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Als wir durchs Gartentor traten, erblickten wir unter der Tür einen Mann, der uns erwartete.
»Ich fürchtete schon«, sagte er, »Sie hätten es sich anders überlegt und wollten doch nicht kommen.«
»Das tut uns leid«, versicherte Cynthia. »Wir sind aufgehalten worden.«
»Das ist nicht schlimm«, antwortete der Mann. »Das Essen steht erst seit wenigen Minuten auf dem Tisch.«
Er war hochgewachsen, hager und gekleidet in eine dunkle Hose und eine hellere Jacke. Sein Hemd war weiß, der Kragen nicht zugeknöpft. Sein Gesicht war tiefbraun, das Haar schlohweiß, und er besaß einen angegrauten Schnurrbart, gepflegt und sorgsam gestutzt.
Alle drei gingen wir ins Haus. Der Raum, den wir betraten, war klein, aber außerordentlich liebevoll eingerichtet. An einer Wand stand ein Side-board mit einem Krug darauf. In der Mitte stand ein Tisch mit einem weißen Tischtuch, gedeckt mit Silber und funkelndem Kristallglas. An den Wänden hingen Gemälde, und den Boden bedeckte ein knöcheltief flauschiger Teppich.
»Bitte, Miß Lansing, setzen Sie sich dorthin«, bat unser Gastgeber. »Und Mr. Carson gegenüber. Nun können wir anfangen. Sicherlich ist die Suppe noch heiß.«
Außer uns dreien war niemand anwesend. Wahrscheinlich hatte jemand anderes, als unser Gastgeber die Mahlzeit vorbereitet, so nahm ich an, aber ich entdeckte keinen Hinweis auf eine weitere Person, ebensowenig einen auf eine Küche. Doch ich beschäftigte mich nur flüchtig damit, und der Gedanke verflog so rasch wie er gekommen war. Er zählte zu jener Art von Gedanken, die hier, in diesem Raum, bei diesem Mahl, unangebracht zu sein schienen.
Die Suppe war ausgezeichnet, der Salat saftig und grün, die Steaks waren hervorragend zubereitet, und der Wein war eine Köstlichkeit.
»Vielleicht interessiert es Sie«, begann unser liebenswürdiger Gastgeber, »zu erfahren, daß ich die Möglichkeiten, die sich aus Ihren Gedanken ergeben, welche sie gewiß nicht leichtfertig bei unserer letzten Begegnung äußerten, eingehenden Erwägungen unterzogen habe. Ich fände es höchst verblüffend und überdies erfreulich, könnte man nicht bloß die eigenen Erfahrungen, sondern auch die Erfahrungen anderer Menschen speichern. Stellen Sie sich die Werte vor, mit denen wir unsere einsamen Jahre des Alters bereichern könnten, wenn die alten Freunde nicht mehr sind und die Gelegenheit, neue Erfahrungen zu sammeln, sich vermindert haben. Dann brauchten wir nur eins zu tun - in ein Regal greifen und eine Konserve, oder wie man es nennen will, herausholen, sagen wir, eine hundertjährige, sie öffnen, und schon erfreuen wir uns an den vergangenen Erlebnissen noch einmal, erleben sie so deutlich und frisch wieder, wie beim ersten Mal.«
Ich hörte ihm zu und war überrascht, allerdings keineswegs so überrascht, wie ich es wahrscheinlich hätte sein sollen. Mir war ungefähr so zumute wie jemandem, der einen fantastischen Traum hat und weiß, daß er träumt, daß alles nur ein Hirngespinst außerhalb seines Einflusses ist.
»Ich habe mir auszumalen versucht«, sprach unser Gastgeber weiter, »mit welchen Inhalten man eine solche Konserve wohl füllen wird. Neben dem eigentlichen Erlebnis, sozusagen dem Kern, würde man sicherlich auch gerne die Nebensächlichkeiten festhalten, den Hintergrund - Geräusche, das Gefühl von Sonne und Wind, die Wolke am Himmel, die Farben und Gerüche. Eine Konserve müßte so perfekt wie möglich sein, um das gewünschte Resultat zu erzielen. Sie müßte all jene Elemente umfassen, welche für die Wiederholung eines längst vergangenen Ereignisses von Bedeutung sein könnten. Sind Sie nicht auch dieser Meinung, Mr. Carson?«
»Ja«, bestätigte ich, »das finde ich auch.«
»Ich habe ebenso daran gerätselt«, fuhr er zu reden fort, »nach welchen Gesichtspunkten man die Erfahrungen auswählen sollte, die man speichert. Wäre es weise, nur die schönen und angenehmen auszulesen, oder sollte man ein wenig Unangenehmes hineinmischen? Vielleicht wäre es gut, einige Erfahrungen zu konservieren, die geeignet sind, die Fähigkeit zum Empfinden von Ehrfurcht zu erhalten.«
»Ich glaube«, sagte Cynthia, »man sollte ein breites Spektrum zusammenstellen, jedoch dafür sorgen, daß die erfreulichen Dinge überwiegen. Falls später kein Bedürfnis bestünde, die weniger erfreulichen Erlebnisse zu wiederholen, könnten sie unangetastet im Regal bleiben.«
»So habe ich es mir auch gedacht«, erklärte unser Gastgeber.
