123303.fb2
Der gesamte Unterricht wurde eingestellt, alle Prüfungen waren verschoben. Einige Schüler wurden während der nächsten Tage von ihren Eltern eilends von Hogwarts abgeholt – die Patil-Zwillinge waren noch vor dem Frühstück am Morgen nach Dumbledores Tod verschwunden, und Zacharias Smith wurde von seinem überheblich wirkenden Vater aus der Schule geleitet. Seamus Finnigan hingegen weigerte sich glatt, mit seiner Mutter nach Hause zu fahren; sie hatten eine lautstarke Auseinandersetzung in der Eingangshalle, die damit endete, dass seine Mutter ihm erlaubte, bis nach der Beerdigung zu bleiben. Sie hatte Schwierigkeiten, in Hogsmeade eine Unterkunft zu finden, berichtete Seamus Harry und Ron, weil Zauberer und Hexen in das Dorf strömten, die Dumbledore die letzte Ehre erweisen wollten.
Unter den jüngeren Schülern, die das noch nie gesehen hatten, gab es einige Aufregung, als eine pastellblaue Kutsche, groß wie ein Haus, gezogen von einem Dutzend gigantischer geflügelter Palominos, am späten Nachmittag vor der Beerdigung vom Himmel gerauscht kam und am Waldrand landete. Harry sah von einem Fenster aus zu, wie eine riesige und hübsche schwarzhaarige Frau mit olivfarbenem Teint die Kutschenstufen hinabstieg und sich in die Arme des wartenden Hagrid warf. Mittlerweile war eine Delegation aus Ministeriumsvertretern, darunter der Zaubereiminister persönlich, im Schloss einquartiert worden. Harry vermied sorgsam jeglichen Kontakt mit ihnen; früher oder später würde man ihn sicher erneut auffordern zu berichten, was Dumbledore getan hatte, als er Hogwarts zum letzten Mal verlassen hatte.
Harry, Ron, Hermine und Ginny verbrachten all ihre Zeit gemeinsam. Das schöne Wetter war ein Hohn; Harry konnte sich ausmalen, wie diese Zeit ganz am Ende des Schuljahres für sie gewesen wäre, wenn Dumbledore nicht gestorben wäre: Ginny war mit den Prüfungen fertig, es gab keinen Druck mehr, Hausaufgaben zu machen … Und von Stunde zu Stunde schob er hinaus, was er sagen musste und was er, weil es das Richtige war, tun musste, denn es war zu bitter, auf jene Quelle, die ihm am meisten Trost spendete, zu verzichten.
Zweimal am Tag gingen sie in den Krankenflügel: Neville war entlassen worden, aber Bill blieb in Madam Pomfreys Obhut. Seine Narben waren genauso schlimm wie zuvor; tatsächlich hatte er jetzt eine entfernte Ähnlichkeit mit Mad-Eye Moody, auch wenn Bill zum Glück noch beide Augen und Beine besaß, doch sein Charakter war offenbar derselbe geblieben. Alles, was sich verändert zu haben schien, war, dass er nun eine große Vorliebe für sehr blutige Steaks hatte.
»… also ist es nur gut, dass er misch 'eiratet«, sagte Fleur selig und schüttelte Bills Kissen auf, »weil die Briten ihr Fleisch su lange braten, das 'abe isch immer gesagt.«
»Ich glaub, ich muss mich einfach damit abfinden, dass er sie wirklich heiraten wird«, seufzte Ginny später am Abend, als sie, Harry, Ron und Hermine am offenen Fenster des Gryffindor-Gemeinschaftsraums saßen und auf das dämmrige Schlossgelände hinausschauten.
»Sie ist doch gar nicht so übel«, sagte Harry. »Aber hässlich«, fügte er hastig hinzu, als Ginny die Augenbrauen hochzog, und sie ließ ein zögerndes Kichern hören.
»Also, ich denke, wenn Mum es aushalten kann, dann kann ich es auch.«
»Sonst noch jemand gestorben, den wir kennen?«, fragte Ron Hermine, die aufmerksam den Abendpropheten las.
Die angestrengte Härte seiner Stimme ließ Hermine zusammenzucken.
»Nein«, sagte sie missbilligend und faltete die Zeitung zusammen. »Sie suchen immer noch nach Snape, aber keine Spur …«
»Natürlich gibt es keine«, sagte Harry, der jedes Mal wütend wurde, wenn dieses Thema zur Sprache kam. »Die werden Snape nicht finden, bis sie Voldemort finden, und wenn sie das all die Zeit schon nicht geschafft haben …«
»Ich geh ins Bett«, gähnte Ginny. »Ich hab nicht sonderlich gut geschlafen, seit … also … ich könnte ein bisschen Schlaf vertragen.«
Sie küsste Harry (Ron sah demonstrativ weg), winkte den beiden anderen und verschwand in Richtung Mädchenschlafsäle. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, beugte sich Hermine mit einem höchst herminehaften Gesichtsausdruck zu Harry vor.
»Harry, ich habe heute Morgen etwas rausgefunden, in der Bibliothek …«
»R. A. B. ?«, sagte Harry und richtete sich auf.
