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Auf Signore Gondolfinos Bemerkung hin stellte Jake sich vor, wie seine Eltern zu Hause in London in der Küche standen, einander nervös an den Händen hielten und darauf warteten, dass er nach Hause kam. Vielleicht waren sie mittlerweile ja wieder in England, während er sich hier, fast zweihundert Jahre in der Vergangenheit, anschickte, nach ihnen zu suchen?
Und Signore Gondolfinos Worte waren es auch, die ihn sogleich wieder aus seinen Gedanken rissen.
»Diese neuzeitlichen Gewänder … wie einfallslos, wie überaus uncharmant«, schimpfte er und musterte durch das Monokel Jakes Schuluniform. »Nichts gegen Euch, junger Mann, natürlich«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.
»So habe ich es auch gar nicht verstanden«, erwiderte Jake ebenfalls mit einem Lächeln. Vor allem die Hose seiner Schuluniform hatte er schon immer gehasst. Der Stoff kratzte, und sie war viel zu warm, selbst im tiefsten Winter schwitzte er ständig darin.
»Später«, versicherte ihm Gondolfino, »werden wir etwas Passenderes für Euch finden. Etwas Elegantes. Bel viso … Euer Gesicht verlangt geradezu danach.«
Plötzlich ertönten überall auf der Insel laute Glocken.
»Zehn Uhr!«, rief Nathan. »Zeit zu gehen.«
Die drei verabschiedeten sich von Signore Gondolfino, und während sie die Schneiderei verließen, ließ Jake noch einmal den Blick über die fantastischen Gewänder schweifen. Dann liefen sie eilig den Weg zurück, den sie gekommen waren, durch Treppenhäuser und über lange Korridore zu dem Flügel des Schlosses, in dem sich der Prunksaal befand.
Jakes Gedanken arbeiteten unaufhörlich; einerseits fand er es überaus schmeichelhaft, dass so viele hier seine Eltern kannten und so große Stücke auf sie hielten; andererseits veranlasste ihn jede Erwähnung ihres Namens zu neuer Sorge. Außerdem konnte er sich immer noch keinen Reim darauf machen, für was für eine Art Geheimorganisation seine Eltern die ganze Zeit über heimlich gearbeitet hatten. Natürlich hatte er inzwischen einiges erfahren, aber die eine alles überschattende Frage war nach wie vor unbeantwortet.
»Ich will ja nicht unterbelichtet erscheinen«, sagte er, während sie auf eine große Doppeltür am Ende eines Flurs zugingen, »aber was genau macht ihr hier alle eigentlich? Ich meine, dieser Geheimdienst der Geschichtshüter … Wozu ist der gut?«
Nathan und Topaz blieben abrupt stehen und drehten sich zu Jake um. Nathan nickte mit einem stolzen Lächeln. »Das ist eine gute Frage«, sagte er. Dann straffte er die Schultern und verkündete voll Inbrunst: »Wir retten die Geschichte. Wir riskieren Kopf und Kragen für nichts Geringeres als dafür, den Lauf der Geschichte zu bewahren.«
»Ja, ich glaube, das habe ich bereits begriffen«, erwiderte Jake. Nach dieser Antwort war er kein bisschen schlauer. »Aber wie? Auf welche Art und Weise stellt ihr das an?«
»Du hast wahrscheinlich immer geglaubt, Geschichte wäre etwas Abgeschlossenes«, erklärte Topaz. »Erledigt und der Vergangenheit angehörig.«
»Ist das nicht genau das, was das Wort Geschichte bedeutet?«, fragte Jake.
Nathan schüttelte lachend den Kopf.
»Pas du tout«, erwiderte Topaz mit ihrem weichen französischen Akzent. »Ganz und gar nicht. Die Geschichte verändert sich stetig. Sie verläuft nicht in einer geraden Linie, musst du wissen. Sie ist weit komplizierter als das, ein sich stets im Wandel befindendes Gefüge.«
Jake hörte aufmerksam zu.
»Und weil das so ist, weil sie nie wirklich abgeschlossen ist«, fuhr Topaz fort, »gibt es Leute, die ständig versuchen, sie zu verändern. Und zwar zum Schlimmeren. Stell dir vor, es wäre Tamerlan gelungen, ganz Asien zu unterwerfen, oder Robespierre hätte Europa in einen einzigen, großen Polizeistaat verwandelt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Hitler den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte …«
Es war das erste Mal, dass Jake Topaz so feierlich und ernst sprechen hörte.
