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1
Der weithin sich erstreckende Friedhof war im Morgenlicht ein Anblick von atemberaubender Schönheit. Die Reihen schimmernder Grabmäler verliefen durch das Tal und über alle Hänge und Hügel. Der Rasen, gemäht und geschnitten mit hingebungsvoller Sorgfalt, glich einem smaragdgrünen Tuch und verbarg die Rauheit des Erdreichs, in das er seine Wurzeln grub. Die stattlichen Kiefern auf den Wegen zwischen den Gräberfeldern bewirkten ein leises, klagendes Ächzen.
»Ergreifend«, sagte der Kapitän des Leichentransporters.
Er pochte sich auf die Brust, um mir genau zu zeigen, wo es ihn ergriff. Er war ein Dummkopf, dieser Kapitän.
»Man erinnert sich der Mutter Erde«, versicherte er mir, »an jedem Tag, den man fort ist, während all der Jahre im Weltraum und auf den anderen Planeten. Man ruft sie sich genau in Erinnerung. Dann landet man, öffnet die Schleuse und betritt ihre Oberfläche, und plötzlich sieht man, daß man sich nur der Hälfte von allem entsonnen hat, daß Mutter Erde zu groß ist und zu schön, um sie ganz im Gedächtnis behalten zu können.«
Hinter uns, im zugewiesenen Areal, zischte der Leichentransporter noch von der Reibungshitze der Landung. Aber die Mannschaft wartete nicht darauf, daß die Hitze wich. In der Höhe schwangen die schwarzen Pfortluken auf, Kräne fuhren aus, deren Ketten klirrten und rasselten, und man schickte sich an, die Fracht zu löschen. Von einem langen, flachen Gebäude, das ich für eine Lagerhalle hielt, kamen Fahrzeuge schnell über das Feld gerollt, um die Särge in Empfang zu nehmen.
Der Kapitän widmete den Vorgängen keine Aufmerksamkeit. Er stand da und starrte über den Friedhof. Er schien wie gebannt davon zu sein. Er vollführte eine alles umfassende Geste.
»Meilen um Meilen«, sagte er. »Nicht bloß hier in Nordamerika, sondern auch anderswo. Das ist nur ein winziger Teil.«
Er erzählte mir nichts, das ich nicht schon wußte. Ich hatte alle Lektüre gelesen, welche es über die Erde gab. Ich hatte jeden Fetzen Spule, der etwas über diesen Planeten enthielt und den ich in die Hände bekommen konnte, angesehen und angehört. Seit Jahren hatte ich von der Erde geträumt und mir Wissen über sie angeeignet, und endlich war ich hier auf der Erde, und dieser ungeheure Clown von einem Kapitän wollte eine Fremdenführung daraus machen. Als ob sie ihm persönlich gehöre. Vielleicht war das jedoch verständlich, denn er zählte zum Personal.
Natürlich hatte er recht damit, daß dies nur ein winziger Teil war. Die Grabmäler, der samtene Teppich des Rasens und die Reihen stattlicher Kiefern zogen sich über Meilen und Meilen hin. Hier im alten Nordamerika und auf den alten Britischen Inseln und dem europäischen Kontinent, in Nordafrika und China.
»Und jeder Quadratmeter davon«, sagte der Kapitän, »ist so ordentlich und gepflegt, so schön und friedlich und so erhaben wie dieser kleine Ausschnitt.«
»Und was ist mit dem Rest?« fragte ich.
Verärgert wandte sich der Kapitän mir zu. »Dem Rest?« wiederholte er.
»Dem Rest der Erde. Nicht alles ist Friedhof.«
»Ich glaube«, sagte der Kapitän mit einem Anflug von Schärfe, »Sie haben die Frage schon einmal gestellt. Anscheinend sind Sie davon besessen. Sie müssen begreifen, daß allein der Friedhof Bedeutung besitzt, sonst nichts.«
Gewiß, das war es eben. In der gesamten neueren Literatur über die Erde - das hieß, die der letzten ungefähr tausend Jahre - fand man nur selten eine Erwähnung des Restes der Erde. Die Erde war ein Friedhof, ließ man die wenigen Orte historischen oder kulturellen Interesses, welche die Pilgrim Tours so hoch anpries und auch förderte, einmal unberücksichtigt, und selbst im Falle dieser Attraktionen der Pilgrim Tours gewann man den Eindruck, daß lediglich der Großmut der Friedhofsverwaltung sie für künftige Generationen ausnahm und erhielt. Davon abgesehen, gab es keine Erwähnung, auch keine flüchtige, irgendeiner anderen Erde - als bestehe der ganze Rest der Erde nur aus Boden, der darauf wartete, daß man ihn dem Friedhof angliederte, als handle es sich bloß um einsames, kahles Gelände, schon so lange unbewohnt, daß es sogar jeglicher Erinnerung an frühere Zeiten ermangelte.
