten, stellten einander Fragen, und Gryffindor-Rubine glitzerten auf dem Boden wie Blutstropfen.
»Wir gehen in den Krankenflügel«, sagte Ginny.
»Ich bin nicht verletzt«, erwiderte Harry.
»Das ist McGonagalls Anweisung«, sagte Ginny. »Alle sind dort oben, Ron und Hermine und Lupin und alle…«
Von neuem regte sich Furcht in Harrys Brust: Jetzt erst fielen ihm die reglosen Gestalten wieder ein, die er hinter sich gelassen hatte.
»Ginny, wer ist sonst noch tot?«
»Keine Sorge, niemand von uns.«
»Aber das Dunkle Mal – Malfoy sagte, er sei über eine Leiche gestiegen – «
»Er ist über Bill gestiegen, aber keine Angst, er ist am Leben.«
Doch etwas in ihrer Stimme, das spürte Harry, ließ nichts Gutes ahnen.
»Bist du sicher?«
»Natürlich bin ich sicher … Er sieht ein bisschen – ein bisschen schlimm aus, das ist alles. Greyback hat ihn angegriffen. Madam Pomfrey meint, er wird nicht – wird nicht mehr so aussehen wie früher …« Ginnys Stimme zitterte ein wenig. »Wir wissen nicht so recht, welche Nachwirkungen das hat – ich meine, Greyback ist zwar ein Werwolf, aber zu dem Zeitpunkt war er nicht verwandelt.«
»Aber die anderen … da lagen doch noch andere Körper am Boden …«
»Neville ist im Krankenflügel, aber Madam Pomfrey denkt, dass er wieder ganz gesund wird, und Professor Flitwick wurde ausgeknockt, aber es geht ihm gut, er ist nur ein bisschen wacklig auf den Beinen. Er wollte unbedingt wieder weg und nach den Ravenclaws schauen. Und ein Todesser ist tot, einer von den Todesflüchen hat ihn getroffen, die der riesige Blonde kreuz und quer durch die Gegend geschossen hat – Harry, ich glaube, wenn wir unseren Felix-Trank nicht gehabt hätten, dann wären wir jetzt alle nicht mehr, aber alles schien uns haarscharf zu verfehlen – «
Sie hatten den Krankenflügel erreicht: Als Harry die Türen aufstieß, sah er Neville in einem Bett am Eingang liegen, offenbar schlafend. Ron, Hermine, Luna, Tonks und Lupin waren um ein Bett nahe dem anderen Ende des Krankensaals versammelt. Als sie die Türen aufgehen hörten, blickten sie auf. Hermine rannte Harry entgegen und umarmte ihn; auch Lupin kam mit besorgtem Blick hinzu.
»Alles in Ordnung mit dir, Harry?«
»Mir geht's gut … was ist mit Bill?«
Niemand antwortete. Harry blickte über Hermines Schulter und sah ein Gesicht auf Bills Kissen, das nicht wiederzuerkennen war, so übel zerschnitten und aufgerissen, dass es grotesk aussah. Madam Pomfrey betupfte seine Wunden mit einer scharf riechenden grünen Salbe. Harry erinnerte sich, wie Snape Malfoys Sectumsempra-Wunden so leicht mit seinem Zauberstab geheilt hatte.
»Können Sie ihn nicht mit einem Zauber oder so etwas wiederherstellen?«, fragte er die Krankenschwester.
»Bei denen hier hilft kein Zauber«, sagte Madam Pomfrey. »Ich habe alles ausprobiert, was ich kenne, aber für Werwolfbisse gibt es keine Heilung.«
»Aber er wurde nicht bei Vollmond gebissen«, sagte Ron, der auf das Gesicht seines Bruders hinabblickte, als könnte er ihn irgendwie zwingen, wieder gesund zu werden, indem er ihn anstarrte. »Greyback war nicht verwandelt, also wird Bill bestimmt kein – kein richtiger –?«
Er sah Lupin unsicher an.
»Nein, ich glaube nicht, dass Bill ein echter Werwolf wird«, sagte Lupin, »doch das heißt nicht, dass es nicht zu einer gewissen Vergiftung kommt. Auf diesen Wunden hier liegt ein Fluch. Sie werden wahrscheinlich nie ganz verheilen – und Bill hat von nun an vielleicht ein paar wölfische Eigenarten.«
»Aber vielleicht weiß Dumbledore etwas, das wirkt«, sagte Ron. »Wo ist er? Bill hat auf Dumbledores Befehl gegen diese Wahnsinnigen gekämpft, Dumbledore sollte ihm dankbar sein, er kann ihn nicht in diesem Zustand lassen – «
»Ron – Dumbledore ist tot«, sagte Ginny.
»Nein!« Lupin blickte ganz außer sich von Ginny zu Harry, als hoffte er, Harry würde ihr widersprechen, doch als er es nicht tat, brach Lupin auf einem Stuhl neben Bills Bett zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. Harry hatte Lupin noch nie die Beherrschung verlieren sehen; er hatte das Gefühl, als ob er in etwas Privates, Ungebührliches eindringen würde; er wandte sich ab, suchte nun Rons Augen und bestätigte ihm mit einem stummen Blick, was Ginny gesagt hatte.
