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Als Cynthia ihren Lauf bei einer Ansammlung mächtiger Felsblöcke verlangsamte, holte ich sie ein. Dann liefen wir nebeneinander. Ich bemerkte, daß sie Brutalinskis Gewehr nicht länger mittrug.
»Ich habe es weggeworfen«, sagte sie. »Es war mir zu schwer. Außerdem war es mir hinderlich.«
»Macht nichts«, antwortete ich. Und es war tatsächlich gleichgültig. Jedes Gewehr enthielt bloß eine Ladung, und zum Nachladen besaßen wir weder Kugeln noch Pulver; davon abgesehen, wußten wir auch gar nicht, wie man ein Gewehr nachlud. Die Handhabung dieser Waffen gestaltete sich reichlich umständlich, und ich hatte den Eindruck, daß ein Mann verdammt lange damit üben mußte, bevor er auch nur ein Scheunentor zu treffen vermochte.
Wir erreichten die Mündung eines sehr engen, V-förmigen Hohlwegs.
»Laß uns dort hinunter«, sagte Cynthia. »Sie werden nämlich annehmen, daß wir im Tal bleiben.«
Ich nickte. Wenn sie uns verfolgten, würden sie glauben, wir hätten den leichteren Weg gewählt, von der Felsnische aus durchs Tal, immer geradeaus.
»Fletch, jetzt besitzen wir nichts mehr«, fügte sie hinzu. »Sie haben jetzt unser Gepäck.«
Ich zögerte. »Ich könnte umkehren«, sagte ich. »Noch wird es am Lagerplatz sein. Du folgst dem Hohlweg. Ich werde dich schon einholen.«
»Wir dürfen uns keinesfalls nochmals trennen«, entgegnete sie entschieden. »Wir bleiben zusammen. Das alles wäre uns nicht geschehen, hätten wir Elmer dabei.«
»Der Wolf hat sie auf die Bäume getrieben«, sagte ich. »Entweder sitzen sie auf Bäumen oder sie geben Fersengeld.«
»Nein«, beharrte sie. »Einige von denen auf den Bäumen haben Gewehre. Außerdem sind es so viele, daß der Wolf nicht gegen alle ankommen kann. Sie werden sich zerstreut haben. Der Wolf kann nicht alle zugleich jagen.«
»Du hattest sie gesehen«, meinte ich. »Deshalb hast du dem Großen die Pfanne auf den Kopf gehauen.«
»Ich sah sie über den Abhang kommen«, bestätigte sie. »Aber wahrscheinlich hätte ich ihn sowieso niedergeschlagen. Wir konnten ihnen nicht trauen, Fletch. Und du kehrst nicht um. Ich müßte mitgehen, und davor fürchte ich mich.«
Wir erklommen den Hohlweg. Diese Strecke war unwegsamer als das Tal; es ging steil bergauf.
Ich ließ Cynthia vorausgehen, während ich mich mit meinen Sorgen beschäftigte. Wir mußten uns in regelrechter Panik befunden haben, als wir aus der Felsnische flüchteten. Es hätte uns keine Minute gekostet, die Bündel aufzuraffen. Aber wir hatten es versäumt. Infolgedessen besaßen wir nunmehr weder Lebensmittel noch Decken. Wir besaßen gar nichts mehr. Außer Feuer, fiel mir ein. Das Feuerzug trug ich in der Tasche. Der Gedanke, daß wir wenigstens noch ein Feuer zu entzünden vermochten, ermutigte mich ein wenig, wiewohl nicht erheblich.
Der Weg war zermürbend, und ich verspürte das Bedürfnis nach einer Verschnaufpause. Ich bemühte mich um Konzentration und versuchte darauf zu lauschen, ob hinter uns Lärm erscholl, vernahm jedoch nichts; einen Moment lang fragte ich mich, ob das, woran ich mich erinnerte, auch wirklich stattgefunden hatte. Natürlich wußte ich es genau.