Er fühlte sich nicht, wie so häufig zuvor, aufgeregt, neugierig, erpicht darauf, einem Geheimnis auf den Grund zu kommen; er wusste nur, dass die Aufgabe, die Wahrheit über den echten Horkrux herauszufinden, gelöst werden musste, ehe er auf dem dunklen und gewundenen Weg ein Stück vorankam, der sich vor ihm erstreckte, auf dem Weg, den er und Dumbledore gemeinsam angetreten hatten und von dem er nun wusste, dass er ihn allein würde gehen müssen. Es waren vielleicht noch immer vier Horkruxe irgendwo dort draußen, und jeder musste gefunden und zerstört werden, ehe es überhaupt eine Möglichkeit gab, Voldemort zu töten. Er sagte sich immer wieder ihre Namen vor, als ob er sie in Reichweite bringen könnte, wenn er sie aufzählte: »das Medaillon … der Becher … die Schlange … etwas von Gryffindor oder Ravenclaw … das Medaillon … der Becher … die Schlange … etwas von Gryffindor oder Ravenclaw …«
Dieses Mantra schien in Harrys Kopf zu pulsieren, wenn er abends einschlief, und seine Träume waren voller Becher, Medaillons und mysteriöser Gegenstände, die er nie richtig zu fassen bekam, obwohl Dumbledore ihm hilfreich eine Strickleiter anbot, die sich jedoch in Schlangen verwandelte, sobald er loskletterte …
Er hatte Hermine am Morgen nach Dumbledores Tod den Brief aus dem Medaillon gezeigt, und obwohl sie die Initialen nicht sofort als die eines obskuren Zauberers erkannt hatte, von dem sie schon gelesen hatte, war sie seither ein wenig häufiger in die Bibliothek gerannt, als es jemand, der keine Hausaufgaben zu erledigen hatte, unbedingt hätte tun müssen.
»Nein«, sagte sie niedergeschlagen, »ich hab es versucht, Harry, aber ich hab nichts gefunden … es gibt ein paar einigermaßen bekannte Zauberer mit diesen Initialen – Rosalind Antigone Bungs … Rupert ›Axebanger‹ Brookstanton … aber die scheinen überhaupt nicht zu passen. Diesem Brief nach kannte die Person, die den Horkrux gestohlen hat, Voldemort, und ich kann nicht das geringste Anzeichen dafür finden, dass Bungs oder Axebanger je irgendetwas mit ihm zu schaffen hatten … nein, eigentlich geht es um … na ja, Snape.«
Sie wirkte allein schon beim Aussprechen des Namens nervös.
»Was ist mit ihm?«, fragte Harry mit schwerer Stimme und ließ sich wieder in seinen Sessel sinken.
»Also, es ist nur, dass ich irgendwie Recht hatte bei dieser Halbblutprinz-Geschichte«, sagte sie zögernd.
»Musst du ewig darauf herumreiten, Hermine? Was glaubst du, wie ich mich jetzt dabei fühle?«
»Nein – nein – das war nicht so gemeint, Harry!«, sagte sie hastig und blickte umher, um sich zu vergewissern, dass keiner mithörte. »Ich wollte nur sagen, dass ich Recht hatte, dass das Buch früher mal Eileen Prince gehört hat. Weißt du … sie war Snapes Mutter!«
»Ich hab mir schon gedacht, dass sie nicht gerade 'ne Schönheit war«, bemerkte Ron. Hermine ignorierte ihn.
»Ich hab die restlichen alten Propheten durchgesehen und eine kleine Anzeige gefunden, dass Eileen Prince einen Mann namens Tobias Snape geheiratet hat, und später eine Geburtsanzeige, dass sie …«
»… einen Mörder in die Welt gesetzt hat«, fauchte Harry.
»Nun … ja«, sagte Hermine. »Also … hatte ich irgendwie Recht. Snape war offenbar stolz, ein ›halber Prinz‹ zu sein, verstehst du? Tobias Snape war nach dem, was im Propheten stand, ein Muggel.«
»Ja, das passt«, sagte Harry. »Er hat den Reinblüter rausgekehrt, damit er sich mit Lucius Malfoy und den anderen anfreunden konnte … er ist genau wie Voldemort. Mutter reinblütig, Vater Muggel … schämt sich für seine Herkunft, versucht, mit Hilfe der dunklen Künste Angst um sich herum zu verbreiten, legt sich einen eindrucksvollen neuen Namen zu – Lord Voldemort – der Halbblutprinz –, wie konnte Dumbledore das nur übersehen –?«
Er brach ab und blickte aus dem Fenster. Immer wieder kam er auf Dumbledores unentschuldbares Vertrauen in Snape zurück … doch Hermine hatte ihn gerade unabsichtlich daran erinnert, dass er, Harry, genauso reingefallen war … obwohl diese hingekritzelten Zauber immer gemeiner geworden waren, hatte er sich geweigert, schlecht von dem Jungen zu denken, der so klug war, der ihm so sehr geholfen hatte …
Ihm geholfen hatte … das war inzwischen ein fast unerträglicher Gedanke …
»Ich begreif immer noch nicht, warum er dich wegen diesem Buch nicht gemeldet hat«, sagte Ron. »Er muss doch gewusst haben, wo du das alles herhattest.«
»Er wusste es«, sagte Harry bitter. »Er wusste es, nachdem ich Sectumsempra benutzt hatte. Er brauchte eigentlich keine Legilimentik … er hat es vielleicht sogar schon vorher gewusst, weil Slughorn doch darüber geredet hat, wie hervorragend ich in Zaubertränke war … hätte sein altes Buch nicht unten in diesem Schrank zurücklassen sollen, oder?«
»Aber warum hat er dich nicht gemeldet?«
»Ich glaube, er wollte sich selbst nicht mit diesem Buch in Verbindung bringen«, sagte Hermine. »Ich glaube, Dumbledore wäre nicht sonderlich begeistert gewesen, wenn er es erfahren hätte. Und selbst wenn Snape so getan hätte, als wäre es nicht seins gewesen, hätte Slughorn seine Handschrift sofort erkannt. Das Buch war jedenfalls in Snapes altem Klassenzimmer zurückgelassen worden, und ich wette, Dumbledore wusste, dass seine Mutter ›Prince‹ hieß.«
»Ich hätte Dumbledore das Buch zeigen sollen«, sagte Harry. »Die ganze Zeit hat er mir vor Augen geführt, wie böse Voldemort sogar schon in der Schule war, und ich hatte den Beweis: Snape war genauso –«
»›Böse‹ ist ein hartes Wort«, sagte Hermine leise.