»Wie ist er gestorben?«, flüsterte Tonks. »Wie ist es geschehen?«
»Snape hat ihn getötet«, sagte Harry. »Ich war dabei, ich hab es gesehen. Als wir zurückkamen, sind wir auf dem Astronomieturm gelandet, weil dort das Dunkle Mal war … Dumbledore war krank, er war schwach, aber ich glaube, ihm wurde klar, dass es eine Falle war, als wir schnelle Schritte auf der Treppe hörten. Er hat mich gelähmt, ich konnte nichts tun, ich war unter dem Tarnumhang – und dann kam Malfoy durch die Tür und hat ihn mit einem Zauber entwaffnet – «
Hermine schlug die Hände vor den Mund und Ron stöhnte. Lunas Lippen zitterten.
» dann kamen noch mehr Todesser – und dann Snape – und Snape hat es getan. Mit dem Avada Kedavra.« Harry konnte nicht weitersprechen.
Madam Pomfrey brach in Tränen aus. Keiner achtete auf sie, außer Ginny, die flüsterte: »Schhh! Hören Sie zu!«
Madam Pomfrey schluckte, drückte ihre Finger auf den Mund und riss die Augen auf. Irgendwo draußen in der Dunkelheit sang ein Phönix auf eine Weise, wie Harry es noch nie gehört hatte: Es war eine Klage voller Schmerz und von schrecklicher Schönheit. Und Harry spürte, wie er es schon früher beim Gesang des Phönix erlebt hatte, dass die Musik nicht draußen, sondern in ihm war: Es war sein eigenes Leid, auf magische Weise in ein Lied verwandelt, das über das Gelände und durch die Schlossfenster hallte.
Wie lange sie alle dastanden und lauschten, wusste er nicht, auch nicht, warum es ihren Schmerz offenbar ein wenig linderte, dem Klang ihrer eigenen Trauer zuzuhören, doch es schien einige Zeit vergangen zu sein, als die Türen zum Krankensaal wieder aufgingen und Professor McGonagall hereinkam. Wie alle anderen war sie von dem noch nicht lange zurückliegenden Kampf gezeichnet: Sie hatte Schrammen im Gesicht und ihr Umhang war zerrissen.
»Molly und Arthur sind unterwegs«, sagte sie, und der Bann der Musik war gebrochen: Alle sammelten sich, als würden sie aus einer Trance erwachen, wandten sich wieder Bill zu oder rieben sich die Augen, schüttelten den Kopf. »Harry, was ist passiert? Hagrid zufolge waren Sie bei Professor Dumbledore, als er – als es geschah. Er sagt, Professor Snape sei irgendwie darin verwickelt ge-«
»Snape hat Dumbledore getötet«, sagte Harry.
Sie starrte ihn einen Moment an, dann geriet sie Besorgnis erregend ins Schwanken; Madam Pomfrey, die sich offenbar wieder gefasst hatte, rannte hinzu, beschwor einen Stuhl aus dem Nichts herauf und schob ihn unter McGonagall.
»Snape«, wiederholte McGonagall matt und sank auf den Stuhl. »Wir haben uns alle gewundert … aber er hat … Snape … immer vertraut … ich kann es nicht glauben …«
»Snape war ein hervorragender Okklumentiker«, sagte Lupin mit ungewöhnlich rauer Stimme. »Das haben wir immer gewusst.«
»Aber Dumbledore hat geschworen, dass er auf unserer Seite ist!«, flüsterte Tonks. »Ich dachte immer, Dumbledore muss etwas über Snape wissen, das wir nicht wissen …«
»Er hat immer angedeutet, dass er einen stichhaltigen Grund dafür habe, Snape zu vertrauen«, murmelte Professor McGonagall und tupfte sich die tränennassen Augenwinkel mit einem karogesäumten Taschentuch ab. »Ich meine … bei Snapes Geschichte … die Leute mussten sich unweigerlich fragen … aber Dumbledore hat mir ausdrücklich gesagt, Snapes Reue sei absolut aufrichtig … wollte kein kritisches Wort gegen ihn hören!«
»Ich würde wirklich gern wissen, was Snape zu ihm gesagt hat, das ihn dermaßen überzeugt hat«, meinte Tonks.
»Ich weiß es«, sagte Harry, und alle drehten sich um und starrten ihn an. »Snape hat Voldemort die Information gegeben, die Voldemort dazu brachte, meine Mum und meinen Dad zu jagen und umzubringen. Dann hat Snape Dumbledore gesagt, er sei sich nicht bewusst gewesen, was er tat, es tue ihm wirklich Leid, dass er es getan habe, es tue ihm Leid, dass sie tot seien.«
»Und das hat Dumbledore geglaubt?«, fragte Lupin skeptisch. »Dumbledore hat geglaubt, dass es Snape Leid tut, dass James gestorben ist? Snape hat James gehasst …«
»Und von meiner Mutter hat er auch nicht das Geringste gehalten«, sagte Harry, »weil sie muggelstämmig war … ›Schlammblüterin‹ hat er sie genannt …«
Niemand fragte Harry, woher er das wusste. Alle schienen in ihrem Schock und ihrem Entsetzen versunken, schienen zu versuchen, die ungeheuerliche Wahrheit dessen, was geschehen war, zu verarbeiten.
»Es ist alles meine Schuld«, sagte Professor McGonagall plötzlich. Sie sah verwirrt aus und schlang sich ihr feuchtes Taschentuch um die Hände. »Meine Schuld. Ich habe heute Nacht Filius geschickt, um Snape zu holen, ich habe ihn tatsächlich holen lassen, damit er uns hilft! Wenn ich Snape nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, was vor sich ging, wäre er den Todessern vielleicht nie zu Hilfe geeilt. Ich glaube nicht, dass er wusste, dass sie hier waren, ehe Filius es ihm sagte, ich glaube nicht, dass er wusste, dass sie kommen würden.«
»Es ist nicht deine Schuld, Minerva«, sagte Lupin entschieden. »Wir alle wollten mehr Unterstützung haben, wir alle waren froh bei dem Gedanken, dass Snape auf dem Weg war …«
»Und als er dann zum Kampf stieß, hat er sich auf die Seite der Todesser geschlagen?«, fragte Harry, der jede Einzelheit über Snapes Falschheit und Niedertracht erfahren wollte, um fieberhaft weiter Gründe zu sammeln, ihn zu hassen und Rache zu schwören.
