123303.fb2 Harry Potter und der Halbblutprinz - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 8

Harry Potter und der Halbblutprinz - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 8

Snape triumphiert

Harry konnte keinen Muskel rühren. Er lag unter seinem Tarnumhang, spürte, wie das Blut aus seiner Nase heiß und feucht über sein Gesicht strömte, und lauschte den Stimmen und Schritten draußen im Gang. Sein erster Gedanke war, dass sicher irgendjemand durch die Abteile gehen würde, ehe der Zug wieder abfuhr. Doch gleich darauf kam ihm die ernüchternde Erkenntnis, dass, selbst wenn jemand in sein Abteil schaute, er ihn weder sehen noch hören konnte. Es blieb ihm nur zu hoffen, dass jemand hereinkam und über ihn stolperte.

Harry hatte Malfoy noch nie so sehr gehasst wie jetzt, da er wie eine hilflose Schildkröte auf dem Rücken lag und das Blut ihm in den offenen Mund tropfte, dass ihm schlecht wurde. In was für eine dumme Lage hatte er sich da gebracht … und jetzt verhallten die letzten spärlichen Schritte; alle schlurften draußen den finsteren Bahnsteig entlang; er konnte das Scharren von Koffern und lautes Stimmengewirr hören.

Ron und Hermine dachten bestimmt, dass er den Zug ohne sie verlassen hatte. Wenn sie erst einmal in Hogwarts waren und ihre Plätze in der Großen Halle einnahmen, einige Male am Gryffindor-Tisch hoch- und hinuntersahen und endlich begriffen, dass er nicht da war, dann würde er sicher schon auf halbem Weg zurück nach London sein.

Er versuchte ein Geräusch zu machen, wenigstens zu grunzen, doch es war unmöglich. Dann fiel ihm ein, dass manche Zauberer, wie Dumbledore, auch ohne zu sprechen Zauber ausführen konnten, also versuchte er seinen Zauberstab aufzurufen, der ihm aus der Hand gefallen war, indem er die Worte Accio Zauberstab! ständig im Kopf wiederholte, doch nichts geschah.

Er glaubte, das Rauschen der Bäume rund um den See zu hören und von weit her den Schrei einer Eule, doch nichts ließ darauf schließen, dass er gesucht wurde oder dass es sogar (und er verachtete sich ein wenig für diesen Gedanken) panische Stimmen gab, die fragten, wo Harry Potter geblieben war. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit ergriff ihn, als er sich vorstellte, wie die Kolonne der von Thestralen gezogenen Kutschen zur Schule hinaufzockelte und wie aus irgendeiner der Kutschen, in der Malfoy saß und seinen Slytherin-Freunden seinen Angriff auf Harry schilderte, gedämpfte Lacher drangen.

Der Zug ruckte, und Harry kippte auf die Seite. Jetzt starrte er statt an die Decke auf die staubige Unterseite der Sitze. Der Fußboden begann zu vibrieren und mit einem Grollen erwachte die Lokomotive zum Leben. Der Hogwarts-Express fuhr davon, und keiner wusste, dass Harry immer noch an Bord war …

Dann spürte er, wie der Tarnumhang von ihm wegflog, und eine Stimme über ihm sagte: »Tag auch, Harry.«

Ein rotes Licht blitzte auf und Harrys Körper löste sich aus seiner Starre; er konnte sich in eine würdevollere, sitzende Haltung stemmen, mit dem Handrücken rasch das Blut von seinem zerschundenen Gesicht wischen und den Kopf heben – und er blickte auf zu Tonks, die den Tarnumhang hielt, den sie ihm gerade weggezogen hatte.

»Wir sollten schleunigst hier raus«, sagte sie, als die Zugfenster sich vor lauter Dampf verfinsterten und der Zug aus dem Bahnhof zu rollen begann. »Komm, wir springen.«

Harry rannte ihr hinterher auf den Gang. Tonks zog die Waggontür auf und hüpfte auf den Bahnsteig, der unter ihnen wegzugleiten schien, während der Zug Fahrt aufnahm. Harry folgte ihr, geriet beim Aufprall kurz ins Wanken, richtete sich dann auf und sah gerade noch, wie die glänzende scharlachrote Dampflokomotive immer schneller wurde, in eine Kurve ging und verschwand.

Die kalte Nachtluft tat seiner schmerzenden Nase gut. Tonks sah ihn an; er war wütend und es war ihm peinlich, dass er in einer so lächerlichen Lage entdeckt worden war. Schweigend gab sie ihm den Tarnumhang zurück.

