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»Es ist eine schiere Ewigkeit her!«, sagte sie und umarmte Rose.
Aus der Nähe sah Jake, dass Gallianas Umhang mit den verschiedensten Motiven, mit Sonnen, Monden, Uhren und Phoenixen bestickt war.
»Es ist tatsächlich eine Ewigkeit her«, erwiderte Rose, »aber du siehst hinreißend aus wie immer!«
»Bist du sicher, dass du nicht abgerissen sagen wolltest?«, gab Galliana zurück. »Ich habe drei Tage kaum geschlafen und mit Sicherheit dicke Tränensäcke unter den Augen.«
»Und selbst wenn – deine hohen Wangenknochen verbergen sie perfekt.«
Galliana schmunzelte, und Jake sah die Lachfältchen um ihre funkelnden blauen Augen.
»Sag nicht, dass das immer noch Juno ist …«, meinte Rose mit einem Blick auf den Windhund.
»Das hier ist Junos Enkeltochter Olivia«, erklärte Galliana und fuhr mit der Hand durch das seidige Fell des Hundes. »Mit jeder Generation werden sie noch ein Stückchen klüger.« Dann wandte sie sich an Jake. »Und das hier muss dein Neffe Jake sein.«
Obwohl Jake sich irgendwie eingeschüchtert fühlte von dieser stattlichen Frau, hielt er ihr lächelnd die Hand hin und sagte mit fester Stimme: »Schön, Sie kennenzulernen.«
»Und was für gute Manieren«, erwiderte Galliana und schüttelte ihm die Hand. »Du dürftest eine Menge zu verdauen haben nach deiner ersten Reise. Und sei ganz unbesorgt, wir werden deine Eltern finden.« Da fiel Gallianas Blick auf etwas, das sich vom Meer her näherte, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. »Was in aller Welt …?«
Gemurmel erhob sich, als auch die anderen den Schwimmer erblickt hatten, der sich durch die Wellen auf den Kai zukämpfte. Lediglich Topaz wusste sofort, um wen es sich handelte, und schüttelte genervt den Kopf.
»Ahoi auch!«, rief Nathan mit einem breiten Grinsen und kletterte aus dem Wasser. Er musste über eine Stunde in voller Montur durchs Meer geschwommen sein, dennoch wirkte er, als wäre das für ihn die leichteste Übung der Welt. Er schüttelte lediglich sein langes Haar und warf einen kurzen Blick in den kleinen Spiegel, den er aus seiner Hosentasche gezogen hatte.
Mit staunendem Blick beobachtete Jake, wie Nathan den Pier entlangschlenderte. Es war verblüffend: Dieser Junge konnte höchstens zwei Jahre älter sein als er selbst, und dennoch strotzte er nur so vor Selbstvertrauen. Zugegeben, er hatte auch etwas Arrogantes an sich, aber überall, wo er auftauchte, dachte Jake, mussten die Leute von seiner positiven Ausstrahlung hingerissen sein.
»Bitte verzeiht mein Zuspätkommen«, verkündete Nathan mit lauter Stimme, »aber ich musste eine junge Maid vor einem Schicksal bewahren, das noch schlimmer gewesen wäre als selbst der Tod.«
Galliana schien ebenso wenig beeindruckt wie Topaz. »Darf ich Euch daran erinnern, Agent Wylder, dass in dieser Organisation kein Platz ist für persönlich motivierte Heldentaten, ganz egal wie verlockend die Belohnung auch sein mag? In Lebensgefahr begibt man sich, wenn es schon sein muss, ausschließlich aufgrund einer dienstlichen Verpflichtung. Habt Ihr mich verstanden?«
»Kristallklar«, erwiderte Nathan und sonnte sich in der Aufmerksamkeit. »Aber seid versichert, dass es bei der Angelegenheit nicht um persönliche Motive ging. Die betreffende Dame reagierte lediglich etwas … übereifrig. Wie so viele«, fügte er mit einem Achselzucken hinzu.
»Mon Dieu!«, schnaubte Topaz verächtlich. »Die Bescheidenheit meines Bruders kennt ja keine Grenzen.«
Nathans Blick wanderte zu Topaz. »Du bist also in einem Stück zurück, ja?«, fragte er beiläufig.
»Sieht ganz so aus«, erwiderte Topaz schnippisch.
»Deine Haare sind … anders.«
»Offen.«
»Hübsch. Irgendwie weicher.«
Das war die ganze Begrüßung der Geschwister.
»Ich weiß, dass ihr alle müde sein müsst, aber Zeit ist von größter Bedeutung«, sagte Galliana an alle gewandt. »Wir treffen uns pünktlich um zehn Uhr im Prunksaal. Zu der Besprechung hat jeder von euch zu erscheinen.«
Dann begann die Versammlung sich aufzulösen.