»Ich weiß nicht genau, wie es abgelaufen ist«, sagte Professor McGonagall erregt. »Es ist alles so verwirrend … Dumbledore hatte uns mitgeteilt, er würde die Schule für ein paar Stunden verlassen und wir sollten für alle Fälle in den Korridoren patrouillieren … Remus, Bill und Nymphadora sollten zu uns stoßen … also haben wir patrouilliert. Alles schien ruhig. Jeder Geheimgang aus der Schule heraus war überwacht. Wir wussten, dass niemand hereinfliegen konnte. Über jedem Eingang zum Schloss lagen mächtige Zauber. Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie die Todesser überhaupt hereingekommen sind …«
»Ich weiß es«, sagte Harry und erzählte ihnen kurz von den beiden zusammengehörigen Verschwindekabinetten und dem magischen Verbindungsweg zwischen ihnen. »Sie sind also durch den Raum der Wünsche hereingekommen.«
Beinahe gegen seinen Willen blickte er zu Ron und dann zu Hermine, die beide zutiefst erschüttert wirkten.
»Ich hab's vermasselt, Harry«, sagte Ron bedrückt. »Wir haben getan, was du gesagt hast: Wir haben die Karte des Rumtreibers abgesucht, und weil wir Malfoy nicht darauf finden konnten, dachten wir, er muss im Raum der Wünsche sein, und Ginny und Neville und ich sind hin, um die Sache zu beobachten … aber Malfoy hat es geschafft, an uns vorbeizukommen.«
»Er kam, etwa eine Stunde nachdem wir mit dem Beobachten angefangen hatten, aus dem Raum«, sagte Ginny. »Er war allein und hielt diesen furchtbaren Schrumpfarm – «
»Seine Hand des Ruhmes«, sagte Ron. »Leuchtet nur für den, der sie hält, erinnerst du dich?«
»Wie auch immer«, fuhr Ginny fort, »er muss nachgeschaut haben, ob die Luft rein war, damit er die Todesser rauslassen konnte, denn in dem Moment, als er uns sah, warf er etwas in die Luft und alles wurde pechschwarz – «
» peruanisches Instant-Finsternispulver«, sagte Ron bitter. »Von Fred und George. Ich werd mit denen ein Wort darüber reden müssen, wen sie alles ihre Produkte kaufen lassen.«
»Wir haben alles versucht – Lumos, Incendio«, sagte Ginny. »Nichts ist durch die Dunkelheit gedrungen; wir konnten uns nur noch aus dem Korridor heraustasten, und dabei konnten wir hören, wie Leute an uns vorbeihasteten. Malfoy konnte wegen dieser komischen Hand offenbar etwas sehen und hat sie geführt, aber wir haben uns nicht getraut, irgendwelche Flüche oder so was zu verwenden, um uns nicht gegenseitig zu treffen, und als wir einen Korridor erreichten, in dem es hell war, waren sie verschwunden.«
»Zum Glück sind Ron, Ginny und Neville uns kurz danach über den Weg gelaufen«, sagte Lupin heiser, »sie haben uns erzählt, was passiert war. Wir haben die Todesser Minuten später gefunden, unterwegs in Richtung Astronomieturm. Malfoy hatte offensichtlich nicht erwartet, dass noch mehr Leute Wache halten würden; jedenfalls schien er seinen Vorrat an Finsternispulver aufgebraucht zu haben. Es kam zum Kampf, sie haben sich zerstreut und wir sind ihnen hinterher. Einer von ihnen, Gibbon, hat sich abgesetzt und ist die Turmtreppe hochgelaufen – «
»Um das Mal heraufzubeschwören?«, fragte Harry.
»Er muss es wohl getan haben, ja, sie müssen das abgesprochen haben, ehe sie den Raum der Wünsche verließen«, sagte Lupin. »Aber ich glaube nicht, dass Gibbon der Gedanke gefallen hat, dort oben allein auf Dumbledore zu warten, denn er kam wieder die Treppe heruntergerannt, stürzte sich wieder in den Kampf und wurde von einem Todesfluch getroffen, der mich knapp verfehlt hatte.«
»Und während Ron mit Ginny und Neville den Raum der Wünsche überwacht hat«, sagte Harry und wandte sich an Hermine, »warst du –?«
»Draußen vor Snapes Büro, ja«, flüsterte Hermine, und in ihren Augen glitzerten Tränen, »zusammen mit Luna. Wir haben ewig davor gewartet und nichts ist passiert … wir wussten nicht, was oben los war, Ron hatte die Karte des Rumtreibers mitgenommen … es war fast Mitternacht, als Professor Flitwick in die Kerker heruntergeeilt kam. Er schrie etwas von wegen, Todesser seien im Schloss, ich glaube nicht, dass er überhaupt richtig mitbekommen hat, dass Luna und ich da waren, er ist einfach in Snapes Büro gestürmt, und wir hörten ihn sagen, dass Snape mit ihm zurückgehen muss und helfen muss, und dann hörten wir einen lauten Schlag und Snape kam aus seinem Raum gestürzt und er sah uns und – und …«
»Was?«, drängte Harry.