»Du warst es doch, die mir ständig gesagt hat, das Buch sei gefährlich!«
»Was ich eigentlich sagen will, Harry, ist, dass du dir selbst zu viel Schuld gibst. Ich dachte, der Prinz schien eine fiese Art von Humor zu haben, aber ich hätte nie vermutet, dass er ein potenzieller Mörder war …«
»Keiner von uns hätte gedacht, dass Snape … ihr wisst schon«, sagte Ron.
Sie verfielen in Schweigen und hingen ihren Gedanken nach, aber Harry war sicher, dass die beiden genau wie er selbst an den nächsten Morgen dachten, an dem Dumbledore bestattet werden sollte. Harry war noch nie bei einer Beerdigung gewesen; als Sirius gestorben war, hatte es keinen Leichnam gegeben, der begraben werden konnte. Harry wusste nicht, was auf ihn zukam, und machte sich ein wenig Sorgen, was er zu sehen bekommen würde und wie es ihm ergehen würde. Er fragte sich, ob Dumbledores Tod ihm wirklicher vorkommen würde, wenn die Beerdigung einmal vorbei war. Obwohl ihn die furchtbare Tatsache in manchen Momenten zu überwältigen drohte, gab es auch Zeiten, in denen er sich leer und abgestumpft fühlte und in denen er es, auch wenn niemand im ganzen Schloss über etwas anderes redete, immer noch schwierig fand, zu glauben, dass Dumbledore wirklich gestorben war. Zugegeben, er hatte nicht, wie noch bei Sirius, verzweifelt nach einer Art Schlupfloch gesucht, nach einem Weg, auf dem Dumbledore zurückkommen könnte … er tastete in seiner Tasche nach der kalten Kette des falschen Horkruxes, den er nun überallhin mitnahm, nicht als Talisman, sondern als Erinnerung daran, welch hohen Preis er gekostet hatte und was noch zu tun blieb.
Am nächsten Tag stand Harry früh auf, um zu packen; der Hogwarts-Express würde eine Stunde nach dem Begräbnis abfahren. Die Stimmung unten in der Großen Halle war gedämpft. Alle trugen ihre besten Umhänge und niemand schien sonderlich Hunger zu haben. Professor McGonagall hatte den thronartigen Stuhl in der Mitte des Lehrertischs frei gelassen. Auch Hagrids Stuhl war nicht besetzt: Harry überlegte, dass er es vielleicht nicht über sich gebracht hatte, zum Frühstück zu kommen; aber Snapes Platz war ohne viel Federlesen von Rufus Scrimgeour eingenommen worden. Harry mied den Blick seiner gelblichen Augen, der durch die Halle streifte; er hatte das unangenehme Gefühl, dass Scrimgeour nach ihm suchte. Unter Scrimgeours Begleitern erkannte Harry das rote Haar und die Hornbrille von Percy Weasley. Ron ließ sich nicht anmerken, dass er Percy gesehen hatte, abgesehen davon, dass er mit ungewöhnlicher Bösartigkeit auf seine Räucherheringe einstach.
Drüben am Slytherin-Tisch hatten Crabbe und Goyle die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten. Obwohl sie riesige Kerle waren, wirkten sie doch merkwürdig einsam ohne die große, bleiche Gestalt von Malfoy in ihrer Mitte, der sie herumkommandierte. Harry hatte nicht viele Gedanken an Malfoy verschwendet. Seine Feindschaft galt allein Snape, aber er hatte die Angst in Malfoys Stimme dort oben auf dem Turm nicht vergessen, und auch nicht die Tatsache, dass er seinen Zauberstab gesenkt hatte, ehe die anderen Todesser gekommen waren. Harry glaubte nicht, dass Malfoy Dumbledore getötet hätte. Er verachtete Malfoy immer noch, weil er so vernarrt war in die dunklen Künste, doch nun mischte sich ein winziger Tropfen Mitgefühl in seine Abneigung. Wo, fragte sich Harry, steckte Malfoy jetzt, und wozu zwang ihn Voldemort unter der Androhung, ihn und seine Eltern zu töten?
Ginny stieß Harry in die Rippen und riss ihn aus seinen Gedanken. Professor McGonagall war aufgestanden und das düstere Geflüster in der Halle erstarb sofort.