»Wer war es?«

»Draco Malfoy«, sagte Harry verbittert. »Danke für … na ja …«

»Kein Problem«, sagte Tonks ohne zu lächeln. Soweit Harry in der Dunkelheit erkennen konnte, hatte sie die gleichen mausbraunen Haare und sah nicht weniger niedergeschlagen aus als bei ihrem Treffen im Fuchsbau. »Ich kann deine Nase in Ordnung bringen, wenn du dich nicht bewegst.«

Harry hielt nicht viel von dieser Idee; eigentlich hatte er vorgehabt, Madam Pomfrey, die Krankenschwester, aufzusuchen, der er ein wenig mehr zutraute, wenn es um Heilzauber ging, aber es kam ihm unhöflich vor, das zu sagen, also blieb er stocksteif stehen und schloss die Augen.

»Episkey«, sagte Tonks.

Harrys Nase fühlte sich sehr heiß an, und dann sehr kalt. Er hob die Hand und tastete sie vorsichtig ab. Sie schien verheilt zu sein.

»Vielen Dank!«

»Du ziehst dir am besten wieder den Umhang an, dann können wir zu Fuß zur Schule hoch«, sagte Tonks, immer noch ohne ein Lächeln. Als Harry sich wieder den Tarnumhang überwarf, schwang sie ihren Zauberstab; ein riesiges, silbriges, vierbeiniges Wesen brach aus ihm hervor und raste in die Dunkelheit davon.

»War das ein Patronus?«, fragte Harry, der früher schon gesehen hatte, wie Dumbledore auf diese Weise Nachrichten verschickte.

»Ja, ich gebe im Schloss Bescheid, dass ich dich habe, sonst machen sie sich Sorgen. Komm jetzt, wir sollten lieber nicht trödeln.«

Sie gingen auf den Weg zu, der zur Schule führte.

»Wie hast du mich gefunden?«

»Mir ist aufgefallen, dass du nicht aus dem Zug gestiegen bist, und ich wusste, dass du diesen Umhang hast. Ich dachte, vielleicht versteckst du dich aus irgendeinem Grund. Als ich dann sah, dass das Rollo in diesem Abteil runtergezogen war, dachte ich mir, ich schau mal nach.«

»Aber was machst du eigentlich hier?«, fragte Harry.

»Ich bin jetzt in Hogsmeade stationiert, um die Schule zusätzlich zu schützen«, sagte Tonks.

»Bist du die Einzige, die hier stationiert ist, oder –?«

»Nein, Proudfoot, Savage und Dawlish sind auch hier.«

»Dawlish, dieser Auror, den Dumbledore letztes Jahr angegriffen hat?«

»Genau.«

Sie stapften den dunklen, verlassenen Weg hoch, den frischen Kutschenspuren hinterher. Harry sah unter seinem Tarnumhang Tonks von der Seite her an. Letztes Jahr war sie neugierig gewesen (so sehr, dass es manchmal ein wenig nervte), sie hatte gern gelacht, hatte Witze gemacht. Jetzt schien sie älter und viel ernster und zielbewusster. War das alles eine Folge der Ereignisse, die im Ministerium geschehen waren? Er hatte den unangenehmen Gedanken, dass Hermine ihm vorgeschlagen hätte, etwas Tröstendes über Sirius zu ihr zu sagen, dass es wirklich nicht ihre Schuld war, aber er konnte sich nicht dazu durchringen. Er machte sie keineswegs für Sirius' Tod verantwortlich; sie trug nicht mehr Schuld daran als sonst wer (und viel weniger als er), aber er wollte nicht über Sirius sprechen, wenn er es vermeiden konnte. Und so wanderten sie weiter schweigend durch die kalte Nacht, während Tonks' langer Umhang hinter ihnen auf dem Boden wisperte.

Harry, der hier immer mit der Kutsche gefahren war, hatte sich nie zuvor klar gemacht, wie weit Hogwarts eigentlich vom Bahnhof Hogsmeade entfernt war. Zu seiner großen Erleichterung sah er endlich die hohen Säulen zu beiden Seiten des Tores, auf denen jeweils ein geflügelter Eber saß. Ihm war kalt, er war hungrig, und er hatte es recht eilig, diese ungewohnte, düstere Tonks hinter sich zu lassen. Doch als er die Hand ausstreckte, um die Torflügel aufzustoßen, bemerkte er, dass sie mit einer Kette verschlossen waren.

