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»Es ist nicht erforderlich, daß Sie sich damit abmühen«, sagte Elmer leicht verstimmt. »Wenn es darauf ankommt, bin ich ein ausgezeichneter Koch.«
»Ich auch«, sagte Cynthia.
»Morgen verschaffe ich uns Fleisch«, versprach Elmer. »Ich habe ein paar Eichhörnchen und einige Hasen gesehen.« »Wir besitzen keine Jagdausrüstung«, gab ich zu bedenken. »Keine Gewehre.«
»Wir stellen einen Bogen her«, sagte Cynthia.
»Weder Gewehre noch Bogen sind notwendig«, versicherte Elmer. »Steine genügen. Ich werde einige Kieselsteine sammeln ...«
»Mit Steinen kann man nicht jagen«, wandte Cynthia ein. »Damit kann man nicht treffsicher genug werfen.«
»Ich kann es sehr wohl«, erklärte Elmer. »Ich bin eine Maschine. Ich brauche mich nicht auf Muskeln oder ein menschliches Auge zu verlassen, das, so wunderbar es auch sein mag ...«
»Wo ist Bronco?« fragte ich.
Elmer wies nach hinten.
»Er befindet sich in Trance«, sagte er.
Ich ging ums Feuer, um nach ihm zu sehen. Es stimmte, was Elmer gesagt hatte. Bronco stand am Rand unseres Lagerplatzes, die sensorischen Apparaturen ausgefahren, und absorbierte sämtliche Eindrücke.
»Der beste Kompositor, den es jemals gegeben hat«, sagte Elmer stolz. »Er hat sich geradezu auf die Arbeit gestürzt. Er ist wirklich sensitiv.«
Cynthia holte zwei Näpfe heraus und füllte sie mit Suppe. Einen Napf reichte sie mir.
»Aufgepaßt«, mahnte sie, »heiß.«
Ich setzte mich neben sie und begann vorsichtig zu essen. Die Suppe schmeckte nicht allzu schlecht, und sie war heiß. Jede Löffelfüllung mußte ich zum Abkühlen anpusten, bis ich sie in den Mund schieben konnte.
Erneut erklang das Bellen, und diesmal näher, hinter dem nächsten oder übernächsten Hügel.
»Es sind Hunde«, sagte Elmer. »Sie verfolgen etwas. Vielleicht sind dort Menschen.«
»Vielleicht ist es bloß ein wildes Rudel«, meinte ich.
Cynthia schüttelte den Kopf. »Nein. Während des Aufenthalts im Pilgrim Inn habe ich mich ein bißchen umgehört. Hier draußen in der Wildnis gibt es tatsächlich Menschen - oder was man beim Friedhof Wildnis nennt. Anscheinend weiß niemand sonderlich viel über sie, oder zumindest spricht keiner gern viel darüber. Als stünden sie außerhalb jedes menschlichen Interesses. Die übliche Haltung von Friedhofspilgern, wie zu erwarten. Sie haben eine Kostprobe davon bekommen, Fletcher, als Sie Maxwell Peter Bell aufsuchten. Was sich dabei ergeben hat, haben Sie noch gar nicht erzählt.«
»Er wollte mich einspannen. Ich habe abgelehnt, nicht besonders diplomatisch. Mir ist klar, daß ich hätte höflicher sein sollen, aber er hat mich gereizt.«
»Es hätte nichts geändert«, sagte sie. »Beim Friedhof ist man an Verweigerungen nicht gewöhnt - nicht einmal an höfliche.«
»Warum hast du dich überhaupt mit ihm beschäftigt?« fragte Elmer.