»Es ist nun an der Zeit«, sagte sie. »Bitte folgt euren Hauslehrern hinaus auf das Gelände. Die Gryffindors mir nach.«
Sie erhoben sich beinahe stumm von ihren Bänken und marschierten hintereinanderher hinaus. Harry erhaschte einen Blick auf Slughorn an der Spitze der Slytherins, er trug einen prunkvollen, langen, silbern bestickten smaragdgrünen Umhang. Professor Sprout, die Hauslehrerin der Hufflepuffs, hatte er noch nie so proper gesehen; auf ihrem Hut war kein einziger Flicken. Und als sie die Eingangshalle erreichten, sahen sie Madam Pince neben Filch stehen, sie mit einem dichten schwarzen Schleier, der ihr bis zu den Knien fiel, er in einem alten schwarzen Anzug mit Krawatte, der nach Mottenkugeln roch.
Als Harry aus dem Portal hinaus auf die steinernen Stufen trat, sah er, dass es in Richtung See ging. Die Sonne strich ihm warm über sein Gesicht, während sie Professor McGonagall schweigend zu dem Platz folgten, wo Hunderte von Stühlen in Reihen aufgestellt worden waren. In der Mitte verlief ein Gang: Vorne stand ein Marmortisch, auf den alle Stühle ausgerichtet waren. Es war der schönste Sommertag.
Eine ungewöhnliche Mischung von Leuten hatte sich bereits auf der Hälfte der Stühle niedergelassen: schäbig und schick, alt und jung. Die meisten kannte Harry nicht, einige allerdings schon, darunter Mitglieder des Phönixordens: Kingsley Shacklebolt, Mad-Eye Moody, Tonks, deren Haar wunderbarerweise wieder von einem höchst leuchtenden Rosa war, Remus Lupin, offenbar Hand in Hand mit ihr, Mr und Mrs Weasley, Bill, von Fleur gestützt und gefolgt von Fred und George, die Jacketts aus schwarzer Drachenhaut trugen. Dann war da Madame Maxime, die allein schon zweieinhalb Stühle beanspruchte, Tom, der Wirt des Tropfenden Kessels, Harrys Nachbarin, die Squib Arabella Figg, die wildmähnige Bassistin der magischen Musikgruppe Schwestern des Schicksals, Ernie Prang, Chauffeur des Fahrenden Ritters, Madam Malkin vom Kleidergeschäft in der Winkelgasse und einige Leute, die Harry nur vom Sehen kannte, wie der Wirt des Eberkopfs und die Hexe, die den Imbisswagen im Hogwarts-Express schob. Die Schlossgespenster waren auch da, im hellen Sonnenlicht kaum zu erkennen und nur zu unterscheiden, wenn sie sich bewegten und ätherisch in der flirrenden Luft schimmerten.
Harry, Ron, Hermine und Ginny setzten sich nebeneinander ans Ende einer Stuhlreihe am Seeufer. Leute flüsterten miteinander; es klang wie eine Brise im Gras, aber der Gesang der Vögel war bei weitem lauter. Die Menge wurde immer größer; mit einer jähen Anwandlung von Zuneigung beobachtete Harry, wie Luna Neville auf einen Stuhl half. Sie waren die einzigen von allen Mitgliedern der DA gewesen, die Hermines Ruf in der Nacht von Dumbledores Tod gefolgt waren, und Harry wusste, warum: Sie hatten die DA am meisten vermisst … vermutlich hatten sie ihre Münzen regelmäßig geprüft, in der Hoffnung, dass es ein weiteres Treffen geben würde …
Cornelius Fudge ging mit trauriger Miene an ihnen vorbei zu den vorderen Reihen und drehte wie üblich seinen grünen Bowler in den Händen; als Nächstes erkannte Harry Rita Kimmkorn, die, wie er zornig bemerkte, ein Notizbuch in ihren rot lackierten Krallen hielt; und es versetzte ihm einen noch zornigeren Stich, als er Dolores Umbridge sah, mit einer fadenscheinigen Trauermiene auf ihrem krötenartigen Gesicht und einer schwarzen Samtschleife auf ihren eisengrauen Locken. Beim Anblick des Zentauren Firenze, der wie ein Wächter nahe dem Ufer stand, zuckte sie zusammen und trippelte hastig zu einem Stuhl in beträchtlicher Entfernung.
Als Letzte nahmen die Lehrer Platz. Harry konnte in der ersten Reihe Scrimgeour mit ernstem und würdevollem Gesicht neben Professor McGonagall sitzen sehen. Er fragte sich, ob Scrimgeour oder irgendeiner von diesen wichtigen Leuten wirklich traurig darüber war, dass Dumbledore tot war. Doch dann hörte er Musik, seltsame Musik wie aus einer anderen Welt, und er vergaß seine Abneigung gegen das Ministerium, als er sich nach ihrer Quelle umsah. Er war nicht der Einzige: Viele Köpfe drehten sich suchend und ein wenig beunruhigt um.
»Da drin«, flüsterte Ginny Harry ins Ohr.