»Wie wir alle aus dem Geschichtsunterricht in der Schule wissen, gab es schon viel zu viele schreckliche Katastrophen. Und das, was wir tun, ist nichts anderes, als zu versuchen, die Zukunft zu schützen, so gut wir nur können.«
Jake nickte eifrig, und sein Blick wanderte zu Nathan. Selbst er sah jetzt ernst aus. Doch sofort kehrte das Lächeln auf seine Lippen zurück, und mit einem Schulterklopfen sagte er zu Jake: »Gehen wir rein und sehen uns an, was der ganze Trubel zu bedeuten hat!«
Mit diesen Worten stieß er die Doppeltüren auf, und sie gingen hindurch.
9
CODE PURPUR
Der Prunksaal war ein großer, heller Raum mit vier riesigen Fenstern zum Meer hin. In der Mitte stand ein langer Konferenztisch mit Stühlen davor. Norland füllte gerade die Wassergläser und stellte je eins an jeden Sitzplatz.
Während sie warteten, bis die anderen eingetroffen waren, erzählte Topaz Jake, dass der Prunksaal im Jahr 1670 im Geheimen von Louis Le Vau – dem gefeiertsten französischen Architekten dieser Zeit, der auch das Schloss von Versailles gebaut hatte – entworfen und eingerichtet worden war, und dass Magnesia Hypoteca, die verehrte Gemahlin des siebten Kommandanten des Geheimdienstes, einmal über die großen Fenster gesagt haben soll: »Dies sind die Augen, die die ganze Welt sehen.«
Jake wusste genau, was sie meinte: Der Ausblick war atemberaubend. Er hatte das Gefühl, über den gesamten Ärmelkanal bis zum Atlantik sehen zu können.
Inzwischen betraten einer nach dem anderen auch die übrigen Geschichtshüter den Prunksaal. Die meisten von ihnen hatten sich frische Kleider angezogen. Charlie Chieverley trug eine Kniehose, einen Frack und einen karierten Schal um den Hals, was Jake an das Kostüm erinnerte, das er selbst bei einer Schultheateraufführung von Oliver! getragen hatte. Jupitus Cole, der wie immer die Etikette hochhielt, trug seinen vornehmsten Gesellschaftsanzug, an dessen Revers eine goldene Anstecknadel mit dem Emblem der Geschichtshüter prangte. Truman Wylder erschien im seidenen Smoking, und Océane Noires Pelerinen waren mittlerweile so breit, dass sie sich seitwärts durch die Eingangstür in den Saal zwängen musste. Außerdem waren noch etwa fünfzehn weitere Personen zugegen, die meisten davon im Erwachsenenalter und in Kleidung, die aus allen Jahrhunderten stammte.
»Weil wir hier am Nullpunkt im Verborgenen leben, dürfen alle Kleidung aus der Zeit tragen, aus der sie kommen«, erklärte Topaz. »C’est jolie, n’est-ce pas?«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
Fasziniert beobachtete Jake, wie alle feierlich ihre Plätze einnahmen, und fühlte sich ein weiteres Mal an seine eigene kleine Galerie faszinierender Persönlichkeiten zu Hause in London erinnert. Er war schon immer der Meinung gewesen, dass Menschen, die ihr Leben nach ihren eigenen Regeln lebten, die Welt reicher und interessanter machten, und die Gruppe, die sich hier gerade versammelte, war mit Abstand die außergewöhnlichste und skurrilste, die er je gesehen hatte.
»Hier ist noch ein freier Stuhl für dich«, rief Nathan vom anderen Ende des Tisches, und Jake nahm gegenüber von Nathan Platz. Er saß zwischen Charlie und einem Mann, der mit seinem breitkrempigen Hut und den langen Rüschenärmeln aussah wie einer der drei Musketiere. Selbst immer noch in Schuluniform und mit Schultasche auf dem Rücken, fühlte er sich nicht gerade wohl in dieser illustren Gesellschaft.
»Kein Grund zur Verunsicherung«, meinte Nathan quer über den Konferenztisch hinweg zu Jake, »das sind alles nur Weicheier hier.«
»Entschuldigung, habe ich was verpasst? Ich habe die Glocken nicht gehört. Haben sie schon geläutet?«, ertönte Roses Stimme von der Tür, während sie mit klimpernden Armreifen hereingeeilt kam. Mit ihrem Hirtenmantel, dem Batikkleid und der Reisetasche über der Schulter wirkte sie sogar noch mehr fehl am Platz als Jake. »O je, und jetzt bekomme ich nicht mal mehr einen Sitzplatz«, murmelte sie und blickte hilflos die Stuhlreihen entlang.