Wir näherten uns der Höhe des Hügels, und der Hohlweg verlor an Steilheit. Mühsam erreichten wir die Hügelkuppe. Dort stand dichter Wald, und wir betraten ein Märchenland der Schönheit. Die Bäume wirkten auf seltsame Weise greifbar in ihrem Rot und Gelb aller Farbtöne, und an einigen wanden sich Kletterpflanzen empor, ein Geflecht aus tiefem Gold und Scharlachrot inmitten des farbenfrohen Laubs. Der Tag war warm und klar. Während ich die Farbenpracht anstaunte, erinnerte ich mich des Tags der Ankunft - seitdem waren nur wenige Tage verstrichen, aber mir erschienen sie - wie Wochen -, als wir den Friedhof verlassen hatten und ich den ersten Herbstwald meines Lebens sah.
Wir verharrten, um Atem zu holen, und blickten den Hohlweg hinab, durch den wir gekommen waren.
»Warum verfolgen sie uns bloß?« meinte Cynthia. »Gewiß, wir haben ihnen die Pferde genommen, aber wenn es darum geht, warum folgen sie nicht den Pferden, statt ihre Zeit mit uns zu verschwenden?«
»Vielleicht aus Rachsucht«, sagte ich. »Aus dem Wahn, es uns heimzahlen zu müssen. Wahrscheinlich ist nur ein Teil von ihnen hinter uns her. Der Rest sucht die Pferde.«
»Möglicherweise bewegt sie bloße Rachsucht dazu«, erwiderte sie, »aber ich kann's nicht recht glauben. Dahinter muß mehr stecken.«
»Natürlich der Friedhof«, keuchte ich, obschon ich in diesem Moment nicht die geringste Klarheit darüber besaß, wie ich es eigentlich meinte, wiewohl man wirklich den Eindruck haben konnte, der Friedhof sei an allem schuld, das geschah. Doch kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, da fügte sich in meinem Kopf das gesamte Mosaik ineinander.
»Begreifst du nicht«, meinte ich, »daß der Friedhof seine Finger in allem hat? Die Friedhofsleute können Druck ausüben. Jemand in der Ansiedlung hat eine Kiste voll Whiskey dafür bekommen, daß er Bronco in die Luft zu sprengen versuchte. Und diese Grabräuber ...«
»Aber die Grabräuber«, unterbrach sie mich, »sind ein anderer Fall. Sie bestehlen den Friedhof. Der Friedhof bekämpft sie. Beide Seiten würden sich nie auf einen Handel einlassen.«
»Sieh einmal«, sagte ich. »Es kann sein, daß sie sich beim Friedhof einschmeicheln wollen. Sie bemerkten, daß die Wölfe nach uns spürten, und wer als der Friedhof konnte sie losgeschickt haben? Und die Wölfe hatten versagt. Für Leute wie unsere Grabschänder dürfte es naheliegend gewesen sein, die Gelegenheit wahrzunehmen und dem Friedhof unsere Köpfe zu bringen, um sich anzubiedern. So einfach liegt der Fall.«
»Möglicherweise«, sagte sie. »Der Himmel mag's wissen. Im Moment klingt es jedenfalls einleuchtend.«
»Und deshalb empfiehlt es sich«, sagte ich, »den Weg nun fortzusetzen.«
Wir überquerten den Hügel und gelangten alsbald in eine Schlucht, in der Gesteinstrümmer verstreut lagen; ihr schloß sich ein Tal an. Das Tal war ziemlich weitläufig, so daß wir leichter vorankamen.
Nach einer Weile erreichten wir einen Baum, den ein gewaltiger Weinstock beinahe völlig überwuchert hatte, und ich kletterte hinauf. Vögel und kleines Getier hatten die meisten Reben kahlgefressen, aber ich fand einige, die noch die Mehrzahl ihrer Trauben trugen. Ich pflückte sie und ließ sie abwärts durchs Geäst fallen. Die Trauben schmeckten reichlich sauer, aber das war uns gleichgültig. Wir waren hungrig, und sie füllten unsere Mägen; ich war mir jedoch dessen bewußt, daß wir uns künftig auf andere Weise ernähren mußten. Von Trauben konnten wir auf Dauer nicht leben. Angelhaken hatten wir nicht, aber ich besaß ein Taschenmesser, mit dem sich Weidenruten schneiden ließen, aus denen wir womöglich einen Korb anfertigen und ihn als eine Art von Schleppnetz verwenden konnten. Vielleicht vermochten wir auf diese Weise Fische zu fangen. Mir fiel ein, daß wir kein Salz hatten; aber sobald wir hungrig genug waren, kamen wir sicher gut ohne aus.