»Ich war so dumm, Harry!«, flüsterte Hermine aufgeregt. »Er sagte, Professor Flitwick hätte einen Zusammenbruch gehabt und wir sollten rein und uns um ihn kümmern, während er – während er jetzt sofort gehen und beim Kampf gegen die Todesser helfen müsse …«
Sie schlug vor Scham die Hände vors Gesicht und sprach durch ihre Finger weiter, so dass ihre Stimme nun gedämpft klang.
»Wir gingen in sein Büro, um nachzusehen, ob wir Professor Flitwick helfen konnten, und fanden ihn bewusstlos am Boden … und, oh, jetzt ist es so offensichtlich, Snape muss Flitwick mit einem Schockzauber belegt haben, aber wir haben nichts gemerkt, Harry, wir haben nichts gemerkt, wir haben Snape einfach gehen lassen!«
»Es ist nicht eure Schuld«, wandte Lupin entschieden ein. »Hermine, wenn ihr Snape nicht gehorcht hättet und nicht aus dem Weg gegangen wärt, dann hätte er dich und Luna wahrscheinlich getötet.«
»Dann kam er also nach oben«, sagte Harry, der Snape vor seinem geistigen Auge sah, wie er mit seinem wehenden schwarzen Umhang die Marmortreppe hochrannte und auf dem Weg seinen Zauberstab unter dem Umhang hervorzog, »und er hat die Stelle gefunden, wo ihr alle gekämpft habt …«
»Wir steckten in der Klemme, wir waren drauf und dran, zu verlieren«, sagte Tonks mit leiser Stimme. »Gibbon war erledigt, aber der Rest der Todesser schien bereit, bis zum Tod zu kämpfen. Neville war verletzt, Bill war von Greyback angefallen worden … es war völlig dunkel … überall flogen Flüche umher … der junge Malfoy war verschwunden, er muss vorbeigehuscht sein, die Turmtreppe hinauf … dann rannten noch mehr von denen Malfoy nach, aber einer davon hat die Treppe hinter ihnen mit irgendeinem Fluch blockiert … Neville ist dagegengerannt und es hat ihn in die Luft geschleudert – «
»Keiner von uns konnte durchbrechen«, sagte Ron, »und dieser gigantische Todesser schoss immer noch Flüche durch die Gegend, die sind von den Wänden abgeprallt und haben uns haarscharf verfehlt …«
»Und dann war Snape da«, sagte Tonks, »und dann schon wieder weg – «
»Ich hab ihn auf uns zurennen sehen, aber gleich danach ging ein Fluch von diesem riesigen Todesser knapp an mir vorbei, und ich hab mich geduckt und nicht mehr mitbekommen, was passiert ist«, sagte Ginny.
»Ich habe gesehen, wie er geradewegs durch die Fluchbarriere gerannt ist, als ob sie nicht da wäre«, sagte Lupin. »Ich habe versucht, ihm zu folgen, aber ich wurde zurückgeworfen, genau wie Neville …«
»Er muss einen Zauber gekannt haben, den wir nicht kannten«, flüsterte McGonagall. »Schließlich – war er der Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste … ich dachte einfach, er wollte schnell den Todessern nachjagen, die den Turm hinauf entkommen waren …«
»Das hat er auch getan«, sagte Harry grimmig, »aber um ihnen zu helfen, und nicht, um sie aufzuhalten … und ich wette, man musste das Dunkle Mal haben, um durch diese Barriere zu kommen – und was ist passiert, als er wieder runterkam?«
»Also, der große Todesser hatte gerade einen Zauber abgefeuert, der die halbe Decke zum Einsturz brachte und auch den Fluch brach, der die Treppe blockierte«, sagte Lupin. »Wir sind alle darauf zugerannt – das heißt, die von uns, die noch auf den Beinen waren –, und dann tauchten Snape und der Junge aus dem Staub auf – natürlich hat keiner von uns sie angegriffen – «
»Wir haben sie einfach durchgelassen«, sagte Tonks mit dumpfer Stimme, »wir dachten, sie würden von den Todessern verfolgt – und mit einem Mal waren die anderen Todesser und Greyback zurück und wir haben wieder gekämpft – ich dachte, ich hätte Snape etwas rufen hören, aber ich weiß nicht, was – «
»Er hat ›es ist vorbei‹ gerufen«, sagte Harry. »Er hatte getan, was er tun wollte.«
Alle verstummten. Fawkes' Klage hallte noch immer über das dunkle Schlossgelände draußen. Während die Klänge in der Luft vibrierten, schlichen sich ungebetene, unwillkommene Gedanken in Harrys Kopf … hatte man Dumbledores Leichnam schon vom Fuß des Turms entfernt? Was würde jetzt mit ihm geschehen? Wo würde er ruhen? Er ballte die Fäuste in seinen Taschen fest zusammen. An den Fingerknöcheln seiner rechten Hand spürte er den kleinen kalten Klumpen des falschen Horkruxes.
Die Türen des Krankenflügels schlugen auf und alle erschraken: Mr und Mrs Weasley durchquerten den Saal, dicht gefolgt von Fleur, deren hübsches Gesicht voller Angst war.
»Molly – Arthur –, sagte Professor McGonagall, sprang auf und eilte ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. »Es tut mir so furchtbar Leid –
»Bill«, flüsterte Mrs Weasley und stürzte an Professor McGonagall vorbei, als ihr Blick auf Bills zerfleischtes Gesicht fiel. »Oh, Bill!«
Lupin und Tonks waren hastig aufgestanden und hatten sich zurückgezogen, damit Mr und Mrs Weasley näher an das Bett herankonnten. Mrs Weasley beugte sich über ihren Sohn und drückte ihre Lippen auf seine blutige Stirn.