»Man erwartet das«, erklärte ich. »Der Kapitän hat mich darauf aufmerksam gemacht. Ein Höflichkeitsbesuch. Als wäre er ein König oder Premierminister oder Potentat oder etwas Ähnliches. Ich konnte mich schlecht drücken.«
»Was ich nicht verstehe«, wandte Elmer sich an Cynthia, »ist, wie Sie in diese Angelegenheit verwickelt sind. Das heißt nicht, daß Sie unwillkommen wären.«
Cynthia sah mich an. »Hat Fletcher Sie nicht in Kenntnis gesetzt?«
»Er hat etwas von einem Schatz erwähnt...«
»Ich glaube«, sagte sie, »ich erzähle lieber die ganze Geschichte. Schließlich besitzen Sie ein Recht darauf, sie zu erfahren. Und ich möchte nicht, daß Sie mich für eine gewöhnliche Abenteurerin halten. Wollen Sie mir zuhören?«
»Durchaus«, sagte Elmer.
Sie schwieg einen Moment lang, und man vermochte zu spüren, wie sie ihre Gedanken sammelte, sich einen Ruck gab, als stehe sie vor einer schwierigen Aufgabe, die gut zu lösen sie sich entschlossen hatte.
»Geboren bin ich auf Alden«, begann sie. »Meine Vorfahren befanden sich unter den ersten Siedlern. Die Familiengeschichte - vielleicht sollte ich besser sagen, die Familienlegende, denn nichts davon ist dokumentiert -reicht zurück bis zu ihrer Ankunft. Aber Sie würden den Namen Lansing nicht unter denen der Ersten Familien finden - die Ersten Familien großgeschrieben. Die Ersten Familien sind jene, die zu Reichtum gelangten. Meine Familie wurde nicht reich. Schlechte Wirtschaft, reine Trägheit, vielleicht Faulheit, Mangel an Ehrgeiz, eine Pechsträhne - ich weiß nicht, woran es lag, doch auf jeden Fall blieben ihre Abkömmlinge arm wie Kirchenmäuse. Es gibt ein winziges Kaff, fernab von allem auf dem flachen Land gelegen, das heißt Lansing Corners, aber das ist alles, andere Spuren hat meine Familie auf Alden oder in Aldens Geschichte nicht hinterlassen. Sie waren Farmer, Kleinhändler, Arbeiter - sie verfolgten keine politischen Bestrebungen, sie brachten keine Genies hervor. Sie gaben sich damit zufrieden, nach dem Tagwerk auf der Treppe ihres Häuschens zu hocken, ihr Bier zu trinken und mit den Nachbarn zu plaudern, oder - allein - den fabelhaften Al-dener Sonnenuntergängen zuzuschauen. Es waren einfache Leute. Einige, vermutlich sogar viele, verließen im Laufe der Jahre den Planeten, um woanders ihr Glück zu suchen; ich glaube, daß sie's nie gefunden haben, an-dernfalls hätten die Lansings auf Alden davon erfahren, aber die Familienlegenden erwähnen nichts dergleichen. Die, die zurückblieben, taten es wahrscheinlich bloß, weil es ihnen mißfallen hätte, zu gehen - sie besaßen nicht viel, aber Alden ist ein entzückender Planet.«
»Das ist wahr«, sagte ich. »Ich habe an der dortigen Universität studiert. Bis jetzt vermochte ich mich nie dazu durchzuringen, ihn für immer zu verlassen.«
»Woher stammen Sie, Fletcher?«
»Rattlesnake«, antwortete ich. »Schon einmal davon gehört?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Da haben Sie Glück«, meinte ich. »Stellen Sie keine Fragen. Erzählen Sie bitte weiter.«