Der Kapitän blieb unfreundlich. »Wir werden Ihre Fracht entladen«, sagte er, »und sie in der Halle lagern. Dort ist sie Ihnen leicht zugänglich. Ich werde die Männer darauf hinweisen, daß man sie von den Särgen getrennt hält.«
»Sehr gütig von Ihnen«, sagte ich. Mein Verhältnis zu diesem Kapitän war längst abgekühlt. Ich hatte genug von ihm - am dritten Tag im Raum hatte ich schon genug gehabt. Ich hatte mich sehr bemüht, ihn zu meiden, aber das ist schwer an Bord eines Leichentransporters und wenn man sozusagen der Gast des Kapitäns ist - allerdings hatte ich ansehnlich dafür bezahlt, es sein zu dürfen.
»Ich hoffe«, sagte er in unverändert leicht verärgertem Tonfall, »daß Ihre Fracht nichts von irgendwie aufrührerischem Charakter enthält.«
»Mir war unbekannt«, erwiderte ich, »daß die Stellung der Mother Earth Inc. Anlaß zum Aufruhr bieten könnte.«
»Ich habe Sie nicht gefragt«, sagte er, »weil ich nicht aufdringlich sein wollte. Ich habe Sie für einen Ehrenmann gehalten.«
»Von Ehre war bei unserer Abmachung nie die Rede«, antwortete ich. »Sie war eine Angelegenheit rein monetärer Natur.«
Vielleicht, überlegte ich, hätte ich den Rest der Erde nicht erwähnen sollen. Wir hatten schon einmal davon gesprochen, und da bereits war mir aufgefallen, daß es sich um ein heikles Thema handelte. Aus meiner umfangreichen Lektüre hätte ich mir das denken können und besser den Mund gehalten. Aber sie war etwas, das mich nie losließ, meine Überzeugung, daß Die Alte Erde kein Planet ohne Antlitz geworden sein konnte, selbst in zehntausend Jahren nicht. Jemand, der danach Ausschau hielt, so war ich überzeugt, würde noch alte Narben finden, alte Triumphe, uralte Erinnerungen, niedergeschrieben in Erdreich und Stein.
Der Kapitän hatte sich zum Gehen gewandt, aber ich richtete noch eine Frage an ihn. »Dieser Mann«, meinte ich. »Der Manager. An den ich mich wenden soll.«
»Sein Name«, sagte der Kapitän steif, »lautet Maxwell Peter Bell. Sie finden ihn dort drüben im Verwaltungsgebäude.«
Er wies auf das schimmernde Massiv eines großen, weißen Bauwerks am anderen Ende des Landeplatzes. Eine Straße führte dorthin. Es war eine ziemlich lange Strecke, doch ich dachte, es würde mir gefallen, sie zu laufen. Personenfahrzeuge befanden sich ohnehin nicht in Sichtweite. Alle Fahrzeuge, welche die Lagerhalle verlassen hatten, standen vor dem Schiff aufgereiht und erwarteten die Särge.
»Das andere Gebäude dort«, sagte der Kapitän und streckte nochmals den Arm aus, »ist das von der Pilgrim Tours betriebene Hotel. Wahrscheinlich werden Sie darin ein Quartier bekommen können.«
Dann, nachdem er seine Pflicht und Schuldigkeit getan hatte, entfernte der Kapitän sich gemessenen Schritts.
Das Hotel, ein flacher, nicht mehr als drei Etagen hoher Bau, lag noch ein bedeutendes Stück weiter entfernt als das Verwaltungsgebäude. Abgesehen von den Bauten und dem Schiff, das in seinem Landefeld stand, war das Gelände ringsum frei, und bis auf die Fahrzeuge, die beim Schiff warteten, herrschte kein Verkehr.