Und er sah sie in dem klaren grünen, sonnenbeschienenen Wasser, Zentimeter unter der Oberfläche, und sie erinnerten ihn auf schreckliche Weise an die Inferi; ein Chor von Wassermenschen sang in einer eigentümlichen Sprache, die er nicht verstand, ihre bleichen Gesichter kräuselten sich, ihre leicht violetten Haare wogten um sie herum. Die Musik ließ Harry die Nackenhaare zu Berge stehen, und doch war sie nicht unangenehm. Sie sprach sehr deutlich von Verlust und Verzweiflung. Als er hinab blickte auf die wilden Gesichter der Sänger, hatte er das Gefühl, dass wenigstens sie über Dumbledores Tod traurig waren. Dann stupste Ginny ihn erneut an und er wandte sich um.
Hagrid schritt langsam den Gang zwischen den Stühlen entlang. Er weinte ganz leise, sein Gesicht glänzte vor Tränen, und in seinen Armen trug er, wie Harry wusste, eingehüllt in violetten, mit goldenen Sternen besetzten Samt, den toten Dumbledore. Bei diesem Anblick stieg Harry ein scharfer Schmerz die Kehle hoch: Für einen Moment schienen die seltsame Musik und das Wissen, dass Dumbledores Leichnam so nahe war, dem Tag alle Wärme zu rauben. Ron wirkte bleich und entsetzt. Dicke Tränen fielen in rascher Folge in Ginnys und Hermines Schoß.
Sie konnten nicht genau sehen, was vorne geschah. Offenbar hatte Hagrid den Leichnam vorsichtig auf den Tisch gelegt. Nun zog er sich den Gang entlang zurück und schnäuzte sich mit lauten Trompetentönen, was ihm empörte Blicke mancher Leute einbrachte, darunter, wie Harry sah, Dolores Umbridge … aber Harry wusste, dass es Dumbledore nicht gekümmert hätte. Als Hagrid vorbeikam, versuchte es Harry mit einer freundlichen Geste in seine Richtung, aber Hagrids Augen waren so verquollen, dass es ein Wunder war, dass er überhaupt sehen konnte, wo er langging. Harry richtete den Blick zur hinteren Reihe, auf die Hagrid zuging, und sah, wo es ihn hinzog, denn dort saß, in einer Jacke und einer Hose, die jeweils so groß waren wie ein kleines Zirkuszelt, der Riese Grawp, den großen, hässlichen, felsblockartigen Kopf geneigt, friedlich, fast menschlich. Hagrid setzte sich neben seinen Halbbruder, und Grawp tätschelte ihm so heftig den Kopf, dass Hagrids Stuhl in die Erde sank. Einen wundervollen Moment lang wollte Harry lachen. Doch dann verstummte der Gesang und er wandte sich wieder nach vorne.
Ein kleiner Mann mit büscheligen Haaren, der in einen schlichten schwarzen Umhang gekleidet war, hatte sich erhoben und stand jetzt vor Dumbledores Leichnam. Harry konnte nicht hören, was er sagte. Das eine oder andere Wort wehte über die Hunderte von Köpfen nach hinten zu ihnen. »Geistesadel« … »intellektueller Beitrag« … »Herzensgüte« … es sagte nicht sehr viel. Es hatte wenig mit Dumbledore zu tun, wie Harry ihn gekannt hatte. Plötzlich fiel ihm ein, was Dumbledore sich einst unter einer kleinen Rede vorgestellt hatte: »Schwachkopf! Krimskrams! Schwabbelspeck! Quiek!«, und wieder musste er sich ein Grinsen verkneifen … was war los mit ihm?
Zu seiner Linken war ein leises Spritzen zu hören und er sah, dass die Meermenschen an die Oberfläche gedrungen waren und ebenfalls lauschten. Er erinnerte sich, wie Dumbledore sich vor zwei Jahren, ganz nah der Stelle, wo Harry jetzt saß, ans Ufer gekauert und mit der Anführerin der Meermenschen auf Meerisch gesprochen hatte. Harry überlegte, wo Dumbledore Meerisch gelernt hatte. Es gab so viel, was er ihn nie gefragt hatte, so viel, was er hätte sagen sollen …
Und dann, ohne Vorwarnung, überwältigte sie ihn, die grauenvolle Wahrheit, umfassender und unleugbarer als bisher. Dumbledore war tot, war nicht mehr … Er umklammerte das kalte Medaillon in seiner Hand so fest, dass es schmerzte, doch er konnte nicht verhindern, dass ihm heiße Tränen aus den Augen quollen: Er wandte sich ab von Ginny und den anderen und starrte über den See, hinüber zum Wald, während der kleine Mann in Schwarz weiterleierte … zwischen den Bäumen bewegte sich etwas. Auch die Zentauren waren gekommen, um Dumbledore die letzte Ehre zu erweisen. Sie kamen nicht ins Freie, aber Harry sah sie völlig reglos dastehen, halb verborgen im Schatten, die Bogen hingen ihnen an den Seiten herab und sie beobachteten die Zauberer. Und Harry erinnerte sich an seinen ersten alptraumhaften Ausflug in den Wald, an das allererste Mal, dass er jenem Etwas begegnet war, das damals Voldemort war, wie er ihm gegenübergestanden hatte und wie er und Dumbledore wenig später darüber gesprochen hatten, wie man eine Schlacht schlagen sollte, die wahrscheinlich verloren war. Es war wichtig zu kämpfen, hatte Dumbledore gesagt, und immer wieder zu kämpfen, denn nur dann konnte das Böse in Schach gehalten werden, wenn auch nie ganz ausgelöscht …
Und Harry saß da in der heißen Sonne und er sah ganz deutlich, wie die Menschen, denen er etwas bedeutete, sich einer nach dem anderen vor ihn gestellt hatten, seine Mutter, sein Vater, sein Pate und schließlich Dumbledore, alle entschlossen, ihn zu schützen; aber nun war das vorbei. Er konnte es nicht zulassen, dass noch jemand sich zwischen ihn und Voldemort stellte; er musste sich für immer von der Illusion verabschieden, die er schon im Alter von einem Jahr hätte verlieren müssen: dass die beschützenden Arme der Eltern ihn vor allem Unheil bewahren würden. Es gab kein Erwachen aus diesem Alptraum, niemand flüsterte ihm im Dunkeln tröstlich zu, dass ihm doch nichts passieren könne, dass sich alles nur in seiner Phantasie abspiele; der letzte und größte seiner Beschützer war gestorben und nun war er so allein, wie er es noch nie gewesen war.