»Am besten über mich, schätze ich«, sagte sie. »Ein paar Informationen über mich. Ich wollte schon immer etwas aus mir machen. Ich kann mir denken, daß in der Vergangenheit viele Lansings das gleiche versucht haben, aber es wurde nichts daraus. Wie vielleicht auch aus mir nichts wird. Es ist ein wenig zu spät, um noch etwas für das Image der Lansings tun zu können. Mein Vater starb schon in jungen Jahren. Er besaß eine einigermaßen einträgliche Farm - keine reiche Farm, aber eine, die den Unterhalt sicherte und darüber hinaus ein bißchen abwarf. Meine Mutter führte sie nach seinem Tod weiter und erwirtschaftete genug, um mir ein Universitätsstudium zu ermöglichen. Mein Interesse galt der Geschichte. Ich träumte davon, einmal einen Lehrstuhl zu erhalten, sachkundige Forschungen zu betreiben und bahnbrechende Untersuchungen zu verfassen. Ich war eine gute Studentin. Ich mußte wohl eine sein. Meine ganze Zeit habe ich dem Studium gewidmet. Viele andere Dinge, die das Studentenleben bieten kann, habe ich versäumt. Heute ist mir das klar, aber es macht mir nichts aus. Nichts in der Welt faszinierte mich mehr als Geschichte. Ich schwelgte regelrecht darin - untergegangene Stätten, längst verstorbene Menschen, alte Zeiten. Des Nachts, im Bett, im Finstern, stellte ich mir vor, ich reiste mit einer Zeitmaschine in die ferne Vergangenheit, zu jenen fernen Stätten, und beobachtete die Menschen der alten Zeiten. Ich lag in der Dunkelheit und stellte mir vor, ich läge in meiner Zeitmaschine, die durch die alten Länder und Zeiten reiste, und dicht hinter der Wand verdunkelter Zeit wohnten und atmeten und regten sich jene Menschen, denen nachzuspionieren ich unterwegs war, daß ringsum jene großen Ereignisse geschähen, welche den Lauf der Zeit bestimmten. Als es soweit kam, daß ich mich spezialisieren, mich für ein Spezialgebiet entscheiden mußte, wurde mir bewußt, daß mich das Studium Der Alten Erde unwiderstehlich anzog. Mein Berater warnte mich. Er setzte mir auseinander, daß das ein sehr begrenztes Fachgebiet sei und das Quellenmaterial sehr beschränkt. Ich wußte, daß er recht hatte, und gab mir Mühe, mich von ihm überzeugen zu lassen, aber es half nicht. Ich war besessen von der Erde. Diese meine Besessenheit, dessen bin ich ziemlich sicher, beruhte teilweise auf einer Verbindung mit der Vergangenheit, meiner Teilnahme für die frühen Anfänge. Die Farm meines Vaters lag nur wenige Meilen entfernt vom ursprünglichen Siedlungsplatz der ersten Lansings auf Alden, das heißt, jedenfalls den Familienlegenden zufolge. Tief in einer kleinen Felsschlucht, an einer Stelle, wo sie sich gegen eine Landschaft öffnete, die einmal ein fruchtbares, anbaufähiges Tal gewesen sein mußte, stand ein altes, steinernes Haus, oder etwas, das einst ein Steinhaus war. Weite Teile waren eingestürzt, die Steine selbst mit der Zeit verwittert, schief durch die geringfügigen Erdbewegungen, die sich erst nach vielen Jahrhunderten ernsthaft auswirken würden. Um dieses Haus gab es keine Geschichten. Es war kein Spukhaus. Es stand bloß ganz einfach dort. Für ein Spukhaus war es schon zu alt. Die Zeit hatte es in einen Teil der Landschaft verwandelt. Es blieb unbemerkt. Es war zu alt und verfallen, um die Aufmerksamkeit von Menschen zu erregen, allerdings hatten viele kleine Wildtiere, wie ich bei meinem Besuch feststellte, es zu ihrem Heim gemacht. Der Boden, worauf es stand, und das Land ringsum waren so armselig und wertlos, daß das Haus nichts und niemanden störte, und deshalb war es dem Abbruch und der Vernichtung entgangen, dem herkömmlichen Schicksal so vieler alter Dinge. Tatsächlich ist das gesamte Gebiet durch die ökonomische Nutzung vollständig ausgelaugt, durch Jahrhunderte inzwischen in Vergessenheit geratenen Anbaus völlig verdorben, so daß sich dort selten jemand blicken läßt. Eine Familienlegende - jedoch eine sehr