»Moment!«, ertönte Nathans Stimme. Er stand auf, holte einen Ersatzstuhl herbei und schob ihn zwischen Jupitus und Océane – sehr zum Missfallen der Letzteren, die Rose indigniert den Rücken zudrehte und sich mit einem lauten Schnauben die Nase putzte.
Mit einem Ruck drehten sich alle Augen wieder zur Tür, als Olivia, Gallianas Windhündin, leichten Schrittes hereingetippelt kam. Sie umrundete einmal den Tisch, hüpfte auf ein kleines Podest neben dem Stuhl der Kommandantin und schaute mit leuchtenden Augen in die Runde.
Schließlich betrat auch Galliana Goethe den Saal. Sie stellte sich hinter ihren Stuhl, fasste mit beiden Händen die Lehne und sagte: »Einen guten Morgen allerseits. Als Erstes möchte ich, vor allem im Namen derer, die noch nicht das Vergnügen hatten, ihn kennenzulernen, den jüngsten Neuzugang unserer Organisation begrüßen: Mr Jake Djones. Bitte tut das Eure, um Mr Djones’ Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu gestalten. Er dürfte in den letzten Tagen sicherlich schon genug zu verdauen gehabt haben.«
Ein allgemeines Willkommensgemurmel erhob sich, Rose lächelte Jake stolz an, und Jupitus warf ihm einen schnellen Blick aus dem Augenwinkel zu.
»Lasst mich gleich zur Sache kommen«, fuhr Galliana fort. »Wie die meisten von euch bereits wissen, werden zwei unserer Agenten vermisst. Zwei Wochen lang hatten wir von Mont Saint-Michel aus Gerüchte in diversen Meslith-Kanälen verfolgt, in denen immer wieder von einem ›katastrophalen‹ Ereignis die Rede war. Venedig wurde mehrmals erwähnt, und der Juli des Jahres 1506.«
»Und diese Gerüchte waren glaubhaft?«, fragte Jupitus, ohne irgendjemanden dabei direkt anzusehen.
Galliana hielt kurz inne, dann erwiderte sie seufzend: »Auf jeden Fall glaubhaft genug, dass ich mich veranlasst sah, sie vor Ort überprüfen zu lassen, weshalb Alan und Miriam Djones vor vier Tagen an Bord der Mystère zu einem routinemäßigen Aufklärungseinsatz entsandt wurden.«
Wieder fühlte Jake einen gewissen Zorn in sich aufwallen, weil seine Eltern ihn derart getäuscht hatten. Einigen der Anwesenden schien das nicht zu entgehen, und sie bedachten Jake mit fragenden Blicken.
»Am Tag nach ihrer Ankunft in Venedig erhielten wir folgendes Meslith-Kommuniqué«, fuhr Galliana fort, setzte ihre Brille auf und las von einem Stück Pergament: »Code Purpur …«
Ein lautes Keuchen ertönte im Saal, beunruhigte Blicke schossen hin und her. Selbst der sonst so kühle Mr Cole nahm hastig einen Schluck aus seinem Wasserglas und verschluckte sich prompt daran.
Jake schien der Einzige zu sein, dem die beiden Worte rein gar nichts sagten, weshalb Charlie ihm ins Ohr flüsterte: »Code Purpur ist nach Orange und Rot die höchste Alarmstufe.«
»Code Purpur«, wiederholte Galliana und las weiter: »Findet Gipfel von Superia. Höchste Gefahr. Bekräftige: Code Purpur.« Nach diesen Worten nahm sie ihre Brille ab und reichte Jupitus das Stück Pergament, der es, mit wie immer undurchdringlichem Gesichtsausdruck, aufmerksam studierte.
»Dieses Kommuniqué erreichte uns vor drei Tagen … seitdem haben wir nichts mehr von den Agenten Djones und Djones gehört.« Galliana machte erneut eine kurze Pause, weil aller Augen sich auf Jake gerichtet hatten. »Als Sicherheitsvorkehrung habe ich die vorübergehende Schließung des Londoner Büros angeordnet, bis der Kontakt zu ihnen wiederhergestellt ist.«
»Ihr meint, falls die beiden sich gezwungen sahen, ein paar Geheimnisse auszuplaudern?«, hakte Jupitus boshaft nach.
»Ihr wisst genau, warum«, erwiderte die Kommandantin knapp. »Unsere Statuten legen eindeutig fest, dass sich im Falle eines Code Purpur alle in Europa tätigen Agenten auf Mont Saint-Michel einzufinden haben und gleichzeitig alle europäischen Büros vorübergehend geschlossen werden. Ich habe lediglich das Protokoll befolgt, das ist alles.«