Der kleine Mann in Schwarz hatte endlich aufgehört zu reden und seinen Platz wieder eingenommen. Harry wartete darauf, dass sich jemand anderes erhob; sicher würde es weitere Reden geben, vermutlich auch vom Minister, doch niemand rührte sich.
Dann schrien etliche Leute auf. Rings um Dumbledores Leichnam und um den Tisch, auf dem er lag, waren helle, weiße Flammen aufgelodert: Sie stiegen immer höher und verdeckten den Körper. Weißer Rauch bewegte sich spiralförmig nach oben und bildete merkwürdige Formen: Einen kurzen Moment, in dem Harry das Herz stehen blieb, glaubte er einen Phönix zu sehen, der freudig ins Blaue davonflog, doch eine Sekunde später schon war das Feuer verschwunden. An seiner Stelle stand nun ein weißes Grabmal aus Marmor, das Dumbledores Leichnam und den Tisch umschloss, auf dem er geruht hatte.
Noch mehr entsetzte Schreie waren zu hören, als ein Schauer von Pfeilen durch die Luft rauschte, doch sie fielen weit vor der Menge zu Boden. Dies war, wie Harry wusste, der Tribut der Zentauren: Er sah sie davonlaufen und wieder im kühlen Wald verschwinden. Auch die Meermenschen sanken langsam in das grüne Wasser zurück und waren nicht mehr zu sehen.
Harry blickte Ginny, Ron und Hermine an: Ron hatte das Gesicht verzogen, als würde ihn das Sonnenlicht blenden. Hermines Gesicht glänzte tränennass, aber Ginny hatte aufgehört zu weinen. Sie erwiderte Harrys Blick mit dem gleichen harten, glühenden Ausdruck, den er an ihr gesehen hatte, als sie ihn umarmte, nachdem sie den Quidditch-Pokal ohne ihn gewonnen hatten, und in diesem Moment wusste er, dass sie einander vollkommen verstanden und dass sie, wenn er ihr sagen würde, was er nun vorhatte, nicht »Sei vorsichtig« oder »Tu's nicht« erwidern, sondern seine Entscheidung akzeptieren würde, weil sie nichts anderes von ihm erwartet hatte. Und so wappnete er sich für die Worte, die er, wie ihm schon seit Dumbledores Tod bewusst war, aussprechen musste.
»Ginny, hör zu …«, sagte er ganz leise, während das Stimmengewirr um sie herum lauter wurde und die Leute sich allmählich erhoben. »Ich darf nichts mehr mit dir zu tun haben. Wir müssen aufhören, uns zu treffen. Wir können nicht zusammen sein.«
Mit einem merkwürdig schiefen Lächeln erwiderte sie: »Es gibt irgendeinen dummen, edlen Grund dafür, nicht wahr?«
»Diese letzten Wochen mit dir … das war wie … wie ein Stück aus dem Leben eines anderen«, sagte Harry. »Aber ich kann nicht … wir können nicht … ich muss jetzt einige Dinge allein erledigen.«
Sie weinte nicht, sie sah ihn nur an.
»Voldemort benutzt Leute, die seinen Feinden nahe stehen. Er hat dich schon einmal als Köder benutzt, und das nur, weil du die Schwester meines besten Freundes bist. Überleg mal, in welche Gefahr du geraten wirst, wenn wir zusammenbleiben. Er wird es erfahren, er wird es herausfinden. Er wird versuchen, durch dich an mich heranzukommen.«
»Und was, wenn es mir egal ist?«, sagte Ginny grimmig.
»Mir ist es nicht egal«, entgegnete Harry. »Was glaubst du, wie es mir gehen würde, wenn das dein Begräbnis wäre … und wenn es meine Schuld gewesen wäre …«
Sie wandte sich von ihm ab und blickte über den See.