fragwürdige, wie ich zugeben muß - behauptete, das Haus sei einst der Wohnsitz eines sehr frühen Lansing gewesen. Ich ging hin, weil es so uralt war, glaube ich, und nicht, weil es vielleicht einem Lansing gehört hatte -einfach, weil es so alt war, älter als das Gedächtnis der Menschen zurückreicht, ein Bauwerk aus ferner Vergangenheit. Ich versprach mir nichts davon. Ich besuchte es an einem freien Tag. Sie müssen mich verstehen, es war nur ein Ausflug, ein Zeitvertreib. Ich kannte das Haus natürlich schon seit langem und hatte es übersehen, wie alle anderen. Viele andere wußten ebenfalls von seiner Existenz und akzeptierten sie wie die Existenz eines Baums oder eines Felsens. Das Haus besaß keinerlei Anziehungskraft, gar keine. Vielleicht hätte ich nie daran gedacht, außer im Vorübergehen, womöglich wäre ich nie hingegangen, hätte mein Sinn für alte Dinge sich nicht allmählich immer mehr geschärft. Begreifen Sie, was ich Ihnen klarzumachen versuche?«
»Ich glaube«, sagte ich, »daß ich Sie weitaus besser verstehe, als Sie an-nehmen. Ich kenne die Symptome. Ich habe höchst akut darunter gelitten.«
»Also ging ich hin«, sprach sie weiter, »und streichelte mit meinen Händen die alten, roh behauenen Steine, und ich dachte an jene Menschenhände, längst zu Staub zerfallen, die sie geklopft und aufeinandergetürmt hatten, zum Schutz gegen die Nacht und die Unbill des Wetters, zum Heim auf einem neuentdeckten Planeten. Ich sah es durch die uralten Augen der Erbauer und verstand, was sie an diesem Ort zum Hausbau verlockt haben mochte, warum sie ausgerechnet diese Stelle gewählt hatten, um ein Haus zu errichten. Die Wände des Canyons boten Schutz gegen den heftigen Wind, die stille, erschütternde Schönheit der Gegend, das Wasser aus der Quelle, die noch immer als spärliches Rinnsal aus der Felswand sprudelte, das weite, furchtbare Tal - jetzt nicht länger fruchtbar - welches sich praktisch direkt vor der Tür zu erstrecken begann. Ich stand dort an ihrer Stelle und fühlte mich so, wie sie sich gefühlt haben mußten. Einen Moment lang war ich sie. Und es zählte wirklich nicht sonderlich, ob sie nun Lansings gewesen waren oder keine; sie waren Menschen gewesen, hatten der menschlichen Rasse angehört. Wäre ich gleich wieder gegangen, das allein hätte mich für die aufgewandte Zeit reichlich belohnt. Die Berührung der Steine, die Zeugnisse der Vergangenheit, sie wären bei weitem genug gewesen, aber dann betrat ich das Haus ...«
Sie schwieg für einen Moment, als müsse sie sich für den Rest des Berichts erneut sammeln.
»Ich ging ins Haus«, sagte sie, »und das war eine Tollkühnheit, denn in jedem Augenblick hätten Teile davon niederbrechen können, auf mich herab. Manche Steine hingen gefährlich locker, das ganze Ding war schlichtweg baufällig. Ich erinnere mich nicht, ob ich damals überhaupt einen Gedanken daran verschwendet habe. Ich tat meine Schritte behutsam, nicht wegen einer Gefahr, sondern wegen jener Heiligkeit von Zeit, die das Haus erfüllte. Es war seltsam, dieses Gefühl, das mich bewegte - oder, genauer gesagt, die einander widerstreitenden Gefühle. Zuerst, beim Eintreten, hatte ich das Gefühl, ein Eindringling zu sein, ein Außenseiter, der kein Recht dazu besaß, sich dort aufzuhalten. Ich drang in alte Erinnerungen ein, in alte Leben, alte Gefühle, die allein und in Frieden gelassen werden sollten, die schon so lange dort weilten, daß sie das Recht erworben hatten, alleingelassen