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»Ein Ostindienfahrer, wenn mich nicht alles täuscht«, murmelte Charlie. »Niederländer, würde ich meinen. Wahrscheinlich auf dem Weg nach Ceylon oder Bombay.«
Im ersten Moment verstand Jake nicht, wovon Charlie redete, doch dann erblickte er zwischen den Stützen der Reling hindurch eine verschwommene Silhouette am Horizont. Sofort sprang er auf die Füße. »Ist das, ist das wirklich …?«
Ein Schiff pflügte durch die unter der scharlachroten Sonne erstrahlenden Wellen. Über die gesamte Länge des majestätischen Rumpfes erstreckten sich kleine, rechteckige Kanonenöffnungen, drei Masten mit steil angestellten, vom Wind geblähten Segeln ragten in den Himmel, und obwohl das Schiff weit entfernt war, konnte Jake Bewegung an Deck sehen.
»Könnte ich mal kurz dein Fernrohr haben?«, fragte er. Charlie reichte ihm das Teleskop, und Jake inspizierte fasziniert den Dreimaster. Er war so aufgeregt, dass seine Hände zitterten. Am Heck stand eine Gruppe Matrosen in Uniform – weites weißes Hemd, enge Hose und kniehohe Stiefel –, die gerade das letzte Segel hissten. Befehligt wurden sie von einem Mann in einem auffälligen, langen blauen Mantel, der Jake – wohl wegen des Dreispitzes auf seinem Kopf – an Admiral Nelson erinnerte.
Nun hatte Jake endlich den Beweis, auf den er gewartet hatte, und der Anblick machte ihn sprachlos. Platzend vor Neugier nahm er weitere Teile des Schiffs in Augenschein. Irgendwo an der Reling entdeckte er einen Schiffsjungen, der gerade einen Eimer schmutzigen Wassers ins Meer kippte; am Bug standen auf einer etwas erhöhten Plattform drei Gentlemen in langen Gehröcken, jeder auf einen vornehmen Spazierstock gestützt. Neben ihnen stand, etwas vornüber gebeugt, ein Matrose, der seinerseits mit einem Fernrohr das Meer absuchte. Instinktiv trat Jake ein paar Schritte zurück in die Schatten zwischen den Deckaufbauten, um von dem Mann im Ausguck nicht in seiner Schuluniform entdeckt zu werden.
»Pass doch auf, du trittst auf die Croissants!«, schimpfte Charlie.
Jake blickte an sich hinunter und sah die Brösel unter seinen Schuhsohlen. »Entschuldigung«, meinte er geistesabwesend und richtete seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf den Ostindienfahrer, »aber das Schiff da drüben ist einfach der Hammer!«
»Wenn du mal in diese Richtung schauen würdest«, erwiderte Charlie und deutete auf den Bug der Escape, »könntest du bald noch was ganz anderes sehen.«
»Was denn?«
»Schau’s dir einfach an«, antwortete Charlie mit einem Zwinkern und verschwand unter Deck.
7
DAS SCHLOSS IM MEER
Jake stand geduldig am Bug der Escape und wartete. Nach und nach konnte er die Umrisse einer nebelverhüllten Küstenlinie erkennen. Direkt davor hob sich ein blasses Dreieck vom Festland ab. Im ersten Moment sah die Silhouette aus wie ein Riese in einer Mönchskutte, der mit großen Schritten durchs Meer auf sie zukam. Doch als Jake genauer hinsah, erkannte er, dass es sich um eine kegelförmige Insel handelte, gedrungen und grau wie Granit. Er hob Charlies Fernrohr, das er immer noch in der Hand hielt, wieder ans Auge, um das seltsame Eiland genauer zu betrachten.
Die breite Basis des Dreiecks bestand aus natürlichem Fels, aber gleich darüber erhob sich eine Vielzahl von offensichtlich von Menschenhand errichteten Mauern und Gebilden, auf-und nebeneinandergestapelt wie Bauklötze, die eine Pyramide bildeten.
»Hier ist es«, verkündete eine gedämpfte Stimme hinter ihm. »Mont Saint-Michel. Das Hauptquartier des Geheimdienstes der Geschichtshüter.« Topaz, die eins von Charlies Croissants kaute, trat neben ihn an den Bug.
