123878.fb2
Jake war es ganz und gar nicht aufgefallen, aber er nickte trotzdem.
»Sprengstoffe kann man nämlich nicht durch den Flux Temporum transportieren«, erklärte Topaz. »Wenn sie irgendwie doch auf das Schiff gelangen würden, könnten die instabilen Elemente sich mit unseren Atomen vermischen und …«
»Adieu, du schöne Welt!« Nathan ahmte das Geräusch einer Explosion nach. »Schon mal mit einem Langbogen geschossen?«, fragte er Jake und nahm einen von der Wand.
»Er möchte ein bisschen angeben, weißt du? Dabei ist er nicht einmal besonders gut damit«, erläuterte Topaz.
»Nein, ich … glaube nicht«, beantwortete Jake zögernd Nathans Frage.
Nathan legte einen Pfeil auf die Sehne, zielte auf eine Scheibe in einer weit entfernten Ecke des Gewölbes und schoss.
Alle drei kniffen die Augen zusammen, um zu sehen, wie genau er getroffen hatte: ins Schwarze, wenn auch nicht genau in die Mitte.
Seufzend nahm Topaz selbst einen Bogen zur Hand und ließ die Sehne schwirren. Ihr Pfeil schlug exakt im Zentrum der Scheibe ein. Doch damit nicht genug: Sie schoss noch einen Pfeil ab und dann noch einen und noch einen und noch einen.
Nathan spähte hinüber zu der Zielscheibe, auf die Topaz mit ihren Pfeilen ein perfekt rechtwinkliges, absolut symmetrisches »T« geschrieben hatte. Einen Augenblick lang suchte er noch nach eventuellen Makeln und wandte sich dann entschuldigend an Jake: »Sie ist nur eifersüchtig, weil ich im Moment als der beste Agent der Organisation gelte.«
»Wie viele Agenten sind es denn insgesamt?«, fragte Jake in dem Versuch, die Anspannung zwischen den beiden zu lösen.
»Es sind immer um die vierzig Agenten aktiv«, antwortete Topaz, »und Dutzende von Hilfskräften wie Schiffsbesatzungen und so weiter. Ungefähr ein Drittel der Agenten hat seine Operationsbasis im Pekinger Büro im China der Ming-Dynastie. Sie kümmern sich um die östliche Hemisphäre, aber unterstehen selbstverständlich genauso Gallianas Oberbefehl wie wir.«
»Und die Agenten, die sich um die westliche Hemisphäre kümmern, die leben alle hier auf dieser Insel?«, fragte Jake weiter.
»Ça dépend«, erwiderte Topaz mit einem Achselzucken. »Kommt darauf an, wie viele gefährliche Umtriebe gerade im Gange sind. In ruhigen Phasen kehren die meisten in ihre eigene Zeit zurück. Außer Nathan und mir natürlich.«
»Wir beide sitzen hier zusammen fest«, meinte Nathan mit einem Zwinkern. »Du solltest Jake auch nicht verschweigen, dass es unter all diesen Agenten nur etwa zehn echte Asse wie uns gibt.«
Topaz erklärte Jake, was Nathan damit meinte: »Einige wenige, und das sind immer wir, die jüngeren Agenten, verfügen über die größte Kraft. Daher auch unser Name: die Herkulen. Er bedeutet, dass wir größere Zeitreisen machen können, und das mit weniger Anstrengung. Je älter ein Agent wird, desto stärker lassen seine Fähigkeiten nach. Auf die Diamanten trifft das zwar weniger zu, aber auch sie werden im Lauf der Zeit schwächer und unflexibler. Die älteren Agenten …«
»Die Ehemaligen«, kommentierte Nathan spöttisch.
» … sind die Koordinatoren. Ihre Hauptaufgabe ist es, sich ums Tagesgeschäft zu kümmern. Aber die Starken, die Diamanten, so wie deine Eltern, können, wenn nötig, weiterhin Einsätze durchführen.«
»Interessant an dieser Stelle ist jedoch«, mischte Nathan sich erneut ein, »dass Jupitus Cole, der weder ein Diamant noch besonders jung ist, nie an Tatkraft verloren zu haben scheint. Er kann noch immer mal eben hinüber ins alte Mesopotamien hüpfen, und das ohne die geringsten Verschleißerscheinungen.«
»Wie dem auch sei«, fuhr Topaz fort, »eine weitere Aufgabe der Koordinatoren ist es, in geheimer Abstimmung den Oberbefehlshaber der Geschichtshüter zu wählen. Kommandantin Goethe hat den Posten jetzt seit drei Jahren inne.«
»War ein verflucht knappes Abstimmungsergebnis«, vertraute Nathan Jake an. »Und unser Mr Cole war nicht besonders glücklich darüber, kann ich dir sagen.«
Dann verließen sie die Rüstkammer und erklommen die Stufen hinauf zur nächsten Ebene.