zu werden. Ich ging hinein, in etwas, das einmal ein ziemlich großer Raum gewesen sein mußte, vielleicht so etwas wie ein Wohnzimmer. Am Boden lag dick der Staub, und dem Staub hatten kleine Wildtiere ihre Spuren aufgedrückt, und der Geruch wilder Tiere, die während der verstrichenen Jahrtausende dort gewohnt hatten, haftete allem an. In den Ecken hatten Insekten seidene Netze gesponnen, und manche ältere Netze waren so ver-staubt wie der Boden. Aber als ich dort stand, unmittelbar hinter der Tür, widerfuhr mir etwas Seltsames - ein Gefühl überkam mich, daß ich das Recht besaß, dort zu sein, dorthin zu gehören, daß ich nach langer, langer Zeit zurückkehrte an eine vertraute Stätte und ein willkommener Gast war. Denn hier hatte Blut von meinem Blut gelebt, Fleisch von meinem Fleisch, und die Zeit vermag das Recht von Fleisch und Blut nicht auszulöschen. In einer Ecke befand sich ein Kamin. Der Schornstein war fort, längst eingestürzt, aber der Kamin war noch vorhanden. Ich ging hinüber, kniete mich nieder und berührte den Herdstein mit meinen Fingern, fühlte unter dem Staub die Beschaffenheit seiner Oberfläche. Ich blickte in den geschwärzten Rachen des Kamins, geschwärzt von den einstigen Kaminfeuern; der Ruß war geblieben, er widerstand der Zeit und dem Wetter, und für einen Moment schien es mir, als könne ich die aufgestapelten Scheite und die Flammen sehen. Und ich sagte - ich weiß nicht, ob ich es laut aussprach oder nur dachte -, ich sagte: Es ist gut, ich bin heimgekommen, um euch zu sagen, daß die Lansings noch bestehen. Ich befand mich keine Sekunde lang darüber im Zweifel, zu wem ich es sagte. Ich wartete nicht auf eine Antwort. Ich rechnete mit keiner Antwort. Niemand war dort, um zu antworten. Es genügte, daß ich es gesagt hatte. Ich war es ihnen schuldig gewesen.«
Sie blickte mich aus furchtsamen Augen an. »Ich weiß nicht, warum ich das alles erzähle«, meinte sie. »Es war gar nicht meine Absicht. Es gibt keinen Grund dafür, es Ihnen zu erzählen, und keinen Grund, weshalb sie es sich anhören sollten. Die Tatsachen - die Tatsachen könnte ich mit wenigen Sätzen zusammenfassen, aber ich habe den Eindruck, daß sie mit den Hintergründen erzählt werden müssen ...«
Ich streckte eine Hand aus und berührte ihren Arm. »Gewisse Tatsachen lassen sich nicht einfach darlegen«, ermutigte ich sie. »Sie machen es richtig.«
»Stört es Sie bestimmt nicht?«
»Beileibe nicht«, antwortete Elmer an meiner Stelle. »Ich bin fasziniert.«
»Viel mehr habe ich nicht zu berichten«, sagte sie. »Es gab eine noch intakte Tür, die aus dem großen Raum ins Innere des Hauses führte, und ich betrat den nächsten Raum und sah, daß er eine Küche gewesen sein mußte, obwohl sie nur teilweise erhalten war. Das Haus besaß ein Obergeschoß, von dem noch ein Teil stand, obschon das ganze Dach fehlte, es war bereits vor langer Zeit eingestürzt, ins Innere. Über der Küche jedoch war kein Obergeschoß. Anscheinend hatte sich ein Dachvorsprung über die Küche erstreckt, und ein Haufen Schutt lag entlang der früheren Außenwand der Küche aufgetürmt, die Trümmer des Dachvorsprungs. Ich weiß nicht, wieso ich es bemerkte, es war schwer zu erkennen, aber ein eckiger Gegenstand ragte ein kurzes Stück weit aus dem Schutt. Er wirkte fremdartig, sah nicht aus wie ein Trümmerstück. Er war staubbedeckt wie alles im Haus. Man konnte ihm nicht auf Anhieb ansehen, daß er aus Metall bestand. Er schimmerte nicht. Ich