»Alohomora!«, sagte er zuversichtlich und richtete seinen Zauberstab auf das Vorhängeschloss, aber nichts geschah.

»Das funktioniert bei dem nicht«, sagte Tonks. »Dumbledore persönlich hat es verhext.«

Harry sah sich um.

»Ich könnte über eine Mauer klettern«, schlug er vor.

»Nein, könntest du nicht«, sagte Tonks mit ausdrucksloser Stimme. »Anti-Eindringlings-Flüche auf allen. Die Sicherheitsvorkehrungen sind diesen Sommer hundertmal verschärft worden.«

»Na gut«, sagte Harry und fing allmählich an, sich über ihre mangelnde Hilfsbereitschaft zu ärgern. »Dann werd ich wohl einfach hier draußen schlafen und bis morgen früh warten müssen.«

»Jemand kommt dich abholen«, sagte Tonks. »Sieh mal.«

Ganz in der Ferne, direkt am Schloss, hüpfte eine Laterne auf und ab. Harry freute sich so über diesen Anblick, dass er sofort das Gefühl hatte, er könnte sogar Filchs asthmatische Vorwürfe wegen seiner Verspätung ertragen und sein Gefasel, dass Harry in Zukunft pünktlicher würde, wenn man ihm regelmäßig Daumenschrauben anlegte. Erst als das strahlende gelbe Licht nur noch drei Meter von ihnen entfernt war und Harry seinen Tarnumhang ausgezogen hatte, um sichtbar zu sein, erkannte er mit jäh aufwallendem Hass die von unten beleuchtete Hakennase und das lange, schwarze, fettige Haar von Severus Snape.

»Schön, schön, schön«, sagte Snape höhnisch, zog seinen Zauberstab hervor und tippte einmal gegen das Vorhängeschloss, worauf die Ketten zurückschlängelten und die Torflügel quietschend aufgingen. »Nett von Ihnen, hier aufzutauchen, Potter, auch wenn Sie offenbar der Meinung sind, dass das Tragen eines Schulumhangs von Ihrer Erscheinung ablenken würde.«

»Ich konnte mich nicht umziehen, ich hatte meinen –«, begann Harry, aber Snape unterbrach ihn.

»Du brauchst nicht zu warten, Nymphadora. Potter ist vollkommen – ähm – sicher in meiner Obhut.«

»Die Nachricht war eigentlich für Hagrid bestimmt«, sagte Tonks stirnrunzelnd.

»Hagrid kam zu spät zur Begrüßungsfeier, genau wie Potter hier, also habe ich sie stattdessen angenommen. Und nebenbei bemerkt«, sagte Snape und trat zurück, um Harry an sich vorbeizulassen, »wollte ich mir gerne mal deinen neuen Patronus anschauen.«

Er schlug die Torflügel mit einem lauten Klirren vor Tonks' Nase zu und tippte mit dem Zauberstab erneut gegen die Ketten, die an ihren Platz zurückrasselten.

»Ich finde, mit dem alten warst du besser dran«, sagte Snape und die Boshaftigkeit in seiner Stimme war unverkennbar. »Der neue macht mir einen schwächlichen Eindruck.«

Als Snape die Laterne herumschwang, sah Harry flüchtig den entsetzten und zornigen Ausdruck auf Tonks' Gesicht. Dann war sie wieder in Dunkelheit gehüllt.

»Gute Nacht«, rief Harry ihr über die Schulter zu und machte sich mit Snape auf den Weg hoch zur Schule. »Danke für … alles.«

»Bis bald, Harry.«

Snape sagte etwa eine Minute lang kein Wort. Harry hatte ein Gefühl, als ob sein Körper Wellen von Hass erzeugen würde, die so mächtig waren, dass es unglaublich schien, dass Snape nicht spürte, wie sie ihn verbrannten. Er hatte Snape von ihrer ersten Begegnung an verabscheut, aber durch seine Haltung Sirius gegenüber hatte Snape für immer und unwiderruflich die Möglichkeit verwirkt, dass Harry ihm verzieh. Was immer Dumbledore auch sagen mochte, Harry hatte während des Sommers Zeit gehabt nachzudenken und war zu dem Schluss gekommen, dass Snapes abfällige Bemerkungen zu Sirius, er bleibe verborgen und in Sicherheit, während der Rest des Phönixordens gegen Voldemort kämpfe, wahrscheinlich ausschlaggebend für Sirius gewesen waren, in der Nacht seines Todes überstürzt ins Ministerium zu eilen. Harry hielt an dieser Meinung fest, weil sie es ihm erlaubte, Snape die Schuld zuzuschreiben, und das war befriedigend, und außerdem wusste er, wenn irgendjemand nicht traurig über Sirius' Tod war, dann war es dieser Mann, der jetzt neben ihm in der Dunkelheit einherschritt.