Ich machte mich auf den Weg. Es wird angenehm sein, dachte ich, die Beine zu bewegen, gut, festen Boden unter den Füßen zu spüren, gut, nach den Monaten im Weltraum wieder reine Luft zu atmen. Und gut, auf der Erde zu sein. Oftmals war ich schon über der Aussicht, sie vielleicht nie betreten zu dürfen, in Verzweiflung geraten.
Elmer würde höchstwahrscheinlich außer Rand und Band sein, weil ich ihn nach der Landung nicht sofort ausgepackt hatte. Es wäre auch vernünftig gewesen, das zu tun, denn während ich Bell aufsuchte, hätte er, wäre er jetzt ausgepackt, schon den Bronco vorbereiten können. Doch zu diesem Zweck hätte ich hier warten müssen, bis die Kisten ausgeladen und in die Lagerhalle geschafft worden waren, und es verlangte mich danach, etwas zu unternehmen, ich war begierig, die Dinge anzukurbeln.
Ich fragte mich, während ich ausschritt, warum ich bei diesem Maxwell Peter Bell vorsprechen sollte. Nur eine Gefälligkeit, hatte der Kapitän zu mir gesagt, aber das glaubte ich nicht recht. Die ganze Reise hatte verdammt wenig mit Gefälligkeit gemein gehabt, sondern vielmehr mit harter Barzahlung, dem Rest von Elmers Lebensersparnissen. Es schien so, dachte ich, als sei der Friedhof eine Art von Regierung, die von jedem Besucher diplomatische Aufwartung verlangen konnte. Aber das war er nicht im geringsten. Er war ein bloßes Geschäft, seiner Natur nach kalt berechnend und zynisch. Schon lange seit Beginn meiner Studien über Die Alte Erde war meine Meinung von der Mother Earth Inc. die denkbar schlechteste.
2
Maxwell Peter Bell, Manager der Mother Earth Inc., Abteilung Nordamerika, war ein dicklicher Mann, dem daran lag, daß man ihn mochte. Er saß in seinem abgewetzten, schweren, dick gepolsterten Sessel hinter einem wuchtigen, glänzenden Tisch in seinem Büro, das sich innerhalb eines Aufbaus auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes befand. Er rieb sich die Hände und lächelte mich beinahe zärtlich an, und es hätte mich nicht gewundert, wäre das runde, weiche Braun seiner Augen geschmolzen und wie Schokoladenguß über die Wangen gelaufen.
»Hatten Sie eine angenehme Reise?« fragte er. »Hat Kapitän Anderson für Ihre Bequemlichkeit gesorgt?«
Ich nickte. »So gut wie möglich. Natürlich bin ich dankbar. Ich hatte kein Geld für den Flug auf einem Schiff der Pilgrim Tours.«
»Schweigen Sie von Dankbarkeit«, meinte er sanftmütig. »Wir sind es, die Grund zur Freude besitzen. Nur wenige Leute der Künste entwickeln Interesse an dieser unserer Mutter Erde.«
In seiner netten, glatten Art trug er eine Spur zu dick auf, denn im Lauf der Jahre hatten viele Leute der Künste, wie er sie nannte, der Erde ihre Aufmerksamkeit geschenkt, und zwar ausnahmslos unter der äußerst zuvorkommenden und mütterlichen Anleitung der Mother Earth Inc. selbst. Auch ohne das Wissen um diese Gönnerschaft vermochte man sie zu erraten. Das meiste ihrer Werke klang, las sich oder sah so aus wie hochdotierte Reklamemachwerke zur Werbung für den Friedhof.
»Eine freundliche Gegend hier«, sagte ich, eher gesprächsweise beiläufig als aus besonderem Grund.
Er wußte nicht, daß ich es hören wollte, aber das wollte ich. Er rückte sich bequemer im Sessel zurecht, wie eine Henne, die über ihre Eier das Gefieder plustert, bevor sie sich zum Brüten niederläßt.