Alles war sehr nett, gemütlich und äußerst kultiviert. Selbst wenn es keine Wirklichkeit war, man glaubte gerne daran, es sei Wirklichkeit. Ich ertappte mich dabei, daß ich den Atem anhielt, als könne ich die Illusion durchs Atemholen zerstören.
»Es gibt einen weiteren Aspekt, den man berücksichtigen muß«, ergänzte er. »Verfügt man über die erwähnte Möglichkeit, soll man sich dann darauf beschränken, Erfahrungen aus dem tatsächlichen Leben zu konservieren, oder soll man so weit gehen, modellhafte Erfahrungen zu konstruieren, von denen man Grund zur Annahme hat, sie könnten später von Nutzen sein?«
»Ich hielte es für am besten«, sagte ich, »Erfahrungen ganz unbefangen und ohne besondere Spitzfindigkeit zu konservieren. Auf diese Weise wäre man am ehrlichsten mit sich.«
»Obendrein habe ich mich darin vertieft, über eine Welt zu spekulieren, worin niemand erwachsen wird«, erzählte er. »Zugegeben, meine Überlegungen sind ein wenig akrobatisch und sprunghaft. In einer Welt, in der man Erfahrungen zu konservieren in der Lage ist, würde man vergangene Erlebnisse später lediglich wiedererleben können. Aber in einer Welt ewiger Jugend besäße man keinen Bedarf an solchen Konserven. Jeder Tag brächte wie in der Welt der Kinder neue Entdeckungen, und das Staunen würde immer währen. Der Tod wäre unbekannt, ebenso alle Ängste vor der Zukunft. Das Leben dauerte ewig und erführe nicht die geringste Veränderung. Das Individuum würde in einer ewigen Matrix existieren, ohne Unterschiede zwischen dem einen Tag und dem nächsten, doch niemand würde es bemerken, so daß sich niemand langweilte. Aber ich glaube, wir verweilen nun schon zu lange bei diesem Thema. Ich habe hier etwas, das ich Ihnen zeigen möchte. Eine Neuerwerbung.«
Er erhob sich und trat ans Sideboard. Dort nahm er den Krug, kam damit zurück zum Tisch und reichte ihn Cynthia.
»Eine Hydria«, sagte er. »Ein Wasserkrug. Athen, sechstes Jahrhundert vor der Zeitrechnung. Ein wunderschönes Zeugnis der Schwarzfigurenarbeit. Der Töpfer hat den Krug aus einer Mischung von rotem und gelbem Lehm geformt. Dann füllte er die Gravuren mit leuchtendem Schwarz aus.
Wenn Sie die Unterseite näher betrachten, werden Sie das Zeichen des Töpfers erkennen.«
Cynthia drehte den Krug um. »Hier ist es«, bestätigte sie.
»Das heißt: >Nikosthenes hat mich gemacht««, bemerkte unser Gastgeber.
Cynthia reichte mir den Krug über den Tisch. Er war schwerer als ich erwartet hatte. Ringsum war er graviert, und die Gravuren waren mit schwarzem Füllmaterial ausgelegt. Eine stellte einen erschlagenen Krieger dar, der rücklings am Boden lag, seinen Schild noch über dem Arm und den Speer, dessen Spitze aufwärts wies, noch umklammert. Ich drehte den Krug und betrachtete die andere Figur, einen zweiten Krieger, der sich entmutigt auf seinen Schild stützte. Den gebrochenen Speer hielt er gesenkt. Seine Müdigkeit und seine Bedrücktheit kamen deutlich zum Ausdruck; Erschöpfung und Niederlage waren in alle Konturen eingearbeitet.
»Aus Athen, sagen Sie?«
Er nickte. »Ein wahrhaft glücklicher Fund. Der Krug ist ein hervorragendes Zeugnis der höchsten griechischen Töpferkunst jener Epoche. Sie bemerken sicherlich, daß die Figuren stilisiert sind. Die Töpfer jener Zeit dachten nicht an realistische Darstellungen. Ihnen galt das Ornament mehr als die Wirklichkeitstreue.«
Er nahm den Krug von mir entgegen und stellte ihn zurück aufs Side-board.