»Fünfzig Punkte Abzug für Gryffindor wegen Unpünktlichkeit, denke ich«, sagte Snape. »Und, warten Sie mal, weitere zwanzig wegen Ihrer Muggelkleidung. Wissen Sie, ich glaube nicht, dass jemals irgendein Haus so früh im Schuljahr schon in den roten Zahlen war – wir haben noch nicht mal mit dem Nachtisch angefangen. Sie haben womöglich einen Rekord aufgestellt, Potter.«

Die Wut und der Hass, die in Harry brodelten, schienen weiß aufzulodern, aber er wäre lieber bewegungsunfähig den ganzen Weg nach London zurückgefahren, als Snape zu sagen, warum er zu spät kam.

»Ich vermute, Sie wollten einen großen Auftritt, stimmt's?«, fuhr Snape fort. »Und weil Sie kein fliegendes Auto zur Hand hatten, überlegten Sie sich, dass es einen dramatischen Effekt geben würde, in die Große Halle zu platzen, wenn die Feier mitten im Gang ist.«

Harry blieb weiter stumm, obwohl ihm war, als würde seine Brust explodieren. Er wusste, dass Snape genau deshalb gekommen war, um ihn abzuholen, für diese wenigen Minuten, in denen er Harry ärgern und quälen konnte, ohne dass jemand es mitbekam.

Endlich erreichten sie die Schlosstreppe, und das große Eichenportal flog auf in die geräumige, beflaggte Eingangshalle, und durch die offene Tür der Großen Halle empfing sie ein lautes Durcheinander von Stimmen, Gelächter und Teller- und Gläserklirren. Harry fragte sich, ob er seinen Tarnumhang nicht wieder überziehen konnte, damit er sich unbemerkt zu seinem Platz am langen Gryffindor-Tisch stehlen konnte (der ungeschickterweise am weitesten von der Eingangshalle entfernt war).

Als ob er Harrys Gedanken gelesen hätte, sagte Snape jedoch: »Kein Tarnumhang. Sie können so reingehen, damit Sie von allen gesehen werden, was ja sicher Ihre Absicht war.«

Harry drehte sich auf dem Absatz um und marschierte geradewegs durch die offene Tür: Hauptsache, er kam endlich von Snape weg. Die Große Halle mit ihren vier langen Haustischen und dem erhöhten Lehrertisch an der Stirnseite war wie üblich mit schwebenden Kerzen geschmückt, deren Licht die Teller unter ihnen glitzern und glimmern ließ. Harry jedoch nahm das alles nur als verschwommenes Schimmern wahr, er ging so rasch, dass er am Tisch der Hufflepuffs schon vorbei war, ehe die Leute wirklich zu starren anfingen, und als sie dann aufstanden, um ihn besser sehen zu können, hatte er bereits Ron und Hermine gefunden, rannte die Bänke entlang auf sie zu und drängte sich zwischen sie.

»Wo warst – meine Fresse, was hast du mit deinem Gesicht gemacht?«, sagte Ron und glotzte ihn an wie alle anderen rundherum.

»Warum, was ist damit?«, fragte Harry, nahm einen Löffel und schielte auf sein verzerrtes Spiegelbild.

»Du bist völlig blutverschmiert!«, sagte Hermine. »Komm her.«

Sie hob ihren Zauberstab, sagte »Tergeo!« und sog das getrocknete Blut weg.

»Danke«, sagte Harry und spürte, dass sein Gesicht jetzt sauber war. »Wie sieht meine Nase aus?«

»Normal«, sagte Hermine besorgt. »Was sollte mit ihr sein? Harry, was ist passiert, wir hatten furchtbare Angst!«

»Das erzähl ich euch später«, erwiderte Harry knapp. Er wusste ganz genau, dass Ginny, Neville, Dean und Seamus ihnen zuhörten; selbst der Fast Kopflose Nick, das Gespenst von Gryffindor, war die Bank entlanggeschwebt, um zu lauschen.