vermute, es lag an der Eckigkeit. Schutt ist nicht eckig. Also ging ich zu dem Trümmerhaufen und grub das Ding aus. Es war eine Kassette, verrostet, aber unbeschädigt - das Metall war nirgendwo gebrochen oder durchgerostet. Ich hockte mich neben sie auf den Boden und versuchte es zu rekonstruieren, was mit ihr geschehen sein mochte, und ich folgerte, daß sie irgendwann unter dem Dachvorsprung, oben im Dachgeschoß, untergebracht worden, dann in Vergessenheit geraten und beim Einsturz des Dachvorsprungs durch die Küchendecke geschlagen sein mußte, oder vielleicht besaß die Küche zu jener Zeit keine Decke.«
»So ist die Geschichte also«, sagte ich. »Eine Kassette mit einer Zeichnung, auf der ein Schatz ...«
»Ich glaube, ja«, meinte sie, »aber nicht auf die Art, wie Sie denken. Ich konnte die Kassette nicht öffnen, daher nahm ich sie mit in mein Apartment, besorgte mit einige Werkzeuge und erbrach sie. Viel war nicht darin. Eine alte Urkunde über die Zuteilung einer kleinen Parzelle Land, ein Wechsel mit Zahlungsvermerk, zwei vergilbte Umschläge mit unglaublich alten Briefmarken, aber ohne Briefe, einen oder zwei entwertete Schecks und eine dokumentarische Bestätigung über die leihweise Abgabe einiger alter Familienpapiere an die Archivarische Abteilung der Universität. Keine Geschenke - sie waren nur eine Leihgabe. Am folgenden Tag suchte ich das Archiv auf und forschte nach. Sie wissen, wie es mit solchen Archiven steht... «
»Das weiß ich in der Tat«, sagte ich.
»Es dauerte eine Weile, aber mein Status als promovierte Erdhistorikerin und die Tatsache, daß es sich immerhin um Papiere meiner Familie handelte, gewährleisteten schließlich die Aushändigung. Man erwartete, ich wollte sie lediglich begutachten, aber als ich sie endlich bekam - ich nehme mit einiger Wahrscheinlichkeit an, daß man sie falsch eingeordnet hatte und eine Zeitlang brauchte, um sie wiederzufinden -, war ich so aufgebracht, daß ich die Verleihung offiziell widerrief und mit den Papieren abrauschte. Natürlich war das für eine hingebungsvolle Historikerin ein unmögliches Verhalten, aber zu jener Zeit, weil ich so außer mir war, machte ich mir keine Gedanken darüber. Die Abteilung drohte mir mit gerichtlichen Schritten, und hätte man die Drohung verwirklicht, wäre ein ganz hübscher Schlamassel zu entwirren gewesen, aber man tat es nie. Wahrscheinlich hielten sie die Papiere für wertlos, aber wieso sie das zu beurteilen wagten, vermochte ich mir nicht vorzustellen. Es handelte sich um einen kleinen Stapel Papiere, wirklich unbedeutendes Zeug in einem derartigen Archiv. Sie steckten gemeinsam in einem versiegelten Umschlag. Nichts verwies darauf, daß sie jemals studiert worden wären, sie waren alle durcheinander, ungeordnet. Hätte sich jemand mit ihnen befaßt, wären sie sortiert und klassifiziert worden, aber offensichtlich hatte man das ursprüngliche Siegel niemals erbrochen. Der ganze Stoß war einfach archiviert und vergessen worden.« Sie verstummte und sah mich eindringlich an. Ich schwieg. Wie lange sie auch brauchen mochte, irgendwann würde sie zum Schluß kommen. Vielleicht besaß sie einen guten Grund dafür, es auf diese Weise zu erzählen. Vielleicht mußte sie alles noch einmal durchleben, um es zu prüfen, damit sie dessen sicher sein konnte, daß sie nicht in die Irre gegangen war, daß sie richtig gehandelt hatte. Ich dachte keineswegs daran, sie zu drängen, obwohl ich ein wenig Ungeduld verspürte.