»Der Kommunikationsraum«, sagte Topaz und führte sie durch eine weitere Tür. An einer Wand aufgereiht standen vier antik anmutende Schreibtische. Zwei Männer und zwei Frauen, alle in Kleidung aus dem neunzehnten Jahrhundert, saßen davor und nickten den Neuankömmlingen kurz zu. Jeder hatte ein Instrument vor sich, das genauso aussah wie die eigenartige Schreibmaschine, auf der Charlie im Londoner Büro so eifrig herumgetippt hatte – bis hin zu dem unverwechselbaren Kristallstab auf der Rückseite, der knisternd und summend Miniaturblitze verschoss. Mit einem Federkiel in der Hand schrieben sie Nachrichten auf Pergament.
»Dechiffrierung«, erklärte Topaz. »Die Geräte hier sind sogenannte Meslith-Schreiber. Sie sind nach ihrem Erfinder Vladimir Meslith benannt. Mit ihrer Hilfe kann man Botschaften durch die Zeit schicken und empfangen. Wirklich wichtige Botschaften allerdings, die direkt für die Kommandantin bestimmt sind, kommen da drüben an, im Meslith-Nukleus.« Sie deutete auf einen dicken Glasschrank, in dem ein weiteres, ungewöhnlich aussehendes Gerät stand. Es war viel größer und komplizierter als die anderen, der Kristallstab dicker und länger. An der Rückseite befand sich eine komplizierte Anordnung von Zahnrädchen, kleinen Hebeln und Wellen, die mit zwei Federkielen verbunden waren, die über je einer Pergamentrolle schwebten und nur darauf warteten, eingehende Nachrichten darauf niederzuschreiben.
»Von jeder Übertragung, die hier ankommt, werden zwei Ausfertigungen erstellt. Eine kommt in die Ablage unter dem Nukleus, die andere wird über ein Rohrsystem ins Quartier der Kommandantin direkt unter uns gesendet.«
»Über ein Rohrsystem?«, fragte Jake verwundert.
»Exakt. Vergiss alles, was du über moderne Kommunikationssysteme weißt«, erklärte Nathan, während er in der dicken Glasscheibe vor ihnen sein Spiegelbild bewunderte. »Alles null und nichtig hier im Jahr 1820. Es dauert noch über fünfzig Jahre, bis mit Strom auch nur halbwegs etwas anzufangen sein wird.«
»Ich persönlich finde die Meslith-Kommunikation ja weitaus bezaubernder«, kommentierte Topaz. »Seht mal, gerade kommt eine Nachricht rein.« Sie deutete auf die Maschine, deren Kristallantenne mit einem Mal so hell leuchtete wie brennender Phosphor, was eine mechanische Kettenreaktion auslöste, an deren Ende die beiden Federkiele standen, die die Pergamentbogen mit dem Nachrichtentext beschrieben. Der eine Bogen landete auf einer Ablage unter der Maschine, der andere wurde von einer Vorrichtung zusammengerollt und über eine Rohrleitung, die im Boden verschwand, sofort weitergeleitet.
»Die Kommandantin wird sie sogleich erhalten«, sagte Topaz und wandte sich Augen rollend an Nathan, der immer noch wie hypnotisiert sein Spiegelbild anstarrte. »Wenn wir dann vielleicht weitergehen könnten? Ich meine, natürlich erst, nachdem du deine wilde Mähne ausreichend bewundert hast …«
»Es liegt an der Haarspülung, die Vater mir gegeben hat«, erwiderte Nathan seufzend. »Ich begreife einfach nicht, was alle mit diesem Jojobaöl haben.«
Als sie den Kommunikationsraum wieder verlassen hatten, fiel Jakes Blick auf eine Standuhr im Treppenhaus. Bis zur Versammlung im Prunksaal waren es nur noch zwanzig Minuten, und er fragte sich ein wenig nervös, welche neuerlichen Enthüllungen dort auf ihn warten mochten.
Unterdessen führten Nathan und Topaz ihn in den nächsten, mehr als ungewöhnlichen Raum.
»Die Bibliothek der Gesichter«, verkündete Topaz.
Ehrfürchtig blickte Jake die Halle entlang. Auf der rechten Seite und an der gegenüberliegenden Wand standen Regale mit großen, in Leder gebundenen Büchern darin, die linke Wand war übersät mit Porträts. Jedes davon war etwa dreißig mal dreißig Zentimeter groß und sah aus wie das Werk eines alten Meisters. Der Anblick dieser tausend Gesichter allein, wie sie ihn alle anstarrten, wäre schon beeindruckend genug gewesen, aber die Bilderwand barg noch ein weiteres Geheimnis: Nach zehn Sekunden erklang eine Glocke, und mit einem mechanischen Rattern drehten sich die Gemälde, und ein weiteres Porträt kam zum Vorschein. Dies wiederholte sich nach wiederum zehn Sekunden, und jedes Porträt wurde durch ein drittes ersetzt, bis sich mit einer letzten Umdrehung wieder der gleiche Anblick bot wie zu Anfang.