»Du hast gesagt, Greyback hätte ihn angegriffen?«, fragte Mr Weasley beunruhigt Professor McGonagall. »Aber er war nicht verwandelt? Was bedeutet das dann? Was wird mit Bill geschehen?«
»Wir wissen es noch nicht«, sagte Professor McGonagall und blickte hilflos zu Lupin hinüber.
»Er wird wahrscheinlich in gewissem Maße infiziert sein, Arthur«, sagte Lupin. »Es ist ein seltsamer Fall, vielleicht einzigartig … Wir wissen nicht, wie er sich möglicherweise verhalten wird, wenn er aufwacht …«
Mrs Weasley nahm Madam Pomfrey die übel riechende Salbe ab und begann, damit Bills Wunden zu betupfen.
»Und Dumbledore …«, sagte Mr Weasley. »Minerva, ist es wahr … ist er wirklich …?«
Als Professor McGonagall nickte, spürte Harry, wie sich Ginny neben ihm bewegte, und sah sie an. Ihre leicht verengten Augen waren auf Fleur geheftet, die mit starrer Miene auf Bill hinabsah.
»Dumbledore ist nicht mehr«, flüsterte Mr Weasley, aber Mrs Weasley hatte nur Augen für ihren ältesten Sohn; sie begann zu schluchzen, Tränen fielen auf Bills entstelltes Gesicht.
»Natürlich, es ist egal, wie er aussieht … das ist nicht w-wirklich wichtig … aber er war so ein hübscher kleiner J-Junge … immer sehr hübsch … und er w-wollte bald heiraten!«
»Und was meinst du damit?«, sagte Fleur plötzlich und laut. »Was soll das 'eißen, er wollte bald 'eiraten?«
Mrs Weasley hob ihr tränenfeuchtes Gesicht und blickte verdutzt drein.
»Also – nur dass – «
»Du glaubst, Bill will misch nischt mehr 'eiraten?«, drang Fleur auf sie ein. »Du glaubst, weil er so gebissen wurde, wird er misch nischt mehr lieben?«
»Nein, das habe ich nicht – «
»Das wird er sehr wohl!«, sagte Fleur, richtete sich zu voller Größe auf und warf ihre lange silberne Haarmähne zurück. »Es wäre mehr als ein Werwolf nötisch, damit Bill auf'ört misch su lieben!«
»Also, ja, da bin ich sicher«, sagte Mrs Weasley, »aber ich dachte, vielleicht – so, wie er – wie er – «
»Du 'ast geglaubt, isch würde ihn nischt 'eiraten wollen? Oder vielleischt 'ast du es ge'offt?«, sagte Fleur mit bebenden Nasenflügeln. »Was kümmert es misch, wie er aussieht? Isch se'e gut genug aus für uns beide, glaube isch! Alle diese Narben seigen nur, dass mein Mann mutig ist! Und das 'ier erledige isch selbst!«, fügte sie grimmig hinzu, schob Mrs Weasley beiseite und schnappte ihr die Salbe aus der Hand.
Mrs Weasley fiel rücklings gegen ihren Mann und sah zu, wie Fleur mit einem äußerst merkwürdigen Gesichtsausdruck Bills Wunden abtupfte. Niemand sagte ein Wort; Harry wagte es nicht, sich zu rühren. Wie alle anderen wartete er auf die Explosion.
»Unser Großtantchen Muriel«, sagte Mrs Weasley nach einer langen Pause, »hat ein sehr schönes Diadem – von Kobolden gefertigt –, und ich könnte sie sicher überreden, es dir für die Hochzeit zu leihen. Sie hängt sehr an Bill, weißt du, und es würde wunderbar zu deinem Haar passen.«
»Danke serr«, sagte Fleur steif. »Isch bin sischer, es wird wunderbar sein.«
Und dann – Harry bekam nicht richtig mit, wie es passierte – lagen sich beide Frauen plötzlich weinend in den Armen. Völlig verwirrt fragte sich Harry, ob alle Welt verrückt geworden sei, und drehte sich um: Ron sah genauso verblüfft aus, wie Harry sich fühlte, und Ginny und Hermine tauschten bestürzte Blicke.
»Da siehst du mal!«, sagte eine angespannte Stimme. Tonks blickte Lupin finster an. »Sie will ihn trotzdem heiraten, obwohl er gebissen wurde! Es ist ihr egal!«
»Das ist was anderes«, sagte Lupin, der kaum die Lippen bewegte und plötzlich nervös wirkte. »Bill wird kein richtiger Werwolf sein. Die beiden Fälle sind vollkommen – «
»Aber mir ist es auch egal, mir ist es egal!«, sagte Tonks, packte Lupin vorn am Umhang und zerrte daran. »Ich hab dir tausendmal erklärt …«
Und die Bedeutung von Tonks' Patronus und ihres mausbraunen Haares, und der Grund, weshalb sie ins Schloss gerannt war, um Dumbledore aufzusuchen, nachdem sie ein Gerücht gehört hatte, dass jemand von Greyback angegriffen worden sei, dies alles wurde Harry schlagartig klar; es war also doch nicht Sirius gewesen, in den Tonks sich verliebt hatte …
»Und ich hab dir tausendmal erklärt«, erwiderte Lupin, der ihr nicht in die Augen blicken wollte und stattdessen zu Boden sah, »dass ich zu alt bin für dich, zu arm … zu gefährlich …«
»Ich sage dir schon die ganze Zeit, dass du dich in diesem Punkt einfach lächerlich verhältst«, sagte Mrs Weasley über Fleurs Schulter, während sie ihr den Rücken tätschelte.