»Glaubst du, Fletch«, fragte Cynthia, »daß wir Elmer jemals finden werden?«
»Vielleicht findet Elmer uns«, sagte ich, um sie zu ermutigen. »Er wird uns suchen.«
»Wir haben Nachricht hinterlassen«, meinte sie.
»Die Nachricht ist nicht länger dort«, rief ich ihr ins Gedächtnis zurück. »Die Grabräuber hatten sie gefunden. Sie haben sie bestimmt nicht zurückgelassen.«
Das Tal war breiter als die Schlucht, aber wir gelangten keineswegs in flaches Land. Im Gegenteil, die Berge erhoben sich noch mächtiger als zuvor und schienen uns erdrücken zu wollen. Wir befanden uns zwischen hohen Felswänden, die beiderseits bis in eine Höhe von ungefähr fünfzig Meter aufragten. Die Landschaft legte ihren erfreulichen Charakter rasch ab, wurde immer schauriger und furchteinflößender. Der Bach, welcher hier floß, war breit, und er besaß weder Untiefen noch Schnellen. Er murmelte nicht, sondern rauschte machtvoll dahin. Die Sonne stand tief im Westen, und mit einiger Überraschung stellte ich fest, daß wir den ganzen Tag lang marschiert waren; ich war zwar müde, fühlte mich aber keineswegs zerschlagen wie nach einem Tagesmarsch.
Die Steilwand wich zurück. Wir erreichten eine Felsspalte. Mächtige Bäume umstanden sie, und über ihr klammerten sich einige struppige Zedern ins Gestein.
»Sehen wir uns das genauer an«, sagte ich. »Wir brauchen einen Platz zum Übernachten.
»Wir werden scheußlich frieren ohne Decken«, meinte Cynthia.
»Wir machen ein Feuer«, entgegnete ich.
Sie erschauderte. »Können wir uns das erlauben? Ist es nicht zu gefährlich?«
»Wir müssen unbedingt eins machen«, erwiderte ich.
In der Felsspalte war es dunkel. Zwischen den Felswänden konnten wir nicht erkennen, wie weit hinein sie reichte, denn die Finsternis wuchs, Als wir tiefer in den Riß eindrangen. Der Untergrund war kiesig, aber ein Stück hinter dem Zugang befand sich eine leicht erhöhte Felsplatte.
»Ich suche Holz«, sagte ich.
»Fletch!«
»Wir müssen ein Feuer anzünden«, sagte ich. »Wir müssen es ganz einfach wagen. Ohne Feuer würden wir erfrieren.«
»Ich habe Angst«, sagte sie leise.
Ich sah sie an. In der Dunkelheit war ihr Gesicht nur ein fahler Fleck.
»Nun habe ich doch Angst«, sprach sie weiter. »Und ich hatte gedacht, es müsse nicht sein. Ich hatte mir vorgenommen, keine zu haben. Ich war sicher, es durchhalten zu können. Draußen, am hellen Tag, da ging es auch immer. Aber nun wird es Nacht, Fletch, und wir haben weder Lebensmittel noch wissen wir, wo wir sind ...«
Ich trat zu ihr und nahm sie in meine Arme. Sie drängte sich an mich, umarmte mich ihrerseits. Und zum ersten Mal, seit alles angefangen hatte, seit jenem Augenblick, als ich aus dem Verwaltungsgebäude die Treppe hinunterging und sie unten im Wagen saß, betrachtete ich sie als Frau, und ich wunderte mich ein wenig, wieso es so lange gedauert hatte. Zuerst hatte ich sie als lästigen Anhang empfunden, als sie urplötzlich mit Thorneys seltsamem Brief aufgetaucht war. Dann hatten die Ereignisse sich überstürzt und ließen uns nicht zur Ruhe kommen. Immerhin hatte sie sich als guter Kamerad erwiesen, nie genörgelt oder Aufregungen verursacht.
Wenn ich mein Verhalten kritisch beurteilte, schnitt ich weniger gut ab. Ihr unterwegs ein paar nette Komplimente zu machen, hätte gewiß nicht geschadet. In dieser Hinsicht war meine Haltung sicherlich falsch gewesen.