»Gewiß haben Sie die Kiefern gehört«, sagte er. »Sie singen ein Lied. Sogar hier oben, wenn man ein Fenster öffnet, vernimmt man ihren Gesang. Auch nach dreißig Jahren kann ich ihnen noch stundenlang lauschen. Es ist das Lied eines ewigen Friedens, den man so vollständig nirgendwo zu finden vermag wie hier auf der Erde. Manchmal habe ich den Eindruck, daß es nicht bloß ein Lied der Kiefern und des Windes ist, auch nicht allein eins der Erde, sondern das Lied einer über die Galaxis verstreuten Menschheit, die am Ende gemeinsam hier in der Heimat ihre Ruhe findet.«
»Soviel habe ich nicht gehört«, antwortete ich. Mir war das Ächzen und Knarren der Bäume eher wie das Stöhnen unerlöster Seelen erschienen. »Vielleicht fällt es mir mit der Zeit noch auf, wenn ich länger gelauscht habe. Deshalb bin ich ja hier.«
Genauso gut hätte ich schweigen können. Er hörte mir gar nicht zu. Er hatte sein Sprüchlein aufzusagen, so eine großmächtige Leier, und er beabsichtigte das zu tun und sonst nichts.
»Seit mehr als dreißig Jahren«, sprach er weiter, »verneige ich mich in jedem bewußten Moment vor den großen Idealen der Letzten Heimkehr. Meine Aufgabe zählt nicht zu denen, die man leichten Herzens übernimmt. Viele Männer haben es vor mir getan, viele andere Manager haben schon vor mir auf diesem Platz gesessen, sehr viele, und jeder einzelne war ein ehrbarer und feinfühliger Mensch. Ich bin angetreten, um ihr Werk fortzusetzen, aber nicht nur das. Ebenso muß ich die großen Traditionen wahren, die die Mother Earth während ihrer gesamten Geschichte stets gepflegt hat.«
Er sank im Sessel zurück, und seine braunen Augen blickten womöglich noch sanfter drein und ein wenig wäßrig.
»Bisweilen ist das keine leichte Aufgabe«, versicherte er. »Es gibt vielerlei Umstände, mit denen man sich auseinandersetzen muß. Da sind diese Andeutungen und Flüsterreden und unterschwelligen Vorwürfe, die man verbreitet, aber nie öffentlich ausspricht, so daß man sie widerlegen könnte. Ich nehme an, Sie haben dergleichen auch schon gehört.«
»Etwas davon«, sagte ich vorsichtig.
»Und sie geglaubt?« »Etwas davon«, wiederholte ich.
»Wir wollen nicht um die Dinge herumreden«, sagte er mit einem Anflug von Schroffheit. »Betrachten wir die Angelegenheit einmal. Man kann unschwer feststellen, daß die Mother Earth Inc. eine Friedhofsgesellschaft ist und die Erde ein Friedhof. Aber sie ist weder ein raffgieriges Schwindelunternehmen noch ein Betrug mit der Frömmigkeit oder eine ausschließlich dem Profit nachjagende Maklerfirma, die aus wertlosem Grund und Boden Riesensummen herausschlüge. Selbstverständlich operieren wir im Rahmen allgemein zulässiger Geschäftsmethoden. Anders ginge es nicht. Nur auf diese Weise können wir der menschlichen Galaxis unsere Dienste bieten. Sie erfordern eine Organisation, die ausgedehnter ist als man sie sich zunächst vorzustellen vermag. Und weil sie so ausgedehnt ist, ist sie zwangsläufig locker. Es gibt keine ständige, straffe Kontrolle des Gesamtunternehmens. Daher besteht immer die Möglichkeit, daß wir hier in der Verwaltung von vielen Handlungen gar nicht erfahren, die wir niemals billigen würden. Wir beschäftigen eine umfangreiche Truppe von Public RelationsSpezialisten, um unser Unternehmen zu fördern. Notwendigerweise müssen wir bis hin zu den entferntesten Winkeln der von der Menschheit besiedelten Gebiete für uns Werbung betreiben. Wir geben gerne zu, daß wir auf jedem von Menschen bewohnten Planeten eine Vertretung unterhalten. Doch all das kann durchaus als normale Geschäftspraxis gelten. Und berücksichtigen Sie - indem wir unser Unternehmen so nachdrücklich führen, erweisen wir der Menschheit einen großen Nutzen, und zwar in wenigstens zweierlei Beziehung.«