»Das ist nicht lächerlich«, erwiderte Lupin unnachgiebig. »Tonks hat jemanden verdient, der jung und gesund ist.«
»Aber sie will dich«, sagte Mr Weasley mit einem leisen Lächeln. »Und im Übrigen, Remus, bleiben junge und gesunde Männer nicht unbedingt so.« Er deutete traurig auf seinen Sohn, der zwischen ihnen lag.
»Das ist … nicht der Moment, um darüber zu diskutieren«, sagte Lupin und mied die Blicke der anderen, während er verwirrt umhersah. »Dumbledore ist tot …«
»Dumbledore hätte sich mehr als jeder andere gefreut, wenn er erfahren hätte, dass ein wenig mehr Liebe in der Welt ist«, sagte Professor McGonagall schroff, und in diesem Augenblick öffneten sich die Türen des Krankenflügels erneut und Hagrid kam herein.
Das bisschen von seinem Gesicht, das nicht durch Haar oder Bart verdeckt war, war nass und geschwollen; er zitterte, in Tränen aufgelöst, und hielt ein riesiges gepunktetes Taschentuch in der Hand.
»Es is' … es is' erledigt, Professor«, würgte er hervor. »Ich hab ihn w-weggetragen. Professor Sprout hat die Kinder wieder ins Bett geschickt. Professor Flitwick hat sich hingelegt, aber er sagt, er is' im Nu wieder aufm Damm, und Professor Slughorn sagt, dass das Ministerium informiert is'.«
»Danke, Hagrid«, erwiderte Professor McGonagall, stand sofort auf und wandte sich der Gruppe um Bills Bett zu. »Ich werde mit den Vertretern des Ministeriums sprechen müssen, sobald sie hier sind. Hagrid, bitte richten Sie den Hauslehrern aus – Slughorn kann Slytherin übernehmen –, sie möchten sich umgehend in meinem Büro einfinden. Und ich wünsche, dass Sie auch dabei sind.«
Hagrid nickte, drehte sich um und schlurfte wieder hinaus, und sie blickte zu Harry hinab.
»Vor diesem Treffen hätte ich gerne ein kurzes Gespräch mit Ihnen, Harry. Wenn Sie bitte mit mir kommen …«
Harry stand auf, murmelte Ron, Hermine und Ginny »Wir sehen uns gleich« zu und folgte Professor McGonagall durch den Krankensaal zurück. Die Korridore draußen waren verlassen und es war nichts zu hören außer dem fernen Gesang des Phönix. Es dauerte einige Minuten, bis Harry bemerkte, dass sie nicht auf dem Weg zu Professor McGonagalls Büro waren, sondern zu Dumbledores, und ein paar weitere Sekunden, ehe ihm einfiel, dass sie ja die stellvertretende Schulleiterin gewesen war … offenbar hatte sie nun die Leitung übernommen … also gehörte der Raum hinter dem Wasserspeier jetzt ihr …
Schweigend stiegen sie die sich bewegende Wendeltreppe hinauf und betraten das kreisrunde Büro. Er wusste nicht, was er erwartet hatte: dass der Raum schwarz verhangen sein würde vielleicht, oder vielleicht sogar, dass Dumbledores Leichnam hier liegen würde. Tatsächlich sah der Raum fast genauso aus wie nur wenige Stunden zuvor, als er und Dumbledore ihn verlassen hatten: Die silbernen Instrumente surrten und pafften auf ihren storchbeinigen Tischen, Gryffindors Schwert schimmerte im Mondlicht in seiner Vitrine, der Sprechende Hut lag auf einem Regal hinter dem Schreibtisch. Aber Fawkes' Stange war leer; er sang noch immer sein Klagelied draußen auf dem Schlossgelände. Und ein neues Porträt war in den Reihen der verstorbenen Schulleiter und Schulleiterinnen von Hogwarts … Dumbledore schlummerte in einem goldenen Rahmen über dem Schreibtisch, die Halbmondbrille auf der Hakennase, mit friedlicher und sorgloser Miene.
Professor McGonagall warf einen kurzen Blick auf das Porträt und machte eine eigenartige Bewegung, als würde sie sich wappnen, dann ging sie um den Schreibtisch herum und sah Harry mit angespanntem und zerfurchtem Gesicht an.
»Harry«, sagte sie, »ich würde gerne wissen, was Sie und Dumbledore heute Abend gemacht haben, nachdem Sie die Schule verlassen hatten.«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Professor«, entgegnete Harry. Er hatte die Frage erwartet und seine Antwort parat. Hier, genau in diesem Raum, hatte Dumbledore ihn aufgefordert, keinem außer Ron und Hermine anzuvertrauen, was sie im Unterricht besprochen hatten.
»Harry, es könnte wichtig sein«, sagte Professor McGonagall.
»Das ist es«, sagte Harry, »sehr wichtig, aber er wollte nicht, dass ich es jemandem erzähle.«
Professor McGonagall blickte ihn finster an.