Für Franzosen war Essen ja bekanntlich eine Kunstform, fiel Jake in diesem Moment ein, selbst der Verzehr von Frühstücksgebäck, und Topaz bildete da keine Ausnahme: Sogar die Art, wie sie die Krümel mit der Fingerspitze von ihren Lippen pflückte, war bezaubernd.
Während die Insel vor ihnen langsam größer wurde, erzählte ihm Topaz alles, was sie darüber wusste. »Der Ruhm dieser Festung reicht zurück bis ins Jahr 808, was auch der Grund ist, warum der Geheimdienst sie zu seinem Hauptquartier gewählt hat. In den über tausend Jahren, die sie existiert, wurden ihre Mauern kein einziges Mal überrannt.«
Mont Saint-Michel war aber nicht nur wegen der geografischen Lage der ideale Ort für das Hauptquartier, sondern auch wegen der historischen, wie Topaz weiter erklärte.
»Die Zwanzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts sind eine vergleichsweise friedliche Zeit«, führte sie aus. »Die blutigen Unruhen der beiden vergangenen Jahrhunderte haben sich gelegt. Der englische Bürgerkrieg, der österreichische Erbfolgekrieg und, nicht zu vergessen, die glorreiche französische Revolution sind vorüber. Das Vermächtnis Napoleons hat, ob beabsichtigt oder nicht, diesem Teil Europas einen gewissen Frieden gebracht.«
Außerdem war dieses Jahrzehnt noch verschont von den Tücken der Moderne, wie sie weiter berichtete. All die notwendigen Übel der bald anbrechenden industriellen Revolution waren noch nicht erfunden, und die Entwicklung der Dampfmaschine, die eines Tages zur »teuflischsten aller Erfindungen«, wie sie es ausdrückte, führen würde, steckte mehr oder weniger noch in den Kinderschuhen.
»Die Moderne ist zwar ganz merveilleux«, sagte sie, »doch die Gefahren lauern an jeder Ecke. Aber hier, im Jahr 1820, sind wir davon noch verschont.«
Nach diesem kurzen Crashkurs in Geschichte lächelte Topaz Jake freundlich an und stopfte sich das letzte Stückchen Croissant in den Mund. »Jetzt weißt du, warum sich der Nullpunkt genau hier und nirgendwo anders befindet.«
Jake wurde noch nicht ganz schlau aus Topaz’ Ausführungen. »Das Hauptquartier bleibt also die ganze Zeit über im Jahr 1820?«
»In diesem Jahrzehnt, ja. Aber am Silvesterabend des Jahres 1829 besteigen alle ein Schiff, reisen über den nächsten Horizontpunkt zurück zum 1. Januar 1820 und segeln dann erneut zur Insel, wo sie wieder die nächsten zehn Jahre bleiben, und immer so weiter. Klingt ziemlich verrückt, ich weiß, aber irgendwie scheint es zu funktionieren.«
Jake beschloss abzuwarten, ob sich die Dinge mit der Zeit nicht vielleicht von selbst erklären würden.
Die Insel war mittlerweile deutlich zu erkennen, und er reckte den Kopf, um all die Türme und Spitzen, Strebebogen, Säulengänge und Rundbogenfenster zu bewundern. Von überall her drang das Geschrei von Seevögeln an seine Ohren, die im Schatten der Festung hin und her huschten.
Auch Mr Drake hatte, wenig erfreut, die neue Gesellschaft bemerkt und schien zu versuchen, alles auf einmal mit seinen wachsamen Knopfaugen im Blick zu behalten.
Auf einer Landzunge vor ihnen stand eine kleine Gruppe von Leuten, um sie in Empfang zu nehmen. Der Ostindienfahrer und seine Besatzung waren eigentlich Beweis genug dafür gewesen, dass Jake sich in einem anderen Zeitalter befand, doch das mehr als ungewöhnliche Willkommenskomitee verscheuchte auch noch die letzten Zweifel.
Jake hatte schon oft Menschen in altertümlicher Kleidung gesehen, in Filmen beispielsweise oder auf Kostümfesten, aber sie hatten nie restlos überzeugend gewirkt, nie schienen sie wirklich einer anderen Ära anzugehören, immer hatten sie zu aufpoliert und künstlich ausgesehen. Doch das hier war etwas anderes: Diese Leute waren echt.