»Ich hab dich nie wirklich aufgegeben«, sagte sie. »Nie. Ich habe immer gehofft … Hermine hat gesagt, ich soll einfach weiterleben, mich vielleicht mal mit anderen Leuten verabreden, etwas lockerer sein, wenn du in der Nähe bist, weil ich nie ein Wort rausbrachte, wenn du im selben Raum warst, weißt du noch? Und sie meinte, du würdest ein wenig mehr Notiz von mir nehmen, wenn ich ein bisschen mehr – ich selbst bin.«
»Kluges Mädchen, diese Hermine«, sagte Harry und versuchte zu lächeln. »Ich wünschte nur, ich hätte dich früher gefragt. Wir hätten Ewigkeiten gehabt … Monate … vielleicht Jahre …«
»Aber du warst zu sehr damit beschäftigt, die magische Welt zu retten«, sagte Ginny halb lachend. »Also … ich kann nicht behaupten, dass ich überrascht bin. Ich wusste, dass es irgendwann passieren würde. Ich wusste, du würdest nicht glücklich sein, wenn du Voldemort nicht jagst. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich dich so sehr mag.«
Harry konnte es nicht ertragen, diese Dinge zu hören, und er glaubte nicht, dass sein Entschluss standhalten würde, wenn er noch länger neben ihr sitzen bliebe. Er sah, dass Ron jetzt Hermine im Arm hielt und ihr übers Haar strich, während sie an seiner Schulter schluchzte, und Ron tropften Tränen von der Spitze seiner langen Nase. Mit einer traurigen Geste stand Harry auf, wandte Ginny und Dumbledores Grabmal den Rücken zu und ging um den See herum davon. Sich zu bewegen kam ihm viel erträglicher vor, als ruhig dazusitzen: Wie er sich auch viel besser fühlen würde, wenn er baldmöglichst aufbrach, um die Horkruxe aufzuspüren und Voldemort zu töten, statt nur darauf zu warten, es zu tun …
»Harry!«
Er drehte sich um. Rufus Scrimgeour hinkte, auf seinen Gehstock gestützt, das Ufer entlang rasch auf ihn zu.
»Ich hatte gehofft, dass wir ein Wort miteinander reden können … Gestatten Sie, dass ich Sie ein kleines Stück begleite?«
»Ja«, sagte Harry gleichgültig und ging weiter.
»Harry, das war eine schreckliche Tragödie«, sagte Scrimgeour leise, »ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie entsetzt ich war, als ich davon hörte. Dumbledore war ein sehr großer Zauberer. Wir hatten unsere Meinungsverschiedenheiten, wie Sie wissen, aber niemand weiß besser als ich – «
»Was wollen Sie?«, fragte Harry tonlos.
Scrimgeour sah verärgert aus, doch wie schon zuvor änderte er hastig seinen Gesichtsausdruck und machte nun eine bekümmerte, verständnisvolle Miene.
»Sie sind natürlich tief erschüttert«, sagte er. »Ich weiß, dass Sie Dumbledore sehr nahe standen. Ich schätze, Sie waren sein Lieblingsschüler überhaupt. Das Band zwischen Ihnen beiden – «
»Was wollen Sie?«, wiederholte Harry und blieb stehen.
Auch Scrimgeour hielt auf seinen Stock gestützt inne und musterte Harry nun mit gewiefter Miene.
»Man sagt, dass Sie bei ihm waren, als er die Schule in der Nacht seines Todes verließ.«
»Wer sagt das?«
»Jemand hat einen Todesser auf dem Turm mit einem Schockzauber belegt, nachdem Dumbledore gestorben war. Außerdem waren zwei Besen dort oben. Das Ministerium kann eins und eins zusammenzählen, Harry.«
»Freut mich zu hören«, sagte Harry. »Nun, wo ich mit Dumbledore hingegangen bin und was wir gemacht haben, ist meine Angelegenheit. Er wollte nicht, dass es irgendjemand erfährt.«
»Solche Treue ist natürlich bewundernswert«, sagte Scrimgeour, der seinen Ärger nur mühsam zu zügeln schien, »aber Dumbledore ist nicht mehr, Harry. Er ist nicht mehr.«
»Er wird nur dann nicht mehr in der Schule sein, wenn ihm hier keiner mehr treu ist«, sagte Harry und lächelte unwillkürlich.
»Mein lieber Junge … selbst Dumbledore kann nicht zurückkehren aus dem – «
»Ich behaupte nicht, dass er das kann. Sie würden es ohnehin nicht verstehen. Aber ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
Scrimgeour zögerte, dann sagte er in einem Ton, der offenbar taktvoll sein sollte: »Wissen Sie, Harry, das Ministerium kann Ihnen allerlei Arten von Schutz bieten. Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen ein paar von meinen Auroren zur Verfügung stellen könnte – «
Harry lachte.
»Voldemort will mich eigenhändig umbringen und Auroren werden ihn nicht aufhalten. Also, danke für das Angebot, aber, nein danke.«
»Nun«, sagte Scrimgeour, jetzt mit kühler Stimme, »mein Wunsch, den ich Ihnen Weihnachten unterbreitet habe – «
»Welcher Wunsch? O ja … dass ich der Welt sage, welch großartige Arbeit Sie leisten, um damit dann -«
»- die allgemeine Moral zu stärken!«, fauchte Scrimgeour.
Harry fasste ihn einen Moment ins Auge.
»Haben Sie Stan Shunpike schon freigelassen?«
Scrimgeour nahm eine hässliche puterrote Farbe an, die stark an Onkel Vernon erinnerte.
»Ich sehe, Sie sind – «
»Durch und durch Dumbledores Mann«, sagte Harry. »Ganz genau.«
Scrimgeour sah ihn noch einen Augenblick lang finster an, dann drehte er sich um und hinkte ohne ein weiteres Wort davon. Harry konnte Percy und die restliche Abordnung des Ministeriums auf ihn warten sehen, wobei sie dem schluchzenden Hagrid und Grawp, die immer noch auf ihren Plätzen saßen, nervöse Blicke zuwarfen. Ron und Hermine eilten an Scrimgeour vorbei auf Harry zu; Harry wandte sich um, ging langsam weiter, während er darauf wartete, dass sie ihn einholten, was sie schließlich im Schatten einer Buche taten, unter der sie in glücklicheren Zeiten immer gesessen hatten.