»Potter«, (Harry fiel auf, dass sie nun wieder seinen Nachnamen gebrauchte), »ich denke, Sie müssen angesichts der Tatsache, dass Professor Dumbledore tot ist, einsehen, dass sich die Lage ein wenig verändert hat – «
»Das glaube ich nicht«, sagte Harry achselzuckend. »Professor Dumbledore hat nie gesagt, dass ich seine Befehle nicht mehr befolgen soll, wenn er einmal tot ist.«
»Aber – «
»Eins sollten Sie wissen, ehe die Leute vom Ministerium da sind. Madam Rosmerta steht unter dem Imperius-Fluch, sie hat Malfoy und den Todessern geholfen, auf diese Weise kamen das Halsband und der vergiftete Met – «
»Rosmerta?«, sagte Professor McGonagall ungläubig, doch ehe sie fortfahren konnte, klopfte es an der Tür hinter ihnen und die Professoren Sprout, Flitwick und Slughorn kamen hereingeschlurft, gefolgt von Hagrid, der immer noch in Tränen aufgelöst war und dessen riesige Gestalt vor Kummer zitterte.
»Snape!«, stieß Slughorn hervor, der, bleich und schwitzend, am erschüttertsten von allen wirkte. »Snape! Er war mein Schüler! Ich dachte, ich kenne ihn!«
Doch ehe einer von ihnen darauf antworten konnte, meldete sich von hoch oben an der Wand eine scharfe Stimme: Ein fahlgesichtiger Zauberer mit kurzen schwarzen Stirnfransen war gerade auf seine leere Leinwand zurückgekehrt.
»Minerva, der Minister wird in ein paar Sekunden hier sein, er ist soeben aus dem Ministerium disappariert.«
»Danke, Everard«, sagte Professor McGonagall und wandte sich rasch ihren Lehrern zu.
»Ehe er hier ist, möchte ich noch darüber reden, wie es mit Hogwarts weitergehen soll«, sagte sie rasch. »Ich persönlich bin nicht davon überzeugt, dass die Schule nächstes Jahr wieder geöffnet werden sollte. Der Tod des Schulleiters durch die Hand eines unserer Kollegen ist ein furchtbarer Schandfleck in Hogwarts' Geschichte. Es ist schrecklich.«
»Ich bin sicher, Dumbledore hätte gewollt, dass die Schule geöffnet bleibt«, sagte Professor Sprout. »Ich denke, wenn auch nur ein einziger Schüler kommen will, dann sollte die Schule für diesen Schüler geöffnet bleiben.«
»Aber werden wir nach diesen Vorfällen einen einzigen Schüler haben?«, fragte Slughorn und tupfte sich die schwitzende Stirn mit einem seidenen Taschentuch ab. »Die Eltern werden ihre Kinder zu Hause behalten wollen und ich kann es ihnen keineswegs verdenken. Ich persönlich glaube nicht, dass wir in Hogwarts gefährdeter sind als irgendwo sonst, aber man kann nicht erwarten, dass Mütter genauso denken. Sie werden ihre Familien zusammenhalten wollen, das ist nur natürlich.«
»Dieser Meinung bin ich auch«, sagte Professor McGonagall. »Und man kann jedenfalls nicht behaupten, dass Professor Dumbledore sich nie in einer Situation befand, in der Hogwarts möglicherweise geschlossen werden sollte. Als sich die Kammer des Schreckens von neuem öffnete, zog er die Schließung der Schule in Betracht – und ich muss sagen, dass der Mord an Professor Dumbledore mich mehr beunruhigt als die Vorstellung, Slytherins Monster würde unentdeckt in den Eingeweiden des Schlosses leben …«
»Wir müssen die Schulräte befragen«, sagte Professor Flitwick mit seiner leisen quiekenden Stimme; er hatte einen großen Bluterguss auf der Stirn, schien jedoch ansonsten bei seinem Zusammenbruch in Snapes Büro nicht zu Schaden gekommen zu sein. »Wir müssen uns an die herkömmlichen Verfahrensweisen halten. Eine Entscheidung sollte nicht überstürzt werden.«
»Hagrid, Sie haben sich gar nicht geäußert«, sagte Professor McGonagall. »Wie ist Ihre Ansicht, sollte Hogwarts geöffnet bleiben?«
Hagrid, der während des ganzen Gesprächs stumm in sein großes getüpfeltes Taschentuch geweint hatte, hob nun die verschwollenen Augen und krächzte: »Ich weiß nich, Professor … das müss'n die Hauslehrer und die Schulleiterin entscheiden …«
»Professor Dumbledore hat Ihre Meinung immer geschätzt«, sagte Professor McGonagall freundlich, »und das tue ich auch.«
»Also, ich bleib hier«, sagte Hagrid, und noch immer liefen ihm dicke Tränen aus den Augenwinkeln und tröpfelten in seinen verfilzten Bart. »'s is' mein Zuhause hier, 's war mein Zuhause, seit ich dreizehn war. Und wenn's Kinder gibt, die woll'n, dass ich ihnen was beibring, dann mach ich's. Aber … ich weiß nich … Hogwarts ohne Dumbledore …«
Er schluckte, verschwand erneut hinter seinem Taschentuch, und Stille trat ein.
»Na schön«, sagte Professor McGonagall und blickte aus dem Fenster über das Gelände, um zu sehen, ob der Minister schon im Anmarsch war, »dann muss ich Filius zustimmen, dass es das Richtige ist, die Schulräte zu befragen und ihnen die endgültige Entscheidung zu überlassen.
Was die Heimreise der Schüler angeht … gibt es gute Gründe, dass diese eher früher als später stattfinden sollte. Wenn nötig, könnten wir es so einrichten, dass der Hogwarts-Express morgen kommt.«
»Was ist mit Dumbledores Begräbnis?«, ergriff Harry nun endlich das Wort.