»Aber –«, sagte Hermine.

»Nicht jetzt, Hermine«, entgegnete Harry mit geheimnisvoller, bedeutsamer Stimme. Er hoffte sehr, dass sie alle annahmen, er sei in irgendetwas Heldenhaftes verwickelt gewesen, am besten etwas mit ein paar Todessern und einem Dementor. Natürlich würde Malfoy die Geschichte wo er nur konnte herumerzählen und sie möglichst breittreten, doch es gab immerhin die Chance, dass sie an nicht allzu viele Gryffindor-Ohren drang.

Er langte an Ron vorbei nach ein paar Hühnerbeinen und einer Hand voll Pommes, doch bevor er sie zu fassen bekam, verschwanden sie und wurden durch Nachspeisen ersetzt.

»Du hast jedenfalls die Zuteilung versäumt«, sagte Hermine, während Ron sich auf einen riesigen Schokoladenkuchen stürzte.

»Hat der Hut irgendwas Interessantes gesagt?«, fragte Harry und nahm sich ein Stück Siruptorte.

»Eigentlich nur, was er immer sagt … hat uns ermahnt, wir sollen uns im Angesicht des Feindes alle vereinen, du weißt schon.«

»Hat Dumbledore Voldemort überhaupt erwähnt?«

»Noch nicht, aber seine richtige Rede spart er sich ja immer für den Schluss der Feier auf, oder? Die kommt jetzt sicher bald.«

»Snape meinte, Hagrid sei zu spät zur Feier gekommen.«

»Du hast Snape gesehen? Wie das?«, fragte Ron, während er hektisch große Bissen Schokoladenkuchen verschlang.

»Hab ihn zufällig getroffen«, erwiderte Harry ausweichend.

»Hagrid kam nur ein paar Minuten zu spät«, sagte Hermine. »Schau mal, er winkt dir, Harry.«

Harry sah zum Lehrertisch hoch und grinste Hagrid zu, der ihm tatsächlich zuwinkte. Hagrid war es nie so recht gelungen, genauso würdevoll aufzutreten wie Professor McGonagall, die Leiterin des Hauses Gryffindor, die neben ihm saß, deren Scheitel gerade mal zwischen Hagrids Ellbogen und Schulter reichte und die diese begeisterte Begrüßung missbilligend zur Kenntnis nahm. Harry war überrascht, dass die Lehrerin für Wahrsagen, Professor Trelawney, zu Hagrids anderer Seite saß; sie verließ selten ihr Turmzimmer und er hatte sie noch nie bei der Begrüßungsfeier zum Schuljahresbeginn gesehen. Sie wirkte so sonderbar wie seit eh und je, behängt mit glitzernden Perlen und flatternden Schals, die Augen durch ihre Brille enorm vergrößert.

Harry, der sie immer ein wenig für eine Schwindlerin gehalten hatte, musste am Ende des letzten Schuljahres zu seinem Entsetzen erfahren, dass sie es war, die die Vorhersage gemacht hatte, die Lord Voldemort veranlasst hatte, Harrys Eltern zu töten und Harry anzugreifen. Nun, da er dies wusste, war er noch weniger erpicht auf ihre Gesellschaft, aber zum Glück würde er dieses Jahr mit Wahrsagen aufhören. Ihre großen, leuchtfeuerartigen Augen schwenkten in seine Richtung; hastig wandte er den Blick ab und sah hinüber zum Tisch der Slytherins. Draco Malfoy stellte gerade unter heiserem Gelächter und Applaus pantomimisch dar, wie jemandem die Nase zerschmettert wurde. Harrys Eingeweide brannten wieder, und er schaute auf seine Siruptorte hinunter. Was gäbe er nicht dafür, gegen Malfoy zu kämpfen, Mann gegen Mann …

»Was wollte eigentlich Professor Slughorn?«, fragte Hermine.

»Wissen, was wirklich im Ministerium passiert ist«, antwortete Harry.