»Was wollte Scrimgeour?«, flüsterte Hermine.
»Das Gleiche, was er Weihnachten wollte«, erwiderte Harry achselzuckend. »Dass ich ihm vertrauliche Informationen über Dumbledore liefere und der neue Vorzeigejunge des Ministeriums werde.«
Ron schien einen Moment mit sich zu ringen, dann sagte er laut zu Hermine: »Hör mal, lass mich zurückgehen und Percy eine reinhauen!«
»Nein«, erwiderte sie entschieden und packte ihn am Arm.
»Danach fühl ich mich besser!«
Harry lachte. Selbst Hermine grinste ein wenig, doch ihr Lächeln verblasste, als sie zum Schloss hochblickte.
»Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass wir vielleicht nie mehr hierher zurückkehren«, sagte sie leise. »Wie kann Hogwarts nur schließen?«
»Vielleicht passiert es ja gar nicht«, sagte Ron. »Wir sind hier nicht in größerer Gefahr als zu Hause, oder? Es ist jetzt überall das Gleiche. Ich würde sogar sagen, dass Hogwarts sicherer ist, es sind mehr Zauberer da, die es verteidigen können. Was meinst du, Harry?«
»Ich komme nicht zurück, selbst wenn Hogwarts wieder öffnet«, sagte Harry.
Ron starrte ihn nur an, doch Hermine sagte traurig: »Ich wusste, dass du das sagen würdest. Aber was willst du denn tun?«
»Ich geh noch einmal zu den Dursleys zurück, weil Dumbledore es so wollte«, sagte Harry. »Aber das wird nur ein kurzer Besuch sein, und dann bin ich endgültig weg von dort.«
»Aber wo willst du hin, wenn du nicht in die Schule zurückkommst?«
»Ich dachte, ich könnte vielleicht nach Godric's Hollow zurückkehren«, murmelte Harry. Diesen Gedanken hatte er schon seit der Nacht von Dumbledores Tod. »Für mich hat es dort angefangen, diese ganze Geschichte. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich dort hingehen muss. Und ich kann die Gräber meiner Eltern besuchen, das würde ich gerne.«
»Und was dann?«, sagte Ron.
»Dann muss ich die restlichen Horkruxe aufspüren, oder?«, erwiderte Harry, die Augen auf Dumbledores weißes Grabmal gerichtet, das sich im Wasser auf der anderen Seite des Sees spiegelte. »Er wollte, dass ich das tue, deshalb hat er mir alles über sie erzählt. Wenn Dumbledore Recht hatte – und ich bin sicher, er hatte Recht –, sind immer noch vier davon dort draußen. Ich muss sie finden und sie zerstören, und dann muss ich mich auf die Jagd nach dem siebten Stück von Voldemorts Seele machen, dem Stück, das immer noch in seinem Körper ist, und ich bin derjenige, der ihn töten wird. Und wenn ich unterwegs auf Severus Snape stoße«, fügte er hinzu, »umso besser für mich, umso schlechter für ihn.«
Ein langes Schweigen trat ein. Die Menge hatte sich jetzt fast zerstreut, die Nachzügler machten einen großen Bogen um die gewaltige Gestalt von Grawp, der Hagrid knuddelte, dessen traurige Schreie immer noch über das Wasser hallten.
»Wir werden dort sein, Harry«, sagte Ron.
»Wie bitte?«
»Im Haus von deiner Tante und deinem Onkel«, sagte Ron. »Und dann werden wir mit dir gehen, wo auch immer du hingehst.«
»Nein«, sagte Harry rasch; damit hatte er nicht gerechnet, er hatte ihnen klar machen wollen, dass er diese äußerst gefährliche Reise allein unternehmen würde.
»Du hast einmal zu uns gesagt«, erklärte Hermine leise, »dass noch Zeit sei umzukehren, wenn wir wollten. Wir hatten Zeit, stimmt's?«
»Wir sind bei dir, was auch immer geschieht«, sagte Ron. »Aber, Mann, du musst erst mal bei meinen Eltern vorbeischauen, ehe wir sonst wo hingehen, selbst wenn es Godric's Hollow ist.«
»Warum?«
»Bill und Fleur heiraten, schon vergessen?«
Harry sah ihn verdutzt an; der Gedanke, dass es immer noch so etwas Alltägliches wie eine Hochzeit geben könnte, erschien ihm unfassbar und wundervoll zugleich.
»Ja, das sollten wir nicht versäumen«, sagte er schließlich.
Seine Hand schloss sich wie von selbst um den falschen Horkrux, doch trotz allem, trotz des dunklen und gewundenen Wegs, den er vor sich liegen sah, trotz der letzten Begegnung mit Voldemort, die, wie er wusste, unweigerlich kommen musste, ob in einem Monat, in einem Jahr oder in zehn Jahren, trotz alldem fasste er Mut bei dem Gedanken, dass es doch noch einen letzten goldenen friedvollen Tag geben würde, den er mit Ron und Hermine genießen konnte.