»Nun …«, sagte Professor McGonagall, und da ihre Stimme bebte, wirkte sie etwas weniger energisch. »Ich – ich weiß, es war Dumbledores Wunsch, hier in Hogwarts begraben zu werden.
»Dann wird das auch geschehen, oder?«, sagte Harry grimmig.
»Wenn das Ministerium es für angemessen hält«, erwiderte Professor McGonagall. »Noch nie wurde ein Schulleiter oder eine Schulleiterin - «
»Noch nie hat ein Schulleiter oder eine Schulleiterin mehr für diese Schule gege'm«, knurrte Hagrid.
»Hogwarts sollte Dumbledores letzte Ruhestätte sein«, sagte Professor Flitwick.
»Aber natürlich«, sagte Professor Sprout.
»Und in diesem Fall«, sagte Harry, »sollten Sie die Schüler nicht vor dem Begräbnis nach Hause schicken. Sie wollen sich sicher …«
Das letzte Wort blieb ihm im Hals stecken, aber Professor Sprout beendete den Satz für ihn.
»… verabschieden.«
»Gut gesagt«, quiekte Professor Flitwick. »Gut gesagt, in der Tat! Unsere Schüler sollten ihren Respekt erweisen, so gehört es sich. Für den Heimtransport können wir danach sorgen.«
»Ganz genau«, bellte Professor Sprout.
»Ich schätze … ja …«, sagte Slughorn und seine Stimme klang recht aufgewühlt, während Hagrid mit einem erstickten Schluchzer zustimmte.
»Er kommt«, sagte Professor McGonagall plötzlich und spähte hinunter auf das Schlossgelände. »Der Minister … und wie es aussieht, hat er eine Delegation mitgebracht …«
»Kann ich gehen, Professor?«, sagte Harry sofort.
Er hatte nicht das geringste Bedürfnis, in dieser Nacht Rufus Scrimgeour zu sehen oder von ihm verhört zu werden.
»Ja«, sagte Professor McGonagall, »aber schnell.«
Sie schritt auf die Tür zu und hielt sie für ihn auf. Er rannte die Wendeltreppe hinunter und den verlassenen Korridor entlang; er hatte seinen Tarnumhang auf dem Astronomieturm gelassen, doch es spielte keine Rolle; in den Korridoren war niemand, der ihn hätte vorbeigehen sehen können, nicht einmal Filch, Mrs Norris oder Peeves. Er traf keine Menschenseele, bis er in den Gang einbog, der zum Gemeinschaftsraum der Gryffindors führte.
»Ist es wahr?«, flüsterte die fette Dame, als er sich näherte. »Ist es wirklich wahr? Dumbledore – tot?«
»Ja«, sagte Harry.
Sie stieß einen klagenden Schrei aus und schwang vor, um ihn einzulassen, ohne auf das Passwort zu warten.
Wie Harry vermutet hatte, war es im Gemeinschaftsraum gerammelt voll. Als er durch das Porträtloch kletterte, wurde es still. Er sah Dean und Seamus mit einigen anderen in der Nähe sitzen: Das bedeutete, dass der Schlafsaal leer sein musste, oder fast leer. Ohne mit jemandem zu sprechen oder auch nur jemandem in die Augen zu sehen, ging Harry mitten durch den Raum und durch die Tür zu den Jungenschlafsälen.
Wie er gehofft hatte, saß Ron immer noch komplett angezogen auf dem Bett und wartete auf ihn. Harry setzte sich auf sein Himmelbett und einen Moment lang starrten sie einander nur an.
»Sie reden darüber, ob man die Schule schließen sollte«, sagte Harry.
»Lupin meinte, dass sie das machen werden«, sagte Ron.
Eine Pause trat ein.
»Und?«, sagte Ron mit sehr leiser Stimme, als glaubte er, die Möbel würden sie belauschen. »Habt ihr einen gefunden? Habt ihr einen gekriegt? Einen – einen Horkrux?«
Harry schüttelte den Kopf. Alles, was an diesem schwarzen See geschehen war, kam ihm jetzt wie ein längst vergangener Alptraum vor; war es wirklich passiert, nur Stunden zuvor?
»Ihr habt ihn nicht gekriegt?«, sagte Ron mit niedergeschlagener Miene. »Er war nicht dort?«
»Nein«, sagte Harry. »Jemand hatte ihn schon weggenommen und einen falschen an seinem Platz zurückgelassen.«
»Schon weggenommen –?«
Wortlos zog Harry das falsche Medaillon aus seiner Tasche, öffnete es und gab es Ron. Die ganze Geschichte hatte Zeit … sie war in dieser Nacht nicht wichtig … nichts war wichtig außer dem Ende, dem Ende ihres sinnlosen Abenteuers, dem Ende von Dumbledores Leben …
»R. A. B.«, flüsterte Ron, »aber wer war das?«
»Keine Ahnung«, sagte Harry, legte sich in all seinen Sachen auf dem Bett zurück und starrte mit leerem Blick nach oben. Er verspürte überhaupt keine Neugier, was R. A. B. anging: Er bezweifelte, dass er je wieder neugierig sein würde. Während er dalag, wurde ihm plötzlich bewusst, dass es über dem Schlossgelände still war. Fawkes hatte aufgehört zu singen.
Und er wusste, ohne zu wissen, woher, dass der Phönix verschwunden war, dass er Hogwarts für immer verlassen hatte, wie auch Dumbledore die Schule verlassen hatte, die Welt verlassen hatte … Harry verlassen hatte.