»Er und alle andern hier auch«, sagte Hermine naserümpfend. »Die Leute haben uns im Zug ständig darüber ausgequetscht, stimmt's, Ron?«

»Tja«, sagte Ron. »Die wollten alle wissen, ob du wirklich der Auserwählte bist – «

»Sogar bei den Gespenstern wurde viel über dieses Thema gesprochen«, unterbrach sie der Fast Kopflose Nick und neigte seinen gerade noch mit dem Hals verbundenen Kopf zu Harry, so dass er gefährlich auf seiner Halskrause kippelte. »Ich gelte gewissermaßen als eine Autorität in Sachen Potter; es ist weithin bekannt, dass wir befreundet sind. Ich habe der Gespenstergemeinschaft jedoch klar gemacht, dass ich dir nicht wegen Informationen auf die Nerven fallen werde. ›Harry Potter weiß, dass er mir blind vertrauen kann‹, habe ich zu ihnen gesagt. ›Ich würde eher sterben als sein Vertrauen zu missbrauchen.‹«

»Das heißt nicht viel, wenn man bedenkt, dass Sie ja schon tot sind«, bemerkte Ron.

»Du beweist wieder einmal das ganze Feingefühl einer stumpfen Axt«, sagte der Fast Kopflose Nick in beleidigtem Ton, erhob sich in die Luft und schwebte zurück zum anderen Ende des Gryffindor-Tisches, gerade als Dumbledore sich am Lehrertisch erhob. Die Gespräche und das Gelächter, das überall in der Halle ertönte, verstummten fast augenblicklich.

»Den schönsten aller Abende wünsche ich euch!«, sagte er breit lächelnd und mit weit ausgestreckten Armen, als wollte er den ganzen Raum umfassen.

»Was ist mit seiner Hand passiert?«, stieß Hermine atemlos hervor.

Sie war nicht die Einzige, der es aufgefallen war. Dumbledores rechte Hand sah genauso geschwärzt und abgestorben aus wie in jener Nacht, als er Harry von den Dursleys abgeholt hatte. Ein Raunen ging durch den Raum; Dumbledore, der es richtig deutete, lächelte nur und schüttelte seinen violett-goldenen Ärmel über seine Verletzung.

»Kein Grund zur Sorge«, sagte er leichthin. »Nun … An unsere neuen Schüler – willkommen! An unsere alten Schüler – willkommen zurück! Ein weiteres Jahr, ganz der magischen Ausbildung gewidmet, erwartet euch …«

»Seine Hand war schon so, als ich ihn im Sommer gesehen hab«, flüsterte Harry Hermine zu. »Ich dachte eigentlich, er hätte sie inzwischen geheilt … oder Madam Pomfrey hätte das erledigt.«

»Die Hand sieht aus, als wäre sie tot«, sagte Hermine mit einem angewiderten Gesichtsausdruck. »Aber manche Verletzungen kann man nicht heilen … alte Flüche … und es gibt Gifte ohne Gegengifte …«

»… und Mr Filch, unser Hausmeister, hat mich gebeten euch zu sagen, dass Scherzartikel, die in einem Laden namens Weasleys Zauberhafte Zauberscherze gekauft wurden, ausnahmslos verboten sind.

Die Schüler, die für ihre Quidditch-Hausmannschaft spielen möchten, sollten – wie üblich – ihre Namen bei den Hauslehrern hinterlassen. Wir suchen auch neue Quidditch-Stadionsprecher, die dies ebenfalls tun sollten.

Wir freuen uns, dieses Jahr ein neues Mitglied des Lehrerkollegiums begrüßen zu dürfen. Professor Slughorn« – Slughorn stand auf, sein kahler Kopf glänzte im Kerzenlicht, sein dicker, westenbekleideter Bauch tauchte den Tisch unter ihm in Schatten – »ist ein ehemaliger Kollege von mir, der sich bereit erklärt hat, seinen alten Posten als Lehrer für Zaubertränke wieder einzunehmen.«

»Zaubertränke?«

»Zaubertränke?«

Das Wort hallte durch den Raum, denn viele fragten sich, ob sie richtig gehört hatten.

»Zaubertränke?«, sagten Ron und Hermine gleichzeitig, wandten sich um und starrten Harry an. »Aber du hast doch gesagt – «

»Professor Snape indes«, sagte Dumbledore und hob die Stimme, damit sie das ganze Gemurmel übertönte, »wird der neue Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste.«

»Nein!«, sagte Harry, so laut, dass viele Köpfe sich zu ihm umdrehten. Es war ihm egal; wutentbrannt stierte er hoch zum Lehrertisch. Wie konnte Snape nach all dieser Zeit Verteidigung gegen die dunklen Künste bekommen? War nicht seit Jahren allgemein bekannt, dass Dumbledore ihm dafür nicht genügend vertraute?