Jake erkannte Kleidung aus jeder Epoche, vom viktorianischen Zeitalter bis zu den Tagen Elisabeths I. und noch weiter zurück. Er sah einen Mann mittleren Alters – in einem leuchtend roten Frack mit einem ebensolchen Zylinder –, bei dem sich eine elegant aussehende Lady in einem unglaublich ausladenden, rüschenbesetzten Reifrock untergehakt hatte. Der Gentleman gleich neben ihnen trug ein schwarzes Wams, das strenge Gesicht von einer weißen Halskrause umrahmt.
Die beeindruckendste Erscheinung jedoch war eine groß gewachsene Frau, die an der Spitze der Gruppe stand. Sie hatte große, silbrig blaue Augen, das lange stahlgraue Haar von der stolzen Stirn nach hinten gekämmt. Jake schätzte, dass sie mindestens fünfzig sein musste, aber irgendwie hatte sie es geschafft, sich die feinen Gesichtszüge ihrer Jugend zu bewahren. Ein dunkelblauer Marine-Umhang hing über ihren straffen Schultern, und neben ihr stand vollkommen reglos ein großer Windhund mit seidig schimmerndem Fell und glänzenden Augen.
Ein sanftes Lächeln umspielte die Lippen in ihrem nachdenklichen Gesicht, während sie einen nach dem anderen die Neuankömmlinge musterte. Als Jake an der Reihe war, spürte er, wie ihn eine Art erwartungsvoller Nervosität überfiel.
»Die Dame ist eine uralte Freundin von mir«, sagte Rose und trat neben Jake und Topaz an die Reling. »Galliana Goethe. Sie ist die Chefin hier und Kommandantin der Geschichtshüter.«
Inzwischen wurde die Escape bereits am Pier vertäut und eine Laufplanke ausgelegt, damit die Passagiere von Bord gehen konnten.
»Verzeihung«, meinte Océane und drängelte sich nach vorn. »Ich muss schnellstmöglich aus diesen schrecklichen neumodischen Kleidern heraus und will rasch noch in die Kostümschneiderei.« Mit diesen Worten warf sie ihren Fuchsmantel über die Schulter und schritt eilig über die Planke.
Topaz folgte ihr, und die Stimme des Mannes im roten Frack dröhnte: »Da ist sie ja endlich! Da ist unser Mädchen!«
»Truman, brüll nicht immer so«, ermahnte seine Frau ihn sichtlich gereizt.
»Das sind die Wylders, Truman und Betty«, erläuterte Rose. »Sie sind Nathans Eltern und Topaz’ Vormunde. Truman ist ein genauso eingebildeter Gockel wie sein Sohn, aber sie ist absolut hinreißend. Natürlich kommen beide aus vollkommen verschiedenen Jahrhunderten.«
Jake beobachtete, wie Topaz das Paar mit einer Umarmung begrüßte.
»Wie geht es dir, Liebes?«, fragte Betty und schlang liebevoll die Arme um sie. »Hattest du eine gute Überfahrt?«
»Lass dich mal ansehen«, polterte Truman und packte Topaz an den Schultern. »Groß bist du geworden. Siehst du, wie sie gewachsen ist, Betty? Was für ein Lulatsch für eine Vierzehnjährige!«
»Fünfzehn.«
»Fünfzehn? Du bist doch noch keine fünfzehn! Ist sie schon fünfzehn?«
»Fast sechzehn.«
»Sieh mal einer an – wie doch die Zeit vergeht! Noch gar nicht lange her, da warst du erst sechs.«
Topaz und Betty rollten die Augen.
»Da fällt mir auf, wie still hier alles ist«, sagte Topaz und ließ den Blick über den Rest des Begrüßungskomitees schweifen. »Ist Seine Großmäuligkeit heute unpässlich?«
»Nathan ist zu einer Mission aufgebrochen, um seine neueste amour fou zu retten«, seufzte Betty kopfschüttelnd. »Bestimmt hat die Ärmste sich Hals über Kopf in ihn verliebt, ohne auch nur zu ahnen, dass er sie genauso fallen lassen wird wie alle anderen.«