»Die Gesichter an dieser Wand«, erklärte Nathan, »stellen Menschen aus allen Epochen dar, die der Geheimdienst im Moment entweder für wichtig oder für gefährlich hält. In den Büchern« – er nahm eines aus dem Regal und blätterte die dicken, leicht rissigen Seiten um – »ist praktisch jede Person verzeichnet, die jemals gelebt hat.«
»Pssst!«, zischte es aus einer dunklen Ecke am gegenüberliegenden Ende der Bibliothek. Im spärlichen Licht sah Jake hinter einem großen Schreibpult mit einem Stapel Bücher darauf eine Gestalt sitzen. Sie musste in den Fünfzigern sein und trug ein schwarzes Barockkleid mit bauschigen Rüschenärmeln und weißem Kragen. Ihr Haar wurde von einer perfekt sitzenden Haube bedeckt, und auf der Nase hatte sie eine Halbmondbrille.
»Das ist die Leiterin der Bibliothek, Lydia Wunderbar«, sagte Nathan, so leise er konnte. »Sie sieht zwar aus, als hätte sie einen Stock verschluckt, aber du solltest sie mal auf der Tanzfläche sehen!«
Die letzte Station ihres Schnellrundgangs war die Kostümschneiderei. Von allen Räumen, die Jake seit dem letzten Abend bestaunt hatte, war dieses höhlenartige, mindestens fünf Stockwerke hohe Gewölbe mit seinem zylindrischen Grundriss und den prächtigen Galerien das eindrucksvollste. Es befand sich in einem der großen runden Türme, die Jake vom Schiff aus gesehen hatte. Auf jeder der Ebenen, die über Treppen und einen etwas klapprig wirkenden Aufzug in der Mitte miteinander verbunden waren, wurde eine Unzahl von Kleidungsstücken, Hüten und anderen Accessoires bereitgehalten.
»Hier findest du Gewänder aus jedem Abschnitt der Menschheitsgeschichte«, übernahm Topaz wieder. »Auf der untersten Ebene fängt es mit dem neunzehnten, zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert an, und je weiter du nach oben kommst, desto weiter geht es zurück in der Zeit. Es gibt hier alles vom alten Ägypten über das Mexiko der Inka bis hin zum modernen Moskau, und jedes einzelne Kleidungsstück ist absolut authentisch. Wie du dir wahrscheinlich vorstellen kannst, ist die Kostümschneiderei Nathans absoluter Lieblingsort im Schloss – nirgendwo sonst gibt es so viele Spiegel wie hier. Nicht einmal in seiner eigenen Suite.«
»Tja, was soll ich sagen? Ich fühle mich nun mal zu schönen Dingen hingezogen«, gab Nathan ungerührt zurück.
Jake staunte mit großen Augen. Auf der Ebene über ihnen ließ sich Océane Noire gerade mit einem besonders extravaganten Kleid ausstaffieren. Die Schneider waren im Moment damit beschäftigt, ihren Reifrock mit zwei extra breiten Krinolinen sogar noch ausladender zu machen, als er ohnehin schon war. Als sie fertig waren, warf Océane sich in Pose und begutachtete das Ergebnis im Spiegel. »Hmm, ich finde, sie könnten doch ein wenig breiter sein. Nein, viel breiter sogar, ganz bestimmt!«, hörte Jake sie sagen, woraufhin die Schneider die untauglichen Accessoires umgehend wieder entfernten.
»Guten Morgen, Signore Gondolfino. Mein neues Jackett passt ganz hervorragend«, sagte Nathan mit breitem amerikanischem Akzent zu einem äußerst geschmackvoll gekleideten Mann, der gerade, ein Monokel in der Hand, zwischen den Garderobenstangen hervortrat.
»Signore Luigi Gondolfino«, erklärte Nathan feierlich. »Leiter der Kostümschneiderei und ein wahres Modegenie, wie ich anmerken darf.«
Ein Lächeln breitete sich über Signore Gondolfinos faltiges Gesicht aus, während er auf sie zugehumpelt kam. »Mademoiselle St. Honoré, seid Ihr das?«, fragte er mit leicht zitternder Stimme. »Mit jedem neuen Monat seht Ihr noch bezaubernder aus, muss ich sagen. Wie war es in London? Wie viele Herzen habt Ihr diesmal gebrochen?«
»Alle Londoner Herzen sind noch intakt.«
»Welch ein Unsinn! Ihr müsst Herzen brechen, das ist Eure heilige Pflicht!«
»Wie geht es Euch, Signore Gondolfino?«, mischte Nathan sich wieder ein. »Ich wollte Euch nur sagen, dass der neue Redingote mit den Pelerinen ein absoluter Traum ist.«
Das Lächeln verschwand aus Signore Gondolfinos Gesicht, als er sich, das Monokel vors Auge geklemmt, Nathan zuwandte. »Ah, ja, du bist’s. Willst du etwas zurückgeben?« Nathans amerikanische Großmäuligkeit war eindeutig zu viel für Gondolfinos europäisch-kultiviertes Gemüt.
»Nein, ich wollte Euch lediglich … ein Kompliment machen«, erwiderte Nathan. Zum ersten Mal seit Jake ihn kennengelernt hatte, schien Nathan ein wenig verunsichert.
»Das hier ist übrigens Jake Djones«, warf Topaz ein. »Der Sohn von Alan und Miriam Djones. Er hat sich uns gestern erst angeschlossen.«