»Aber, Harry, du hast doch gesagt, Slughorn würde Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichten!«, sagte Hermine.

»Das dachte ich auch!«, entgegnete Harry. Er zermarterte sich den Kopf, wann Dumbledore ihm das erzählt hatte, aber jetzt, wo er darüber nachdachte, konnte er sich nicht erinnern, dass Dumbledore je erwähnt hatte, was Slughorn unterrichten würde.

Snape, der rechts von Dumbledore saß, stand nicht auf, als sein Name erwähnt wurde, sondern hob nur eine Hand, um lässig den Beifall vom Slytherin-Tisch zu quittieren, doch Harry erkannte untrüglich einen triumphierenden Ausdruck in dem Gesicht, das er so sehr hasste.

»Also, einen Vorteil hat es«, sagte er grimmig. »Am Ende des Schuljahrs ist Snape weg.«

»Was soll das heißen?«, fragte Ron.

»Dieser Job ist verhext. Keiner hat es länger als ein Jahr geschafft … Quirrell ist sogar dabei gestorben. Ich persönlich drück die Daumen, dass noch einer stirbt …«

»Harry!«, sagte Hermine schockiert und vorwurfsvoll.

»Vielleicht geht er am Ende des Jahres einfach wieder zurück auf den Zaubertrankposten«, überlegte Ron. »Dieser Typ da, Slughorn, will vielleicht gar nicht lange bleiben, genau wie Moody.«

Dumbledore räusperte sich. Harry, Ron und Hermine waren nicht die Einzigen, die sich unterhalten hatten; in der ganzen Halle hatte sich ein Stimmengewirr erhoben bei der Nachricht, dass Snapes Herzenswunsch sich endlich erfüllt hatte. Dumbledore, dem offenbar nicht bewusst war, welch sensationelle Neuigkeit er gerade bekannt gegeben hatte, kündigte keine weiteren Veränderungen im Lehrerkollegium an, sondern wartete ein paar Sekunden, bis vollkommene Stille herrschte, ehe er fortfuhr.

»Nun, wie alle in dieser Halle wissen, sind Lord Voldemort und seine Anhänger erneut auf freiem Fuß und gewinnen immer mehr Macht.«

Die Stille wurde drückend und angespannt, während Dumbledore sprach. Harry warf einen Blick auf Malfoy. Malfoy sah Dumbledore nicht an, sondern ließ seine Gabel mit seinem Zauberstab in der Luft schweben, als wäre es unter seiner Würde, die Worte des Schulleiters zu verfolgen.

»Ich kann nicht nachdrücklich genug betonen, wie gefährlich die gegenwärtige Lage ist und wie sehr sich jeder von uns in Hogwarts darum bemühen muss, alles dafür zu tun, dass wir sicher bleiben. Die magischen Befestigungsanlagen des Schlosses wurden den Sommer über verstärkt, wir sind durch moderne und noch wirkungsvollere Mittel geschützt, und dennoch müssen wir uns gewissenhaft vor möglicher Fahrlässigkeit eines jeden Schülers oder Mitglieds des Kollegiums in Acht nehmen. Ich bitte euch deshalb dringend, jegliche Einschränkung aus Sicherheitsgründen zu beachten, die eure Lehrer euch möglicherweise auferlegen, egal wie lästig ihr sie auch finden mögt – insbesondere die Regel, dass ihr während der Nachtruhe außerhalb eurer Betten nichts zu suchen habt. Ich bitte euch inständig, falls ihr etwas Merkwürdiges oder Verdächtiges innerhalb oder außerhalb des Schlosses bemerken solltet, meldet dies sofort einem Mitglied des Kollegiums. Ich vertraue darauf, dass ihr euch zu jedem Zeitpunkt mit größtmöglicher Rücksichtnahme auf eure eigene Sicherheit und die aller anderen verhaltet.«

Dumbledores blaue Augen glitten über die Schüler, dann lächelte er erneut.

»Doch nun warten eure Betten auf euch, so warm und bequem, wie ihr es euch nur wünschen könnt, und ich weiß, dass euch nichts so wichtig ist, wie gut ausgeruht zu sein für den morgigen Unterricht. Deshalb sagen wir gute Nacht. Tschau, tschau!«

Die Bänke wurden mit dem üblichen ohrenbetäubenden Scharren zurückgeschoben und Hunderte von Schülern begannen aus der Großen Halle hinauszumarschieren, in Richtung ihrer Schlafsäle. Harry hatte es überhaupt nicht eilig, inmitten der gaffenden Menge hinauszugehen oder Malfoy so nahe zu kommen, dass er noch einmal die Geschichte von der zertretenen Nase auftischen konnte; er blieb zurück, tat so, als müsse er seinen Turnschuh neu schnüren, und ließ die meisten Gryffindors vorangehen. Hermine war nach vorne geeilt, um ihrer Pflicht als Vertrauensschülerin nachzukommen und die Erstklässler unter ihre Fittiche zu nehmen, aber Ron blieb bei Harry.