»Ich fürchte«, sagte Cynthia, »wir müssen gehen. Es wird langsam spät. Das Essen war wundervoll.«
Bisher war alles schon sehr seltsam gewesen, wiewohl durchaus behaglich, doch nun verstärkte sich das Gefühl der Fremdartigkeit, die Wirklichkeit begann sich zu trüben. Was dann noch geschah, bis wir zur Tür und zum Gartentor hinaus waren, weiß ich nicht.
Dann kehrte die Bewußtseinsklarheit zurück, und ich fuhr auf dem Absatz herum. Das Haus stand noch dort, aber nun sah man ihm Witterungseinflüsse an, die es stark in Mitleidenschaft gezogen hatten. Die halb offene Tür schwankte in den Angeln. Der Türbalken hing in der Mitte durch und vermittelte den Eindruck, als wanke das Haus. Mehrere Fensterscheiben waren zerbrochen. Kein Zaun und keine Rosen umgaben es, neben der Tür blühte kein Baum. »Wir sind wieder draußen«, sagte ich.
Cynthia atmete tief ein. »Es hat alles so echt gewirkt«, sagte sie.
Durch meinen Kopf hämmerte die Frage, warum er, wer es auch sein mochte, es getan hatte. Wozu ein so ausgeklügeltes Blendwerk? Warum hatte er uns nicht einfach in dies verlassene, vom Zahn der Zeit zernagte, offenbar seit Jahren unbewohnte Haus eingelassen, obschon es doch seinen Absichten ebenso gut gedient hätte? Wir hätten uns umgeschaut und wären unseres Wegs gegangen.
Cynthia folgte mir, als ich zurück zur Tür schritt und das Haus betrat. Das Innere war unverändert, abgesehen davon, daß die gemütliche, liebevolle Ausstattung fehlte. Keine Bilder hingen an den Wänden, kein Teppich bedeckte den Boden. Der Tisch stand in der Mitte, die Stühle stand noch so dort, wie wir sie verlassen hatten, als wir gingen, vom Tisch zurückgeschoben. Aber auf dem Tisch war nichts. Das Sideboard allerdings war noch vorhanden, und selbst der Krug stand noch darauf.
Ich durchquerte den Raum, nahm den Krug und trat damit unter die Tür, wo es heller war. Soviel ich erkennen konnte, war es derselbe, den unser Gastgeber uns gezeigt hatte.
»Verstehst du etwas von griechischen Keramiken?« fragte ich Cynthia.
»Ich weiß nur, daß es Schwarzfiguren- und Rotfigurenarbeiten gab. Schwarz gab es früher.«
Ich rieb mit dem Daumen über das Töpferzeichen.
Sie schüttelte den Kopf.
»Es stimmt, daß die Töpfer solche Zeichen anbrachten. Ich vermochte sie jedoch nie zu entziffern. Etwas allerdings finde ich merkwürdig. Der Krug sieht so neu aus, als wäre er erst vor kurzem aus dem Brennofen gekommen. Er trägt keine Spuren von Alter oder Abnutzung. Gewöhnlich entdeckt man solche Töpferware bei Ausgrabungen. Sie haben dann schon jahrhundertelang im Erdreich gelegen. Dieser Krug aber sieht aus, als sei das mit ihm nie der Fall gewesen.«
»Ich zweifle daran, daß er es jemals hat - im Erdreich gesteckt, meine ich. Der Anachronier dürfte ihn sich zur Zeit der Herstellung verschafft haben, als Muster der besten damaligen Arbeiten. Durch die Jahrhunderte hat er ihm anscheinend sehr sorgfältige Pflege angedeihen lassen.«
»Du glaubst, er ist es?«
»Wer sonst? Wer würde in einer so unruhigen, finsteren Zeit wie dieser einen solchen Krug so liebevoll hüten?«
»Aber er zeigt sich in so vielen Gestalten«, sagte sie. »Er ist der Volkszähler und jener Mann, mit dem wir gegessen haben. Er ist auch der Mann, dem mein Urahn begegnete.«
»Ich vermute«, erwiderte ich, »er kann jede Gestalt annehmen, die ihm beliebt. Oder zumindest vermag er es vorzuspiegeln. Allerdings hege ich den Verdacht, daß der Volkszähler seine wahre Gestalt ist.«
»Falls du recht hast, liegt unter unseren Füßen der Schatz, tief in diesem Berg. Wir müßten nur den Zugang zum Schacht finden.«
»Ja, und wenn wir den Schatz gefunden haben«, meinte ich, »was machen wir dann? Sollen wir uns hineinsetzen und die Kostbarkeiten angaffen?
Sollen wir ein Stück nehmen und es betasten?«