»Agenten Wylder und St. Honoré …?«, rief Galliana zu Nathan und Topaz hinüber. »Würdet ihr Jake das Schloss zeigen und ihm erklären, was wir hier tun?«
»Jake?!«, rief Nathan aus. »Jake Djones?«, wiederholte er und klopfte ihm auf die Schulter. »Warum hat mir niemand gesagt, dass du hier bist? Mein Name ist Nathan Wylder. Wahrscheinlich hast du bereits viele Geschichten über mich gehört, und höchstwahrscheinlich sind auch alle davon wahr«, sprudelte er drauflos, um dann in ernsterem Tonfall weiterzusprechen: »Wir werden deine Eltern finden, und wenn es das Letzte ist, was wir tun!«
»Kommandantin«, unterbrach Topaz, »vielleicht sollte ich lieber allein mit Jake gehen. Wenn wir es zusammen versuchen, vermiese ich Nathan nur die Show.«
»Oh bitte«, widersprach Nathan, »niemals könntest du mir die Show vermiesen, und wenn du es auch noch so sehr versuchst.«
»Genug davon«, ging Galliana verärgert dazwischen. »Das gilt für euch beide. Ich wünsche, dass unser neuer Mitarbeiter ein vollständiges Bild bekommt. Und, Jake, finde dich mit den anderen um zehn Uhr im Prunksaal ein. Ich möchte, dass du dabei bist, damit du verstehst, was hier gerade im Gange ist.«
Jake nickte. Am liebsten hätte er Galliana sofort mit allen möglichen Fragen bestürmt, doch gleichzeitig spürte er, dass er damit wohl würde warten müssen. Außerdem hatte Topaz ihn bereits am Arm genommen und führte ihn zum Eingang des Schlosses.
Am Fuß des Berges befanden sich zwei große, mit dicken Eisennieten besetzte Torflügel, an deren Vorderseite ein mittlerweile wohlvertrautes Symbol eingraviert war: die Sanduhr mit den zwei Planeten. Doch dieses hier war weit feiner gearbeitet und detailreicher, und man konnte erkennen, dass es sich bei den beiden Planeten jeweils um die Erde handelte. Außerdem sah Jake, dass das Häuflein im unteren Kolben der Sanduhr exakt dieselbe Form wie Mont Saint-Michel hatte.
»Bereit?«, fragte Topaz.
Jake nickte. Er war mehr als bereit.
Topaz drückte die mächtige Klinke, und die Tür schwang mit einem hohlen Ächzen auf.
8
AM NULLPUNKT
Sie gingen eine breite Treppe hinauf, hinein ins Herz der mittelalterlichen Festung. Links und rechts der Stufen prangten lebensgroße Porträts aus allen Epochen der Geschichte, von denen Gesichter mit ernstem Blick auf sie herunterstarrten.
»Das hier ist die Ahnenreihe aller Kommandanten des Geheimdienstes«, erklärte Topaz, während Jake die Gemälde betrachtete. »Dieser Mann hier« – sie deutete auf eine geheimnisvolle Gestalt mit Turban, die vor einer düsteren, tropisch anmutenden Landschaft abgebildet war – »ist Sejanus Poppoloe, der Gründer. Ein Wissenschaftler und Forscher aus Brügge in Belgien und ein echter Visionär. Er war es, der das Atomium und den Flux Temporum entdeckte und die erste Karte mit allen einhundertsieben Horizontpunkten Europas darauf angefertigt hat. Er starb am englischen Hof von Königin Elisabeth I., zweihundert Jahre vor seiner Geburt, nachdem er mit dem Schiff in ihre Zeit zurückgereist war.«
Jake hatte das Gefühl, als würde Sejanus Poppoloes stechender Blick ihn verfolgen, während sie weitergingen.
Am Ende der Treppe angekommen, wandten sie sich nach rechts und traten durch einen bogenförmigen Durchgang hinaus auf einen Balkon, von dem aus sie auf eine geräumige Höhle blickten. Sie war auf einer Seite zum Meer hin offen und diente der Organisation als perfekt geschützter Hafen.
»Das ist der Ort, an dem sich der Großteil der Flotte der Geschichtshüter die meiste Zeit aufhält.« Topaz deutete auf die Schiffe. »Im Moment sind das die Campana, eine venezianische Handelsgaleere, die Avatara, eine indische Buhm, und die Windlicht, eine chinesische Dschunke aus der Yuan-Dynastie, die eigens dafür konzipiert wurde, den Taifunen im Südchinesischen Meer standzuhalten, den schlimmsten aller bekannten Stürme«, erklärte sie kenntnisreich. Ihre Stimme hallte durch die Höhle. »Dann die Barco Dorado – ein spanisches Kriegsschiff –, eines der wenigen noch existierenden aus der einstigen Armada – und die Stratagème, eins der allerersten Unterseeboote. Ein niederländischer Klipper und ein Atlantiksegler werden gerade im Hafen von Brest generalüberholt. Wollen wir weiter?«
Als Topaz gerade durch den Torbogen verschwand, fasste Nathan Jake am Arm: »Nur falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Sie liebt es, dem Klang ihrer eigenen Stimme zu lauschen.«
Sie gingen über den Flur und traten durch eine weitere Tür in ein großes Gewölbe.
»Die Rüstkammer«, verkündete Nathan begeistert und übernahm nun seinerseits die Rolle des Fremdenführers.
In der Mitte des Gewölbes standen zwei Podeste, die Jake an Boxringe erinnerten und in denen gerade ein paar Agenten in Helm und Rüstung ihr Kampftraining absolvierten. Jeder Quadratzentimeter der Wände darum herum war mit glitzernden Waffen behängt.
»Griechisch, römisch, keltisch, byzantinisch« – Nathan deutete auf die verschiedenen Bereiche – »Kreuzfahrer, frühes Mittelalter, Renaissance, Aufklärung, industrielle Revolution und so weiter. Katapulte, Schleudern, Armbrüste, Langbogen. Degen, Säbel, Langschwerter, Breitschwerter. Äxte, Speere, Lanzen, Keulen, Dolche, Hellebarden …«
»Ich glaube, mittlerweile hat Jake es kapiert«, unterbrach Topaz entnervt. »Jede Menge Metall mit einer Schneide daran.«