»Was ist wirklich mit deiner Nase passiert?«, fragte er, als die Menge, die aus der Großen Halle drängelte, ganz an ihnen vorbei war und sich niemand mehr in Hörweite befand.

Harry erzählte es ihm. Es war bezeichnend dafür, wie gut sie befreundet waren, dass Ron nicht lachte.

»Ich hab gesehen, wie Malfoy irgendwas vorgespielt hat, was mit einer Nase zu tun hatte«, sagte er düster.

»Ach ja, vergiss es«, entgegnete Harry bitter. »Hör lieber zu, was er gesagt hat, bevor er mich dort entdeckt hat …«

Harry hatte erwartet, dass Ron über Malfoys Prahlereien verblüfft sein würde. Aber Ron war nicht beeindruckt, was Harry für pure Dickköpfigkeit hielt.

»Was soll's, Harry, der hat nur vor der Parkinson angegeben … was für einen Auftrag hätte ihm Du-weißt-schon-wer denn schon gegeben?«

»Woher willst du wissen, dass Voldemort nicht jemand in Hogwarts braucht? Es wäre nicht das erste – «

»Wenn du nur ma' aufhör'n würdest, immer dies'n Namen zu nennen, Harry«, sagte eine vorwurfsvolle Stimme hinter ihnen. Harry blickte über die Schulter und sah Hagrid, der den Kopf schüttelte.

»Dumbledore benutzt diesen Namen«, sagte Harry stur.

»Tja, nu, das is' eben Dumbledore, was?«, sagte Hagrid geheimnisvoll. »Also, wieso bist du zu spät gekommen, Harry? Hab mir Sorgen gemacht.«

»Bin im Zug aufgehalten worden«, erwiderte Harry. »Warum bist du zu spät gekommen?«

»Ich war bei Grawp«, sagte Hagrid glücklich. »Hab gar nich gemerkt, wie spät es schon war. Er hat jetzt 'n neues Zuhause oben in'n Bergen, Dumbledore hat das besorgt – hübsche große Höhle. Er is' viel glücklicher, als er's im Wald war. Wir ham 'n nettes Pläuschchen gehalten.«

»Tatsächlich?«, sagte Harry und mied wohlweislich Rons Blick. Als er Hagrids Halbbruder, einen bösartigen Riesen, der ein Faible dafür hatte, Bäume mitsamt den Wurzeln auszureißen, zum letzten Mal getroffen hatte, hatte dessen Wortschatz aus fünf Wörtern bestanden, von denen er zwei nicht mal richtig aussprechen konnte.

»O ja, er hat sich richtig gut entwickelt«, sagte Hagrid stolz. »Ihr werdet staun'n. Ich überleg, ob ich ihn nich zu mei'm Gehilfen ausbilden soll.«

Ron schnaubte laut, es gelang ihm jedoch, das als heftigen Nieser zu tarnen. Sie standen jetzt neben dem Eichenportal.

»Jedenfalls sehn wir uns morgen, erste Stunde gleich nach'm Mittagessen. Kommt früher vorbei, dann könnt ihr Seiden… ich mein, Federflügel hallo sagen!«

Er hob den Arm zu einem fröhlichen Abschiedsgruß und ging durch das Portal hinaus in die Dunkelheit.

Harry und Ron schauten sich an. Harry ahnte, dass Ron das gleiche flaue Gefühl im Magen hatte wie er.

»Du nimmst Pflege magischer Geschöpfe nicht, oder?«

Ron schüttelte den Kopf.

»Und du auch nicht, stimmt's?«

Auch Harry schüttelte den Kopf.

»Und Hermine«, sagte Ron, »sie auch nicht, oder?«

Harry schüttelte wieder den Kopf. Was Hagrid sagen würde, wenn ihm klar wurde, dass seine drei Lieblingsschüler sein Fach abgewählt hatten, mochte er sich gar nicht ausmalen.